Paul Wiegler
Das Haus an der Moldau
Paul Wiegler

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11

Die Wohnung im Smichow mußte bis zum dritten Feber geräumt werden. Ein Tapezierer zerstörte die Ausstattung, die die Zimmer Jahre hindurch gehabt hatten. Kahl war drüben der Kinskypark, in dessen Ästen die hungrigen Finken sich balgten, war die Hütte der Milchkur, die Anhöhe mit den in Stroh gewickelten Rosenbüschen, die weiße Villa. Der graue Himmel wanderte herein. Die Möbel standen, von der Zeit versehrt, in den Wirbeln des Staubes, der sonst ruhte. Von neuem breitete er sich auf die abgeschraubten Lampen, die Sofas, die von ihren Nägeln gelösten Bilderrahmen. Es war wie eine Vorahnung der Übersiedlung, die die letzte ist.

Schandera sperrte an diesem Sonntagmorgen den Sekretär auf, den er einst benutzte, und las in Briefen. Ljuba trat neben ihn, in dem Ulster, den sie für ihre Gänge zum Theater nahm, und las mit ihm gemeinsam. Er hatte in der Hand einen ihrer Briefe nach Wien, zerknittert, mit krausen Schriftzügen hingeworfen. »Niemals kehre ich«, schrieb sie, »nach Josefstadt zu ihm zurück. Du bist um mich in meinen Träumen, keine Sehnsucht ist in mir, als mit Dir vereint zu werden. Bis zum Donnerstag habe ich nicht zu singen. Morgen bin ich bei Dir. Erwarte mich.« Und mit blauer Tinte ein zweiter Brief. »Jetzt gibt er es auf, er war bei seinem Advokaten, er stimmt der Trennung zu. Der Termin ist in Preßburg, im Juni. Er selbst ersucht, da er durch seinen Onkel, den Weihbischof von Olmütz, die großen Verbindungen hat, um die Dispens für uns. Meine süße Manja soll mir, soll uns gehören. Ich bin glücklich, daß ich Dein bin.« Sie lasen das befangen, 73 unsicher vom Anprall der Worte, die ihr Schicksal gewesen waren. Milada, die Slowakin, scharrte im Ofen des Eckzimmers Anthrazitkohlen auf und entfachte das Feuer. Ganz nahe waren sie sich. Er sah unter den Augen Ljubas die Falten, die Furche zu ihrem Mund, den Metallschimmer an den Spitzen ihres kastanienbraunen Haares, er empfand das Klopfen ihres Blutes.

Sie sprachen von Bekannten aus jener Zeit, von Städten, von Straßen. »Das war im Heinrichshof«, sagte sie auf deutsch. »Nein«, erwiderte er, »in der Gartenbaugesellschaft.« »Und Payerbach, Baden, Heiligenkreuz, weißt du noch?« Sie lachte hell wie als junge Frau; und dann wurde ihr Lachen zögernder, bis sie davon abließ. »Nun sind wir alte Eheleute geworden«, seufzte sie. Ihrer Pompadourtasche entnahm sie ihren Handspiegel, und so fiel sie, ohne es zu wollen, in das Gebaren der Schauspielerin zurück. »Milada«, sagte sie, »ich bin um zwölf wieder da von der Probe. Um halb eins essen wir. Wo ist Erik?«

Der Knabe erschien; blaß war sein Gesicht. »Möchtest du heute nachmittag ins Theater?« fragte sie, »vielleicht, daß der Papa mit dir geht?« Freudig bat Erik: »Ach ja, Maminko, was für ein Stück, das Märchen?« »Das Märchen«, bejahte sie, »in dem ich die böse Fee bin.« »Die böse Fee, warum nicht die gute?« lachte Erik. »O das Kind!« rief sie mit einem Anflug von Pathos und umklammerte ihn. »Wir werden zusammengehen«, sagte Schandera. »Dann lasse ich zwei Billets im ersten Rang für euch hinterlegen«, nickte Ljuba. »Milada, du hast einen Platz auf der Galerie.« Es schlug zehn. »Mein Gott, ist das spät!« Sie setzte ihren Filzhut auf. Der Postbote, 74 ein gestricktes Tuch um den orangefarbenen Uniformkragen, läutete. Sie riß ihm fort, was er für sie hatte.

