Paul Wiegler
Das Haus an der Moldau
Paul Wiegler

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6

In der Kanzlei des Dr. Hynais knisterte Gas schon zur Mittagsstunde. Er glättete seinen schütteren Bart und sprach durch das Tischtelefon. Nun wandte er sich zu Schandera. Er bot ihm eine Zigarre an. »Gleich ist es zwölf Uhr«, bemerkte er, »die Herren sind nicht pünktlich. Sie können sich nicht vorstellen, Herr Kollege, 37 welchen Verdruß ich mit den neuen Häusern beim Rudolfinum habe. Der Zins ist exorbitant, gewiß, und es zahlen ihn fast nur Deutsche. Kaum waren zum Novembertermin die Wohnungen vermietet, so habe ich schon wieder Kündigungen. Die Häuser sollen kalt sein, die Fahrstühle stocken, immerzu fordert man Reparaturen. Jetzt kündigt Professor Myslivec.« Schandera lauschte auf ein Geräusch, das wie ein schwarzer Vogel über den Altstädter Ring flatterte. Eine Trommel wirbelte vor der Mariensäule, eine militärische Order wurde verlesen, es war wie ein Knacken von Flintenhähnen. »Das Standrecht«, sagte der Anwalt. »Man hat rebelliert, am Jubiläumstag des Kaisers.« In der Tür zur Kanzlei erschienen, während drunten ein Johlen gellte, die Abgeordneten Kronbauer und Hruban. Sie wichen Schanderas Blick aus; es herrschte ein ungastliches Schweigen.

»Ich hatte Ihnen vorgeschlagen«, sagte der Advokat und räusperte sich, »mit Herrn Doktor Schandera über die Frage seines Wiedereintritts in die Partei zu beraten. Ist es nicht so?« Er rieb sich die Hände, als beantrage er vor Gericht einen kniffligen Vergleich. »Wiedereintritt in die Partei? Wohl kaum!« entgegnete der Stadtrat Kronbauer, der seinen grauen Zylinder auf einen Stuhl mit juristischen Büchern setzte und jede Silbe eitel skandierte. »Wiederkehr in die Öffentlichkeit, wenn ich recht verstehe!« »Nur dies«, antwortete Schandera. »Ich will keine Kandidatur für den Reichsrat mehr, nicht für den Landtag, ich will nur leben dürfen, atmen.« »Und was sollen wir dazu tun?« fragte der Stadtrat mit der Ironie des greisen Nejedly in der Rolle eines Père noble bei Dumas. »Ich bitte Sie und die Herren des Vorstandes um 38 die formelle Aufhebung des Parteiboykotts. Nein, ich bitte nicht darum, ich protestiere gegen Willkür«, erwiderte Schandera. »Warum haben Sie die neue Klage gegen Vojna nicht schon angestrengt?« rief Kronbauer mit schrillem Überfall. Schandera sagte unnatürlich bleich: »Es würde bei der Judikatur des Kassationshofes nicht möglich sein, den Wahrheitsbeweis so auszudehnen, daß eine Verurteilung des Vojna sich ergäbe.« »Dann bleiben Sie ein toter Mann«, schrie mit Ungestüm der Abgeordnete von Jungbunzlau, der Brauereidirektor Hruban.

Dr. Hynais räusperte sich wieder. Vom Ring her wirbelte die Trommel. »Ruhe, meine Herren, Ruhe«, mahnte er, und seine Augen spazierten umher. »Wir müssen uns darüber einig sein, was der Partei dient, was der Nation dient. Auch ich habe Herrn Doktor Schandera die großen Hindernisse nicht verborgen, die seinen Erfolg in einem neuen Prozeß gefährden. Und kommt es zur Verhandlung, welches Schauspiel, so bald nach diesen letzten Affären, so bald nach dem Prozeß gegen Vojna, der ohnehin wahrscheinlich ist! Wochen würde es dauern, die Interna unserer Politik würden aufgerührt werden, und wem zum Nutzen? Ich kann Herrn Doktor Schandera nicht tadeln, wenn er nicht bis zum Ende gehen will. Das, was vor fünf Jahren geschah, ist vergessen. Ich war der Ansicht, daß seine hohe, vielbewährte Intelligenz nochmals der Partei helfen könnte. Sie weigern sich, Herr Doktor Schandera. Ich und wohl mancher von uns bedauern Ihre Weigerung. Aber ich würde es für ersprießlich halten, wenn hier, in meiner Kanzlei, die dazu da ist, nicht wahr, meine Herren, eine Verständigung angebahnt würde. Herr Doktor Schandera beschränkt sich auf 39 eine private, unpolitische Existenz. Die Partei erklärt, daß jenes Sitzungskommuniqué ungültig geworden ist, und gibt der Presse den Wink, zur Tagesordnung überzugehen. Sehen Sie hinab auf die Straße, meine Herren! Die Nation wird es Ihnen danken«, schloß er mit der Salbung seines Berufs.

