Paul Wiegler
Das Haus an der Moldau
Paul Wiegler

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7

Am ersten Dezember wurde Schandera durch die Empfehlung des Dr. Hynais Beamter der Böhmischen Grundbank, deren Räume am Graben waren, im Palais Wratislaw. Er fand sich dem Direktor gegenüber, der eine zweideutige Verbindlichkeit hatte, und etwa dreißig Beamten, die ihn mit hinterhältiger Neugier aufnahmen. Die Tätigkeit der Grundbank war der Kauf und die Veräußerung von Realitäten, ihre Verpachtung und Verwaltung, die Arrondierung von Gütern, die Gewährung von Baukrediten. Viermal am Tag passierte Schandera den Torweg, die Auslagen eines Spezialgeschäftes für Teppiche, Stores und Schlafzimmermöbel, viermal das herabgewürdigte, noch immer feierliche Stiegenhaus. Abends, wenn geschlossen wurde, blendete ihn ein Licht im 46 schwarzen Garten, dem er viele Menschen zustreben sah; dort war ein Durchgang zu einer Sackgasse.

Manja schrieb, daß Erik morgen, am vierten Dezember, mit der Franz-Josefs-Bahn in Prag eintreffen werde. Schnee lag auf dem Graben, dem Wenzelsplatz. Vor dem Hotel Erzherzog Stefan war eine Lücke im Pflaster. Ein tschechischer Student war hier von den Dragonern überrannt worden, sein Blut hatte die Steine bespritzt, die dann die Volksmenge als Zeichen eines nationalen Martyriums lockerte und mit sich trug. Gendarme, die Bajonette auf den Gewehren, machten ihre Runde. Der Schneewind bestäubte den Stadtpark, die Freitreppe des Neuen Deutschen Theaters, an der Soldaten wachten.

In der Vorhalle des Bahnhofs knatterten, in Stößen wieder aufleuchtend, die Bogenlampen. Im Wartesaal, unter Photographien der Tauernbahn und des Semmerings, lehnte Manja, die Hände in einem Muff, an den sie blasse Alpenveilchen gesteckt hatte. Ihre Augen waren undurchsichtig; Falten umgaben ihren Mund. »Der Wiener Schnellzug hat nur fünf Minuten Verspätung«, sagte sie. »Die Mutter ist um zehn Uhr zu Hause. Sie spielt die Maria Theresia in der Komödie von Bozděch.« Bozděch – war das nicht der Verschollene, der bei einem Schneegestöber, wie es heute niederging, an der Moldau umherirrend zuletzt gesehen worden war, und von dem man nach Jahren erzählte, daß er als Mönch in dem russischen Kloster auf dem Berge Athos lebe? Lokomotiven pfiffen, Gepäckwagen wurden herangerollt. Man mußte in einen Keller, dessen Mörtelbewurf noch naß war, und dann eine Treppe hinauf zu dem Bahnsteig, in den der Wiener 47 Zug einbrauste. Da war er, dröhnend, vor den Laternen weiße Strahlenbündel.

Erik, in kurzem Winterjackett, mit Pelzkappe und Pelzkragen, küßte Schandera, küßte die Schwester. Dann drängte er schmiegsam dem Vater nach. Er war vierzehnjährig, blond, mit eingesunkenen Wangen und verschwommenem Träumerblick. Hastig plauderte er von Agram, von der Reise. Die Droschke, der Schandera winkte, bewegte sich rumpelnd durch die Neustadt. Die Lichter der Kandelaber vor dem Nationaltheater waren verlöscht. »So ist die Mutter schon daheim?« fragte Erik. Vor dem verfrorenen Kinskypark sprach er von der Drahtseilbahn und dem duftenden lila Flieder. Er war zuerst auf dem Trottoir der Karlsgasse. Die Hausmeisterin schlurfte in Babuschen herbei; seit acht Uhr war nach der Ordnung des Standrechts gesperrt. In einer Nische des Mezzanins blühten Lilien von Blech vor einem heiligen Johannes.

Ein Dienstmädchen öffnete; eine Gardine verbarg ihr Bett, einen Rohrkoffer, einen Stuhl. Patrizisch waren die unmodernen Zimmer. Im zweiten harrte Ljuba, in weißem Schlafrock. Sie war eine noch schöne Frau von fünfundvierzig Jahren. Auf der Haut ihrer Wangen lagen verwischte Goldcreamflecke. Mit der Erstarrung der Mienen, die sie vor einer Stunde in der Rolle der Kaiserin gehabt hatte und die von ihrem natürlichen Frauengesicht noch nicht gelöst war, sah sie auf ihren Gatten, ihren Sohn. Dann hob sie die Arme und schluchzte: »Wie er dir ähnlich ist!« Sie brauchte lange, bis sie zur Ruhe kam. Erik setzte sich zu ihr und liebkoste sie, ratlos und befangen, indessen Schandera sich abkehrte. Manja ging 48 in den Salon und schlug auf dem Flügel einen einzigen Akkord an. Das Dienstmädchen, eine Slowakin, die bäuerisch unbekümmert zusah, brachte Speisen für den jungen Herrn. Nach einer Weile mußte Erik sich legen, und mit einer stummen Frage, die eine Bitte war, verabschiedete er sich von seinem Vater.