Schon halb drei Uhr nachmittags begann »Elizonde«, die Pantomime von Uzabal. Lange war Erik nicht im Theater gewesen, wie früher so oft; und alles was ihm davon geblieben war, hatte ein traumhaftes Licht. Einmal, noch klein, hatte er mit der Mama eine Oper sehen dürfen, in der sie nicht auftrat. Da gab es einen Wald und ein Turnier von Rittern, ein Grab in einem Nonnenkloster und einen Zweig, mit dem eine in Schlaf gezauberte Dame erweckt wurde, und eine Kathedrale, und die Ritter und Damen sangen, daß ihm das Herz fast stillstand. Seine schöne Mama hatte ein duftendes Kleid an, strahlte, lächelte in dem Hause nach allen Seiten, und er griff nach ihrer duftenden Hand wie ein Verliebter. Dann war er tief eingeschlummert und kam erst zu sich, als er im Bett lag. In der Nacht waren die Türen mit den verblichenen Goldleisten gegangen, aus dem Zimmer der Eltern klang es, als schluchzte die Mama, und der Vater schritt hin und her, daß die Diele vor dem Kleiderschrank knarrte, doch er konnte die Lider nicht öffnen, so schwer waren sie. Oder ein andermal saß er in einer Loge, und die brillantenbesäte Ordynska, die Dame mit dem Wunderzweig, die in ihrem Haus am Stadtpark eine Gräfin war, hatte ihn auf ihrem Schoß. Aber die Mama war nicht bei ihnen, sondern dort auf der Bühne. Von draußen gellte ein Schrei, so grauenhaft, daß er sich die Lippen zerbiß. Und auch die Mama schrie. Einen teuflischen Mann in schwarzer Seide, mit weißer Perücke und weißem Jabot, beschwor sie, in rasenden Umarmung warf sie sich über einen anderen, einen jungen, der wie ein 75 Sterbender hineingetragen wurde. Dann klagte sie auf einem Kanapee, dann fuhr sie dem Teufel in schwarzer Seide mit einem Dolch gegen die Krause. Sie sang mit dem andern; es war wie ein Ertrinken in einem Bad von Melodie. Schüsse krachten, über eine Mauer sprang die Mama hinab, das Orchester wütete. Erik atmete vor Wonne und Angst nicht mehr. Doch da eilte die Mama wieder nach vorn, indes Körbe mit sehr teuren Blumen um sie aufgerichtet wurden, und über den Abgrund, in dem die Musiker saßen, zwinkerte sie ihm zu und der Ordynska. Noch an dem Abend, bevor das Unfaßbare geschah, daß der Vater so plötzlich wegreiste, hatte er mit Manja das Theater besucht. Er hatte dem Vater von dem Stück, das »Der Prager Jude« hieß, erzählen wollen. Umsonst klopfte er an die Tür. Nur der Schein der Lampe durch den Spalt am Boden hatte bis in den häßlichen Morgen gedauert. Jetzt sah der Fünfzehnjährige das Vestibül wieder, die Treppen, den Zuschauerraum, die Freiheitsallegorie des Bühnenvorhangs. Aus der Versenkung drang das Brummen der Bässe, das Rauschen der Harfe, das Rieseln der Geigen, das Quinquelieren der Flöten. Es wurde dunkel; aber für Schandera hell genug, um nach den Konturen von Eriks Antlitz zu spähen.

Nochmals klingelte es. Langsam wurde der Vorhang wegbewegt. Die Pantomime handelte von der Liebe eines Prinzen zu der Prinzessin Elizonde, die, angetan mit einer silbernen Schärpe, die Randova war. In Grün, in Blau, in Rosa flutete die Szene. Der Mond verglühte in Wolkenkulissen, Sterne schossen herab, der Sturm brauste in einem tropischen Palmenhain. Das Ballett ordnete sich zum Figurentanz, lauter große, schöne Mädchen. Jetzt 76 waren sie in Gazeröcken ein Lilienbeet, jetzt in Wattesäcken Schneekobolde, jetzt Kuriere der Luft; und immer trippelten die großen Mädchen bis dicht an die Rampe. Im zweiten Akt führten die gute und die böse Fee um das Liebespaar ihren Krieg. Die Gjalska als böse Fee war dazu verurteilt, alt zu sein. Krebsrot geschminkt hatte sie eine struppige Perücke, einen faltigen gelben Mantel, einen grauen Schleier, und sie fauchte, statt zu sprechen. »Das ist die Mama?« flüsterte Erik enttäuscht. »Ja, das ist sie«, sagte Schandera. Plötzlich blinkten an der Vorderkulisse rechts zwei wäßrige Kugeln, die Augen Ljubas, in denen sich der Reflex der Proszeniumslichter brach. Vor dem dritten Akt ging Erik neben dem Vater durch das Foyer, wortlos und niedergeschlagen. Er kämpfte mit der Ernüchterung, dem Zweifel, er hatte Scham für die Mama.

