Paul Wiegler
Das Haus an der Moldau
Paul Wiegler

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Einer bösen Nacht zu entrinnen, wollte er im Café Louvre an der Brenntegasse Zeitungen lesen, ehe er das Hotel wieder aufsuchte. Scharen kamen vom Biograph Olympia, der französische Stücke affichiert hatte, »Hernani«, ein Friedhofsdrama mit einem gelockten Waisenknaben und eine Posse von Max Linder. Das Café, im ersten Stock gelegen, lockte seine Gäste mit weltstädtischem Prunk, mit Effekten von Glühbirnen und einem Neger im Kellnerfrack. Doch es hatte zwei kleinere Säle für Liebesleute, Schachspieler und Billardspieler. Die Musik war gerade bei Smetanas »Hubička«. Immer neue Trupps strömten herein. Schandera setzte sich an einen Tisch hinter einem Pfeiler. Die Stunden vergingen. Gegen ein Uhr schob er Wiener Zeitschriften weg, als jemand sagte: »Erlauben der Herr Abgeordnete?« Devot begrüßte ihn der Kriminalinspektor Frengl.

Die Billardbälle rollten über das grüne Tuch, die Musik schwieg. »Sie wundern sich, daß ich hier bin«, fuhr der Beamte fort, indem er seine Raucherzähne entblößte. Er hängte seinen Filzhut, seinen Mantel, seinen Rock 23 neben einen Serviceschrank, holte sich eine Trabuco aus dem Zigarrenkasten, warf Geld hinein und nahm Platz. »Ich bitte, Herr Abgeordneter – wissen der Herr Doktor, daß ich pensioniert bin? Mein Gott, ja, auch der Herr Hofrat Rubik ist fort. Ja, früher, in der Judenstadt vor der Assanierung, ehe sie mir die Buden in der Zigeunergasse auseinanderschlugen und die Sackfetzen in den Feuermauern mit ihren Hacken zerrissen, oder in Kreta, an der Moldau, auf dem Frantischek! Und auch mit dem Herrn Hofrat war nichts mehr. Wissen Sie noch, sein System? Wie er sich der Delinquenten so väterlich annahm, als glaube er ihnen ihre Unschuld, und sie die Protokolle zeichnen ließ und dann erst mit der Inquisition auf sie losfuhr und die Leugner ins Netz trieb, bis sie nicht aus noch ein wußten und zusammenbrachen? Jetzt bin ich friedlicher Amateur, Herr Doktor, und Hausverwalter in Wrschowitz, bei meinem Schwiegersohn.« »Können Sie mir helfen?« fragte Schandera. »Helfen? Gegen wen? Gegen Vojna? Der ist so gut wie erledigt!« »Nein«, sagte Schandera bedrückt, »gegen Sadovsky. Er war der Tersch auf den abgedruckten Quittungen. Was für ein Mensch ist das?« Frengl stieß einen Pfiff aus. Er neigte sich vertraulich über den Tisch: »Wir werden ihm heute noch irgendwo begegnen, dem Sadovsky. Wollen Sie mit mir auf Streifung?«

Die Kapelle hastete, bevor sie die Instrumente einpackte, die »Dollarprinzeß« herunter. Schanderas Bewußtsein von Ort und Zeit blieb aus; seine Gedanken überstürzten sich. Dann reichte er zögernd dem Frengl die Hand. »Er lebt mit einer Trafikantin«, sagte dieser, »der Filipa Zelnikova. Er arbeitet in Erpressungen. 24 Manchmal heißt er Slaviček, manchmal Lisy. Er wohnt jetzt am Zbořenec. Er hinkt.« Schandera sah die Stube der Mundantin Frau Klima in der Bartholomäusgasse, sah, wie sie am Ofen ihre Tasse wärmte, sah spähende Kanzleimienen, und nun ahnte er das Gesicht, das ihn Jahre hindurch belauert hatte, stets unfaßbar. In der Ecke des zerschlissenen Wachstuchsofas saß ein vierschrötiger Mensch, roh, mit vorspringenden Backenknochen und Pockennarben. Jetzt richtete er sich auf, sein linker Fuß war zu kurz, er keuchte zur nächsten Tür. Und wieder im Strafgericht, in der Dämmerung der großen Treppe, der Hinkende, der Konfident Sadovsky.