Der Stadtrat Kronbauer lief, indem er die gepolsterten Achseln seines Gehrocks hob, zum Fenster. Dann, jedes seiner Worte betonend, sagte er: »Herr Doktor Hynais hat an das Bewußtsein unserer Pflicht gegen die Gesamtheit appelliert. Das ist ein Motiv, dem ich persönlich mich füge. Ich werde dem Parteivorstand mitteilen, was hier abgemacht werden soll. Der Parteivorstand wird sich äußern. Noch einige andere Punkte, verehrter Herr Doktor, die nicht Herrn Doktor Schandera berühren. Haben Sie Zeit?« »Ich bitte«, gab der Advokat, wie einer irritierenden Sorge ledig, zu. »Es ist wegen des Rekrutenprozesses. Über hundert junge Leute allein aus Žižkov.« Schandera empfahl sich von ihm, ohne den Stadtrat und Hruban zu grüßen. Auf der Treppe, hart an der zweiten Etage, stand er, von Galleerbrechen überwältigt.

Er zerdrückte in seiner Rocktasche die Karte des Grafen Bubna, der ihn für drei Uhr zu sich gebeten hatte. Das Palais Bubna lag am Malteserplatz, auf der Kleinseite. Abermals ging er, da er durch einen Umweg Zeit zu gewinnen suchte, über den Kai. In der Aufschwemmgasse sah er, wie man die Leiche einer Frau aus der Untiefe zog; schwarz von getrocknetem Schlamm waren ihre zerlumpten Kleider, war ihr larvenhaftes Gesicht. Ein Wachmann schrieb einen Rapport. Kinder gafften. Ein grauer Tag verbarg das andere Ufer. Flößer steuerten mit 40 gespreizten Stangen, wie Vögel tauchend, den Moldauspiegel hinab. Eine Kompagnie des Hausregiments marschierte Schandera entgegen, über die Franzensbrücke zur Neustadt. Die Čertovka, der Wasserarm zwischen Kleinseite und Insel Kampa, an dem die baufällige Front des Prager Venedig sich erstreckte, war von einem Fußgängersteg überquert. Stukkateure hatten hier ihre Werkstatt, Angler zählten in Eimer und Konservenbüchsen ihre Beute. Nun kam die ausgebrannte Eulmühle mit den glaslosen Fenstern, der kleine städtische Garten am Strom, das gelbe Palais Liechtenstein, in dessen Tor, unter dem Doppeladler, ein Amtsdiener seine Virginia rauchte, die Insel Kampa mit ihren von Ratten wimmelnden Häusern, ihrem Topfmarkt. Weltfern, unberührt von zwei Jahrhunderten, tat der Großprioratsplatz sich auf.

Ohne es zu beachten, ging Schandera zur Karmelitergasse. In dem Eckhaus, dem Palais Wrtba, war sein Vater gestorben, der Gerichtspräsident, der Sohn des Statthaltereirats Franz Xaver Schandera, von dem die deutsche Schreibart des Namens sich herleitete. Schon herzkrank, war der Präsident von Pilsen an das Oberlandes- als Strafgericht versetzt worden; am Tage seines Dienstantritts war er einem Schlaganfall erlegen. Dort hatte die verwitwete Frau Präsidentin Schandera gelebt, die Deutsche, die Professorentochter aus Graz. Das waren der krumm gepflasterte Hof, in dem jetzt ein Fiaker seinen Wagen wusch, das Barockportal mit dem die Erdkugel stemmenden Atlas, der zweite Hof, die Kirschbäume des Schönbornschen Gartens, die Fenster in den braungetünchten, unregelmäßigen Mauern. Eines war offen, und Schandera erinnerte sich, wie droben sein Vater 41 aufgebahrt war und die Runzeln in der Stirn des Toten ihn so erschreckt hatten, daß er sich bis zur Nacht draußen verkroch, auf der Pawlatsche. Noch bediente an der Straße eine Hökerin mit Mohnsemmeln und Kracherln voll grün und rot gefärbten Mineralwassers ihre Kunden. Noch schwang inmitten des Ringplatzes der bronzene General Radetzky seine Fahne, und acht Soldaten, von allen Waffen des österreichisch-ungarischen Heeres, trugen ihn auf ihrem Schild.

