Paul Wiegler
Das Haus an der Moldau
Paul Wiegler

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29

Vor Weihnachten fiel drei Nächte hindurch Schnee. Er begann mit geräuschlosen Flocken, die auf Straßen und Brücken und an die Fenster taumelten und, bis sie zu Wasser wurden, Sterne waren, Blumen oder Seetiere. Dann legte sich ein weißer Überzug auf die Stadt bis zu dem Quaderntor am Kai unter Wyschehrad. Die Flocken verstärkten sich zu Gries und zähen Klumpen, sie hinderten die Elektrischen und die Eisenbahnen. Kolonnen schaufelten entlang der Geleise, entlang auch der Strecke nach Duhanitz. Aber der Verkehr stockte, die Post wurde unzuverlässig bestellt.

Tage dauerte es, bis eine mit Bleistift geschriebene, von der Feuchtigkeit halb verwischte Briefkarte Eriks kam: »Es geht mir noch schlecht. Der Herr Primarius will sich nicht äußern, ob ich noch vor dem Fest zu Hause sein darf. Aber ich hoffe es so sehr, viele, bis auf die Schwerkranken, haben Urlaub.« Schandera telefonierte. Dr. Geyer war nicht zu erreichen. Dr. Kafka antwortete ungewiß. Ljuba, nicht eingeweiht in die Wahrheit und selbst immer wieder kränklich, hatte Geschenke für Erik vorbereitet, die sie mit der Magd auspackte. Aber sie hatte keinen Baum geputzt. In der vierten Nachmittagsstunde des Heiligen Abends hörte Milada ein Tappen auf der Treppe. Es läutete. Vor der Tür stand in schief zugeknöpftem Winterrock, einen Männerhut auf dem Kopf, den er nach hinten beugte, Erik: Ljuba nötigte ihm den Rock ab, er hatte darunter sein Jackett, keine Weste, der Körper war über dem schmutzigen Hemd in eine Gipsmasse eingezwängt. Schrill schrie Ljuba auf. Schandera 182 und Milada entkleideten ihn. In der Gipsmasse mußte er sich legen.

Er beruhigte Ljuba und sagte, wie alles zusammenhing: »Ich wollte zu euch, und so habe ich bei jeder Visite die Ärzte gequält. Noch gestern hat Doktor Geyer angeordnet, ich solle bis Neujahr bleiben. Aber ich bettelte noch immer, die Oberin hatte einen schrecklichen Zorn auf mich. Heute morgen flüsterte sie mit dem Doktor Hilbert, und als sie weitergingen, strich sie mir über die Backen und nahm die Tafel weg. Die Schwestern brachten schon eine große Tanne in den Saal, und manchmal spielte eine von ihnen in der Kapelle drunten auf dem Harmonium; das war die Probe zu der Bescherung. Um zwölf, als wir gegessen hatten, mußte ich in das Verbandszimmer, und dort kneteten sie aus Gips und Gaze diesen Brustkorb. In meiner Tasche ist ein Blockzettel mit der Adresse von Doktor Hurt, er soll einen Panzer aus Leder anfertigen. Damit kann ich dann sogar spazieren, ohne daß ein Bedenken ist. Und nach Duhanitz brauche ich nicht wieder. Über alles andere gibt Doktor Brandeis euch Rechenschaft, wie ich behandelt werden soll, auch über eine Kur im Sommer.«