Sie waren draußen vor dem Café. Noch flutete bis zur Mitte der Straße in Vierecken Licht. Jetzt war sie in schwarzes Dunkel gehüllt. Der pensionierte Kriminalinspektor trug den in einen Horngriff endenden Stock auf seinem vom Alter krummen Rücken. Er hatte einen grauen Vollbart, eine bebrillte Eulennase und war angezogen wie ein Viehhändler aus Holeschowitz. Nur sein Blick verriet die Manie seines Amtes, dessen Schein er störrisch noch immer festhielt. »Ich kann nicht schlafen«, zeterte er. »Jede zweite Nacht laufe ich hier herum, durch Altstadt und Neustadt. Miserable Gewohnheit.« Er trottete am Restaurant Choděra vorüber, am breiten Tor des Platteis, am Elysium, dem Weinkeller in der Obstgasse, der durch einen Liebesmord an einem Mädchen von kindlicher Schönheit berüchtigt war. Vom Wenzelsplatz, den kleinen Inselperron mit der Normaluhr überquerend, schwenkten Nachtbummler zum Brückel ein. Beim Spinka an der Ecke des Grabens dampften die Kessel der fahrbaren Teeküchen. 25

Murrend ging der pensionierte Detektiv mit Schandera bis zur Živnostenska Banka, bis zum Hotel Blauer Stern. Die Wachmänner, die vor dem Deutschen Haus mit den Fiakern schwatzten, salutierten. Mit grauem Empiregiebel schnitt hinter dem Josefsplatz, über den die jungen Straßendirnen in ihren bis zu den Knien gehenden Röcken wechselten, das Hauptzollamt in die Nacht hinein. »Die Fledermäuse«, kicherte Frengl. In einer Segeltuchhütte, die über eine Grube gespannt war, hockten Telegraphenarbeiter. Eine Bresche klaffte, der noch vom Gerüst umklammerte Neubau des Repräsentationshauses.

Das gotische Tor des Pulverturms wuchtete vor der Zeltnergasse. Scheu verliefen sich, als sie Frengls ansichtig wurden, die kleinen Dirnen, deren Quartier hier war. Um das alte Landesgericht, vorbei an den zyklopischen braunen Karyatiden, bog der ehemalige Inspektor zum Obstmarkt ein. Bucklig war das Pflaster, faulende Äpfel lagen in seinen Rinnen. Zettel vom gestrigen Abend klebten am Deutschen Landestheater. Ein Durchhaus, hundert Schritte von der Gallikirche, führte in stummes Winkelwerk. Rolljalousien versperrten die Läden, in deren Türen bei Tag, zwischen Schuhen und Männerhosen, die Handelsleute lungerten. Eine weiße Laterne beschien das Caférestaurant Trocadero der Jella Pick. »Hier fangen wir an«, murrte der Detektiv.

Walzermusik und Tabakrauch quollen ihnen entgegen. Die Inhaberin, klein, fett, mit heraustretenden Augen, in einer nilgrünen Bluse, kam auf sie zu und riet ihnen, sich neben sie an den vordersten Tisch zu setzen. Der Pianist beendete gerade, mechanisch tobend, die Phantasie aus 26 »Madame Butterfly«. Zwischenwände von verblaßtem Cretonnestoff stellten Nischen her. Fast überall wurde deutsch gesprochen. Eine Dame in ausgeschnittenem schwarzem Samtkleid, das Haar tief in den Schläfen verwurzelt, mit kirschfarbenen Lippen, lachte sinnlos durch das Stimmengewühl. Nur Champagner wurde getrunken und die Hausmarke, ein zuckriger Asti.

Zwei Schwestern tanzten jetzt umarmt einen Twostep. Die größere, die, wohl ihrer langen Nase wegen, den Spitznamen einer Gräfin Nostiz hatte, ließ schmachtend die blonden Lider fallen, mit der holden Demut der Madonna. Von den Nischen rief man ihnen zu, in erkünstelter, aufhauender Heiterkeit. Die Dame im Samtkleid sprang vor und faßte die kleinere der Schwestern um die Hüften. Aber während unter wildem Spiel des Pianisten diese Orgie sich steigerte, warf ein junger Mann in Smoking und zerknitterter Hemdbrust, der vor dem Büffet umherlief, sich gewalttätig auf den Kellner. »Zechpreller«, schrie die brillantengeschmückte Kassiererin, »Mašte ho!« draußen der Nachtportier, mit dem der junge Mann einen Ringkampf anfing. Sofort war jeder begierig, dabei zu sein. Auch der Detektiv rückte den Tisch weg. Er redete noch mit der Wirtin. Dann zog er, indes der Tumult durch das Ledergäßchen verhallte, Schandera weiter.