Um drei Uhr läutete Schandera am Bubnaschen Palais; ein niedrigeres Holztor war in den grauen Steinbogen des großen Portals eingelassen. Geruch von Kaffee entschwebte der Hausmeisterwohnung. Ein junger Foxterrier umtanzte schnappend den Hausmeister, der durch eine Galerie mit Jagdtrophäen dem Besuch in den rückwärtigen Trakt voranging. Das erste Zimmer war schmal, niederländische Bilder hingen darin, ein Cornelius Dusart und ein Potter, in Leinwandhüllen staken die kupfernen Kronleuchter und die Sessel. Der Hausmeister holte einen alten Lakai, der anmeldete. Das verspielte Hündchen zwängte sich knurrend durch. Vor Schandera stand an seinem Bouleschreibtisch der gewesene Statthalter von Böhmen und Ministerpräsident, Graf Clemens Bubna, mit seinem breiten, elastischen Wuchs, um den Kammerdienermund sein hochmütiges Lächeln. In das rechte Auge war das goldene Monokel geklemmt, durch das er im Landtag, wenn die deutsche Opposition sich um die Bänke der Feudalen scharte, kühl und frivol den Saal überblickt hatte. Und dann wieder konnte er familiär sein, leutselig, demokratisch, so wie er jetzt, in der Volkssprache scherzend, dem immerfort buckelnden Lakai auf 42 die Schulter klopfte. Seit Jahren war er Witwer. In den Ballettetablissements von Wien, bei Ronacher war seine charakteristische Erscheinung bekannt. An seinem Ringfinger hatte er einen kleinen Diamantring mit stechendem Feuer, der auslief in einen Schlangenleib. Der Graf trat an das Fenster. Man sah einen Reitstall und davor eine Gruppe von Pferden. Reitknechte in bunt gestreiften Westen zäumten die dampfenden Tiere ab.

Der Lakai war verschwunden. Der Graf begann, mit seinem anmaßend nachlässigen Kavalierton: »Also in Prag, Herr Doktor? Na, daß Sie endlich zurück sind! Waren eh' lang weg! Fünf Jahre! Sollt' man's für möglich halten? Jetzt werden S' doch hierbleiben, was? Nur damit die guten Freunderln sich giften!« »Ich habe keine Beziehung zur Partei mehr«, antwortete Schandera, »und keinerlei Aspirationen.« Der Graf schüttelte mißbilligend den hochmütigen Kopf. Der Terrier sprang an ihm hinauf, er tätschelte ihn. »So, warum denn? Wegen Ihrem Prozeß? Die sollen Ruhe geben, die Herrschaften! Was ist der Vojna? Der Staatsanwalt wird's ihm sagen. Und der Hruban, der für dem Vojna seine Hotels die Lieferungen übernommen hat? Und der Srp mit seinem Rabattverein und der Zapletal mit seiner landwirtschaftlichen Genossenschaft? Werden bald abgewirtschaftet haben, die Herren, bald abgewirtschaftet.« Er faßte nach dem Schreibtisch, nach einer Visitkarte mit Vojnas Namen, die er geflissentlich halb zudeckte; nur »ich bitte« war zu lesen. »Da schau'n Sie«, sagte er, »nur flegeln oder die Hand küssen, das können diese Herren. Eine Sünd' wär's, wollten Sie vor denen kapitulieren, Doktor!« »Mein Entschluß ist gefaßt«, erklärte Schandera. Der Graf spielte 43 mit dem Papiermesser, das neben der Visitkarte, vor einer Stutzuhr mit einem die Sense haltenden Chronos lag: »Eine Sünd', wenn ich nur an Ihren Geist denke, Ihre Mäßigung, Ihre, Sie entschuldigen, Ihre Vornehmheit! Und die Sache mit dem Staatsdepartement – so ein Esel, der Okoun!«