Dann erzählte er, wie düster es diesmal im Spital gewesen sei. Es war noch sehr voll, denn fünfzig Arbeiter waren bei der Explosion verletzt worden, acht von ihnen noch nach der Einlieferung gestorben. Der achte am Sonntag; Dr. Geyer hatte gemurmelt: »Exitus letalis.« Die Schwestern hatten einen Wandschirm um das Lager des Röchelnden geschoben, in der Nacht trugen zwei Wärter eine Bahre herein, und Erik, der jeden ihrer Schritte beobachtete, erblickte, als sie sich entfernten, die 183 Knie des Toten unter dem Leintuch. Jedoch er hatte ab und zu auch lachen müssen, wenn man Karten spielte, Wolf und Schafe, die Partie um eine Flasche Wein oder Trabucos, die niemand hatte und niemand verlor, oder wenn der Onkel Bjely aus Sparsamkeit Zündhölzchen spaltete oder der Vejvara »Černé oči proč plačete« sang oder irgendeinen Schlager und sie insgesamt Gstanzln anstimmten, wie das »Dovolejte pane kmotre«, das er nicht gut verstand. Oder da gab es vom Frühjahr her den Lungenpfeifer, der mit Strohhut und Gummimantel das Spital betreten und geglaubt hatte, er werde morgen wieder draußen sein, und der längst ein zufriedener Stammgast war.

Der Abend wurde hell für Erik. Milada fand an der Straßenecke noch ein letztes Bäumchen, um das Ljuba die silbrige Lametta aus dem Kasten flocht, und ein paar Klavierkerzen warfen über das Gezweig ihr flackerndes, goldenes Licht. Er schlief, doch mit vielen Unterbrechungen; der eingeengte Rumpf schmerzte ihn. Am dritten Feiertag fuhr Schandera mit ihm in einem Sanitätswagen in die Smečkagasse zu Dr. Hurt, der ein orthopädischer Spezialist war. Gamaschen über den Schuhen, seinen schwarzen Hornkneifer rückend, kam er ihnen entgegen, forschend, sachlich kühl. Er und seine Frau, die Russin, die seine Assistentin war, maßen Erik den Panzer an. Beim nächsten Mal wurde der mißhandelte Leib aus dem Gips herausgeschnitten, das Lederkoller ihm umgeschnallt. Es hatte Riemen und Scharniere von Eisenblech; es schloß im Nacken, und auch dem Hals war eine Klappe angefügt. Erik saß im Wagen, die Beine hoch auf den Kissen. Er sah durch die Milchglasscheibe den 184 grauweißen Reflex des dem Winde freieren Wenzelsplatzes und den dunkleren der Wassergasse, der Myslikgasse, in denen die Schneelast der Dächer sich schon lockerte. Am Riegerkai stieg er aus, Schandera und der Kutscher schleppten ihn. Krähen flatterten um den Zwiebelturm der Mühle und über die zugefrorene Moldau.

Ljuba vermochte ihn nicht zu pflegen ohne die bäurische Kraft der Magd. Jedoch Milada hatte Heimweh; und das Hinsiechen Eriks schien ihr eine Strafe des Himmels, die keines ihrer Gebete in der Adalbertkirche abwandte. Verlernt hatte sie, ihre slowakischen Lieder zu singen, und als Erik matt sie wieder danach fragte, als sie mit Einfalt von ihrem Dorf redete, von Schalmeien, Stickereien und Bändern, von Heiligen und bunten Grabkreuzen, war das Ende ein Tränenfluß. Sie ging im Januar mit ihrem zugebundenen Koffer, barhäuptig, unter Segenswünschen für die Gnädige und den jungen Herrn. Ihre Nachfolgerin war eine Zwanzigjährige aus Přibram, die Johnova, die nach einer Woche zu einem Fleischhauerburschen aus der Opatowitzergasse entwich.

Ljuba mietete ein Kind, die blondhaarige, braunäugige Pepka Kastankova, die ihre Eltern an der Grenze von Mähren und Niederösterreich hatte und das Deutsche mehr liebte als das Tschechische. Pepi wollte sie genannt werden wie ihre Mutter. Sie war mit ihren sechzehn Jahren schon eine kleine ländliche Schönheit. Ihr Lachen klang im Zimmer Eriks, wenn sie mit ihm schwatzte, und durch alle Stuben hindurch. Am zweiten Sonntag im Feber bat sie, ob sie mit einer Freundin zum Tanz nach der Schützeninsel dürfe. Eine blonde Locke drang ihr unter der mit Kaninchenfell garnierten polnischen 185 Mütze hervor. Aber schon um acht Uhr nahm sie ihren Dienst bei Erik wieder auf.