Sie waren in der Rittergasse, in der Betrunkene sich stritten. Mit gelbem Licht, von schmutzig roten Gardinen halb verdeckt, blinzelten die Scheiben eines Bierschanks. »Ranní polévka« las man darauf, Köpfe und Arme waren erkennbar. Ländliche Fuhren hielten an der Markthalle, verschlafene Bäuerinnen thronten zwischen 27 den violetten Krautstapeln, auf Schwammerln und Kartoffeln. Unter dem Gewölbe des Hauses Zum Goldenen Rad suchte Schandera die Granitplatte, deren metallischer Anschlag aus gewesenen Jahren ihm noch in Erinnerung war; und wie einst hörte er ihn, vor dem Fenster mit den bauchigen Geburtstagstassen und den irdenen Krügen, scharf zurückklingen. Ein Hund schlich durch den verödeten Blumenmarkt, dessen Holzschragen das Tier verunreinigte. In der Schalengasse gurgelte das Grammophon einer Kaffeespelunke.

Jenseits des Bethlehemsplatzes, in der Liliengasse, drei Häuser von der »Flucht nach Ägypten«, wurde aus unheimlichem Gemäuer ein Pochen laut; eine beringte Hand schob an einem Vorhang, eine Vettel, in ein Tuch eingemummt, raunte den Passanten abschreckende Worte zu. Ein Prellbock, dessen eisernen Klumpen die Zeit verzehrt hatte, glich dem behelmten Haupt, dem Rumpf eines römischen Kriegers; und die zerfressene Mundpartie war offen wie in gespenstischer Klage. Zolldick lasteten die Wände mit ihrem Aussatz von Ruß und Brodem. Eine steinerne Stütze verband die Eckhäuser der Kettengasse. »Folies Caprice«, sagte der Detektiv und wies auf ein erleuchtetes Portal. »Hier sitzt Ihr Sadovsky, unwiderruflich.«

Die Folies Caprice, vier Stuben im Erdgeschoß eines herabgekommenen Zinshauses, hatten einen tschechischen Volkskomiker zum Direktor. Ganze Gesellschaften pflegten in diesem Prager Montmartre einzukehren, und Autos ratterten davor. Heute war ein festlicher Abend. Wie ein Jäger pirschte der Detektiv sich durch den Flur, in dem breitknochige Mädel harrten, aus Fabrikorten, 28 aus armen Dörfern in die große Stadt verweht. Fünfzehnjährig, sechzehnjährig waren sie meist, mit Federboas und billigem Putz. An runden Marmortischen saßen drinnen die Schaulustigen, in einer Dekoration von orientalischen Stoffen und Papierblumen. Eine Chansonette aus einer bürgerlichen Singspielhalle überschrillte mit ihrem Gesang des Liedes »O Emane« die Tanzmelodie des Schlapak, den nebenan Stimmen begehrten. Der Detektiv klinkte die Tür zu einem Kabinett auf. Jäh kreuzte sich Schanderas Blick mit dem Sadovskys. In die Augensterne grub sich ihm dieser Blick, raubtierhaft feig, von unten anschleichend, und es war darin ein brutales Wissen.

Schandera machte einen Schritt auf Sadovsky zu, der sich von seinem Sessel nicht rührte. Der Konfident hatte unter den Augen Säcke von schlaffer, gelber Haut, blattersteppig war sein graues Gesicht, dünne Strähnen trug er über den Kopf gelegt. »Herr Abgeordneter, was verschafft mir die Ehre?« fragte er höhnisch. Schandera gewahrte einen Diwan, halbvolle Weingläser, einen Öldruck mit dem Bild des Erzherzogs Maximilian, des Kaisers von Mexiko, einen anderen mit durcheinanderlaufendem Hochwild, einer Meute. Das Blut schoß ihm zum Hirn, der taumelnde Wunsch, diesen Spuk zu zerstören. Aber er lachte nur mit einem Laut des Ingrimms auf. Dann drängten ihn zwei Weiber, die in das Kabinett wollten, beiseite, und, geschüttelt von Ekel, knallte er hinter sich und dem Detektiv die Tür zu. »Jetzt haben Sie ihn gesehen«, sagte Frengl. »Was ist, patrouillieren wir noch durch die Josefsstadt?«

Fröstelnd dankte Schandera, fröstelnd verabschiedete 29 er sich von dem ehemaligen Kriminalinspektor, der, den Stock auf dem Rücken, in die Finsternis der Husgasse tauchte. Von der Ägidikirche schlug es drei. Mit bleigrauen Wolken nahte vom Ufer her der Morgen.

 


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