Schandera trat in den Umkreis der bronzierten Gaslampe, deren Zieraten aus blauem Marienglas an einer Stelle abgesplittert waren; sie war bald nach der Heirat gekauft worden. Es war nicht Reue, was er jetzt empfand, nur ein großer Wunsch nach Stille. Ljubas Schläfenhaar war mit einer Tinktur, die ins Metallische spielte, gefärbt. Wie nichts sonst rührte ihn dieses Zeichen ihres Alterns. Er faßte ihre Hand, um mit ihr zu reden. Sie ließ sie ihm, doch sie unterbrach ihn vorwurfsvoll: »Du hast mein Leben, unser Leben ruiniert; was kommt noch darauf an?« Ihre Stimme war laut wie im Theater. Noch einmal hatte er versuchen wollen, ihr alles zu sagen, damit sie selbst richte über seine menschliche Schuld. Doch eine letzte Abwehr hinderte ihn, ihrer leidenschaftlichen Unbedingtheit sich auszuliefern. »Wenn es nicht für uns geschieht«, begann er, »so für die Kinder.« »Manja ist selbständig«, hielt sie ihm vor, »und der Bub soll, wenn er ganz gesund wird, in eine kleine Stadt aufs Gymnasium. Nach Podiebrad oder Jitschin.« »Tu' ihm das nicht an mit deiner Weigerung«, sagte Schandera, »du kennst seine Briefe nicht.« Er reichte ihr, was Erik ihm aus Agram geschrieben hatte. Von neuem schluchzte sie heftig auf, dann bejahte sie: »Es ist gut, für die Zeit, die er noch in Prag sein wird. Aber unmöglich, daß du hier bei uns wohnst. Die Stuben sind jetzt schon eng. Bis 49 zum Feber am Riegerkai, wo wir gemietet haben. Vielleicht auch wird Manja uns dann verlassen.« Sie zerknitterte ihr Tuch, die Starrheit fiel, und sie glich einer hausfraulichen Böhmin.

Sie forschte mit rasch hervorbrechendem, sprunghaftem Interesse nach seiner Zeit in Paris, in Brünn. Er sprach zu ihr und zu Manja, die bleich aus dem Salon kam, von dem kleinen Hotel Favart in der Rue Marivaux neben der Komischen Oper, von seinen Lektionen, seinem Liegen im Hôpital Cochin, von Brünn, der Verbannung. Er sagte ihr nichts von dem Grund seiner Krankheit, von seiner Gewissensunruhe; nur den äußeren Zusammenhang erwähnte er. Sie fragte nach seinem Prozeß, sie hörte ihm zu, schon nicht bei der Sache und ohne recht zu verstehen. Dann beklagte sie sich über die Intendanz, den Verlust ihres Opernorgans, die Feindschaft der Kritik oder doch eines Teiles, der die Emphase ihres Stils im Schauspiel getadelt habe: »Aber kämpfen werde ich für meine Kunst! Und nicht nur um die Kunst handelt es sich, auch um meinen neuen Kontrakt und um die Pensionsfähigkeit!« Lorbeer raschelte über den Türen, Schleifen waren drapiert, und Schandera sah ihre vielen Porträts, mit niemals demselben Ausdruck.

Eines, das ihn quälte, stammte aus ihrer Frauenjugend, ihr Bild als Fidelio; in Agram hatte sie die Leonore kroatisch gesungen, dann deutsch in Wien. Dort war sie Santuzza, dort Aïda, dort Carmen, dort Afrikanerin. Und ein Gemälde zeigte sie als Hippodamia in der Tragödie von Vrchlicky. Sie war wohl vor wenigen Monaten erst so dargestellt worden. In sieghaftem Frohlocken straffte sich ihr Körper. Sie betrat die Halle eines Palastes, 50 in einem griechischen Kostüm, von dem hieratischer Schmuck rieselte. Stark hoben sich Hüften und Knie ab, geschwellt waren die Linien ihres Halses. Indes Schandera Gewesenem und Künftigem nachsann, umdunkelte ihn Trauer.

Das Dienstmädchen, das draußen nähte und in der Sprache ihres Beskidendorfes ein Volkslied von einem Falken und einem Hain von Majoran summte, staunte sehr, als es um Mitternacht den Herrn Doktor herunterzubringen hatte. Er ging durch die schneeweiße Kinskystraße. In der Chotekgasse war ein Café, in dem eine Wiener Kapelle konzertierte. Matt setzte er sich unweit der Garderobe nieder, in Rauch und Geschrei. Der junge Dirigent schwang, seinen Schopf melancholisch schüttelnd, den Bogen. Viele Offiziere waren hier, Einjährige, Familien aus Smichower Bürgertum. Schandera blickte in einen Spiegel, der das Lokal und die Menschen um ihn reflektierte. Er nahm ein hohles Gesicht wahr, mit lauernden Augen: das Gesicht des Polizeikommissärs Okoun. In Zivil saß er da, nicht in dem russisch-grünen Rock mit Dienstmedaille und schwarzem, kleinem Querschlips wie einst in der Versammlung auf der Sofieninsel. Jetzt richteten die Augen, den Spiegel entlangstreifend, sich auf Schandera; jetzt drehten sie sich in das Lokal zurück.

Als Schandera wieder in den Spiegel sah, hatte die Musik geendet. Die Kellner bauten die Tische zu Pyramiden auf; die Offiziere schnallten ihre Säbel fest. Das Gesicht war fort. 51

 


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