Manja meldete sich durch ein Telegramm an. Sie sei auf der Durchreise. Dann kam sie, lief zu Erik und sank in Ljubas Arme. Sie war Frau geworden; Schandera erriet es mit zwiespältigem Gefühl. Sie hatte nichts bei sich, denn sie wohnte mit der Robertson, die bis zuletzt mit Urbanek über ein Konzert in Prag verhandelt hatte, aber wegen ihres Repertoires mit ihm nicht einig geworden war, im Palace-Hotel. Sie schilderte die Sängerin, ihre Statur in dem krachenden Korsett, ihren Tituskopf, die wallenden Straußenfedern ihrer Hüte; und sie entriß auch Ljuba der Apathie, der sie sonst ergeben war. Die Tournee hatte bis Antwerpen geführt. Ein Impresario hatte die Robertson betrogen; sie wollte nach Wien, um einen anderen zu suchen, und von dort mit Manja nach Mailand. Für den Rest dieses Tages war die Geigerin Lucerna wieder Haustochter. Sie warf ihren Stoffmantel auf den Diwan, sie allein kochte das Nachtmahl. Schandera sah ihre Ähnlichkeit mit Ljuba und ihre Unähnlichkeit, und sein müdes Herz schlug. Erik lag schon im Schlaf, das Gespräch wurde leise. Um zwölf Uhr verließ Manja die Ihren. Schandera setzte sie in ein Auto.

Die Morgenblätter des ersten März enthielten große Artikel über die Versammlung des Stadtrats, über die Interpellation wegen der Gaswerke. Ein Oppositioneller hatte von der Tribüne herab, unter Brožiks Gemälden des Hus vor dem Konzil und des Georg Podiebrad bei der Königswahl, in die lärmende Mehrheit hineingeschrien, keiner der im Tuma-Skandal Schuldigen werde pardonniert werden. Eine gut geschmiedete Kette von 186 unehrenhaften Menschen habe man nur durch einen Zufall gefaßt. Funktionäre der Stadt seien bestochen worden und hätten Summen bei der Weinberger Vorschußkassa deponiert oder sie in Baulose und Wertpapiere umgewandelt. Heidler und Tuma hätten, als die Sache perfekt war, sich verbrüdert. Der Gattin eines seiner Freunde habe Heidler, der ein Kavalier sei, die Hälfte der von ihm selbst empfangenen Bargelder überwiesen. Die Klatschhaftigkeit einer Unterbeamtin habe einen Magazinverwalter zu einer Erpressung verleitet, die der Polizei bekannt geworden sei. Mitwisser dieser Wirtschaft, wenn er auch für seine Person, so wie der Stadtrat Kronbauer selbst, keinen Teil daran habe, sei dessen juristischer Vertreter, der Advokat Dr. Hynais. Im Licht der Laterne am Brückel las Schandera nach der Bürozeit ein Abendblatt. Dr. Hynais habe, so schrieb es, auf seine Ämter, auch das in der Direktion der Grundbank, verzichtet.

Am nächsten Freitag ging Schandera ein rekommandierter Brief zu, in einem der blauen Grundbankkuverts. Er erfuhr, daß er auf seinem Posten entbehrlich sei; der Kassierer werde ihm noch für April, Mai und Juni auszahlen. Ein Vierteljahr nur hatten er und seine Familie, ohne Ljubas Pension, noch zu leben. Nach der Privatwohnung des Hofrats Melichar schrieb er, er stehe ihm zur Verfügung. Um Erik vor dem Scharlachgift zu retten, hatte er damals über das Darlehen quittiert. Jetzt klopfte der Tod an, nichts erhielt ihm den Sohn, auch nicht der schimpflichste Preis, die Käuflichkeit. Es war der Untergang. 187

 


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