Am Montag sollte er, da der Internist Dr. Brandeis die Erlaubnis gab, in dem Gymnasium der Obersten Neustadt angemeldet werden. Es war in der Resselgasse, unweit der Moldau, gegenüber der verfallenen Barockfront der Borromäuskirche und den schmiedeeisernen Gittern des ehemaligen Klostergartens, neben dem hoch der Schutt der Auffüllungsarbeiten lag. Der Direktor hatte seine Empfangsstunde von vier bis fünf, in einem Bibliotheksaal mit der Gipsbüste des Amos Comenius. Er hieß Hofrat Virgil Pulpan und war bartlos, mönchisch, mit lederner Haut. Pedantisch nahm er die Registrierung vor, mit Betroffenheit sich wendend, als Schandera seinen Namen nannte. Dumpf hallte es in den Korridoren. In der Klasse, der Erik zugewiesen wurde, waren die Schüler im Streit, einige ungeschlacht, einige schmächtiger, und alle hatten sie, älter als Erik, schon die 77 Gesichter, die sie einmal haben mußten: der Feige, der sich schlagen ließ, der Freche, der über die Köpfe hinwegbrüllte, der aus Streberei noch Lernende, der sich die Ohren mit den Daumen verstopft hatte. Ein Bebrillter, steil gebürstet das Haar, sang mit noch umkippendem Bariton das Hussitenlied, andere rauften sich um einen geplatzten Fußball, den sie auf das Katheder des in jeder Minute zu erwartenden Professors schleuderten. Gegen das Hoffenster unter dem Gasarm, neben den Aborten, lehnte einer in langen Hosen, der wohl geweint hatte. Er hatte Eriks blonden Scheitel.

Schandera ging mit seinem Knaben an den schwarzen Neubauten der Dittrichgasse vorüber in die Adalbertgasse, in sein Logis bei den Netolickys, das er morgen verlassen wollte. Die Wirtin kochte Kaffee und tischte Dalkeln auf. Von der Kirche, deren Kupferdach repariert wurde, schlug es sechs Uhr. Schandera zog seinen Knaben in die Ecke des Sofas, unter einer Libuša, die Přemysl hinter dem Pflug findet, der Madonna della Sedia und den Photographien der Netolickyschen Verwandtschaft. Erik sprach, und in Frage und Antwort beschäftigten sie sich mit dem Glück vor Jahren, mit der Smetanagasse, mit dem Teich im Canalischen Garten, der schon zugeschüttet war, dem Gröbepark und seiner Grotte, mit Erinnerungen, die nur für sie Wert hatten. Besonders eines wußte Erik noch: wie an einem Winterabend nach zehn Uhr in der Smetanagasse der Mann kam, den Herr Vrany im zweiten Stock dann stellte und der, stotternd und kichernd, erklärte: »Ich bin ja der Konopasek aus Kolin.« Er hatte stehlen oder zu einem Dienstmädchen in die Kammer wollen und tat, als wäre er sinnlos 78 betrunken. Die Kinder im Hause hatten sich über den Spaßvogel gefreut. Das war ein paar Wochen vor der Abreise des Vaters gewesen. Und nun wurde Erik einsilbig, seine Heiterkeit verlor sich.

Der Zuschneider Netolicky, der bei einem Konfektionär am Graben tätig war, sperrte die Tür auf. Es war sieben Uhr geworden. »Morgen sind wir beisammen, wir alle«, sagte Schandera, indem er die Stirn seines Sohnes streichelte. Erik preßte ihm mit feuchten Fingern die Hand. In ihrer Nachtjacke erschien die Wirtin. Sie schimpfte über ihren Gatten, der in der offenen Küche an einer langen Pfeife sog, und hatte für den Knaben einen Schwall dienstfertiger Freundlichkeit.

Schandera trat zurück in sein Zimmer. Er lauschte den Schritten Eriks über die steinerne Treppe von einer Etage zur andern. Jetzt waren sie noch hart abgesetzt, nun fern und ferner, und nun – er empfand einen Stich in der Herzgegend – hörten sie auf, die geliebten Schritte zu sein.

 


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