Schanderas Blick haftete an der Stutzuhr. »Herr Graf, hätten Sie die Güte, nichts davon zu erwähnen«, sagte er schwer. Draußen vor dem Reitstall schnoben die Pferde. »Na, wie Sie wollen, mein Lieber«, entgegnete der Graf. »Es wird eine andere Zeit kommen für Sie und uns. Was ist mit Ihrer Philosophie und Ihrem Rechtsarchiv? Und mit der Universitätsbibliothek?« »Ich werde nur noch im Ausland publizieren«, erwiderte Schandera. »Na, vielleicht ist was in meiner Güterverwaltung. Ich werde den Zoglmann fragen.« Er schritt zum Kamin. Der alte Lakai zeigte sich wieder. »Der Marek soll die Arabella nicht so herumreißen, der Trottel! Rufen S' den Doktor Zoglmann!«

Schandera betrachtete einen Stahlstich an der Wandtapete, die Krönung Franz Josefs und Elisabeths mit der Krone von Ungarn. Der Graf sah hinaus, eine Klarissin ging vorbei, ein Offizier mit vergoldetem Helm, eine junge Dame, die ihr Reitkleid geschürzt hatte und mit dem Silbergriff ihrer Peitsche gegen den Efeu des Gartenzauns hieb. Der Glockenhall von Maria de Victoria drang durch den ergrauenden Nachmittag. »Was hört man von der großen Künstlerin, der Frau Gjalska?« fragte der Graf. »Also wird man sie nie mehr in der Oper bewundern können, nachdem sie mit Ehrungen ausgeschieden ist? Na, jetzt singt ja alles die Harlas. Die ist ja die 44 Freundin vom Baron Nadolny. Ein fescher Kerl, die Harlas. Ach, da ist er schon, der Zoglmann. Doktor Schandera – mein Herr Zentralsekretär! Sie, was ist mit Modlin, bleibt nun der Buchar?«

Zoglmann, hellblond, schlau, nüchtern, machte ein nachdenkliches Gesicht. »Der Buchar bleibt«, sagte er mit seinem mißgelaunten Falsett. »Sein neuer Vertrag ist rekommandiert nach Modlin abgegangen.« »Und die Spinnerei?« »Der Staigr hat noch bis zum Frühjahr Kontrakt.« »Ansonsten verändert sich nix?« »Bedaure, Erlaucht.« »Bedaure, sagt er. Alsdann, Doktor, müssen wir später schaun, was sich tun läßt. Auf Wiedersehn! Geben S' mir durch den Zoglmann Ihre Adresse!« Das Monokel glitt herab, gönnerhaft lächelte der Kammerdienermund.

Schandera folgte dem Sekretär in die Büroräume, den Wohnzimmern des Grafen gegenüber. Dr. Zoglmann ließ die Adresse Schanderas notieren. Sie traten durch eine Hintertür in den Garten hinaus, dessen Pavillons eine Volière abschloß. »Verkauf von landwirtschaftlichen Produkten der Gräflich Bubnaschen Güter Modlin und Winitz«, war auf einem Plakat zu lesen. »Ich begleite Sie bis zum Ring«, erbot sich Zoglmann, verschmitzt und wortkarg.

Die runden Fenster des Café Radetzky waren schon zugehängt. In den stumpfen Novemberhimmel stiegen die grüne Kuppel und mit kaum noch erkennbarer Uhr der Glockenturm der Niklaskirche. An der Brückengasse lüpfte Zoglmann den Hut. Er hatte Eile, in einer der dunklen Weinstuben zu sein, die hier auf der Kleinseite ihr Publikum hatten. Große Anschläge verkündeten das 45 Standrecht wie dort jenseits des Stroms. Wachmänner befahlen weiterzugehen. Am Votivbalkon des Hauses neben der Karlsbrücke brannte topasfarben über dem Goldrahmen einer kleinen Muttergottes ein Lämpchen. Steil reckte am Ufer der Insel Kampa der Brunswick auf der Säule mit dem Stadtwappen und dem Löwen sein Zauberschwert. Nach Dejwitz zogen Arbeiter und Arbeiterinnen, verbraucht, in schlechten Kleidern. Radfahrer klingelten, Greisinnen saßen, nach Almosen die Hände ausstreckend, unter den Sockeln der Heiligenmonumente umher.

In den Trnkaschen Mühlen war Licht. Schon kroch die Nacht vom schmutzigen Wasser herauf, das an die Holzgatter plätscherte.

 


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