Paul Wiegler
Das Haus an der Moldau
Paul Wiegler

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20

Manja war nicht mehr in Berlin. Ein Theateragent hatte sie nach Leipzig geschickt, und sie war auf einen Kontrakt für das Neue Schauspielhaus eingegangen. Sie habe, schrieb sie, nach der Janthe keine Gelegenheit gehabt, in den Vordergrund zu kommen, sei auch nicht fest engagiert worden. Als sie ihren Entschluß mitteilte, habe der Dramaturg ihr gedroht, der Direktor, der große Künstler, der Zauberer, habe sie beschworen zu bleiben, ihr die Julia angeboten, die Hermione, Fräulein Julie. Sie habe nicht zurückgekonnt; und nun sei sie hier und sage sich, daß sie gegen sich selbst gesündigt habe. »Aber ich spiele, ich vergeude mich, und dessen bedarf ich für meine Nerven, die miserabel sind.« Sie habe in Leipzig die Fischl wiedergefunden, die entbrannt sei, mit ihrer verkümmerten Statur zur Jeanne d'Arc ausersehen zu werden. Die Kollegen seien eine verlogene Bande. Die Kritik zweifle nicht an ihr, doch rede sie von ihrem östlichen Dialekt. Photos legte Manja bei, eines ihrer Yanetta in der »Roten Robe«, bäuerlich, die Arme gegen den Leib gestemmt, mit hochmütig zugekniffenen Augen, eines als unfrisierte, schlampig angezogene Iza im »Fall Clémenceau«, und sie schien eine Dreißigjährige. 125

Schandera beobachtete von der Ecke der Myslikgasse, daß der Hausmeister im Tor mit jemandem unterhandelte. Prokupek, der Hausbesorger, war Geschäftsdiener in einer Lampenfabrik, ein verworrener Mensch von kriecherischer Demut. Er hatte gestern sein Weib wieder zu sich genommen, das wegen fortgesetzter Diebstähle im Polizeigewahrsam gewesen war. Sie hatte ihn mit anderen Männern betrogen, mit denen sie jede Nacht auf feineren Bällen tanzte; und er verzieh ihr, noch abhängiger von ihr als ehedem. Sie stand auch jetzt hinter ihm in einem Wollkamisol, mit halbnackter weißer Brust, blonde Strähnen in ihrem blutlosen Gesicht. Er gab, indes er den Blick verdrehte, irgendeine Auskunft. Schandera erkannte die Züge des Besuchers. Es war der Sohn des Ehepaares in der Karpfengasse, bei dem Therese wohnte, der Schriftsteller oder was er sonst war.

Sie traten in das Portal ein, der Hausmeister stotterte erschreckt, der Besucher faßte sich unwirsch an den Hut. »Dr. Felix Bergmann. Ich habe Sie etwas zu fragen.« Schandera ging mit ihm in den Flur, in dem es nach Rost und Staub roch. Dr. Bergmann lahmte; er hielt sich an der ornamentierten, grauschwarzen Wand. Scharf stieß er hervor: »War Frau Giacometti heute bei Ihnen? Sie ist in der Frühe fort und hat meiner Mutter erklärt, daß sie zu Ihnen wolle. Nun war sie die letzten Tage immer sehr aufgeregt.« »Meine Schwester war in dieser Woche nicht bei uns«, sagte Schandera. »Allerdings haben wir sie für heute erwartet. Warum glauben Sie, daß sie aufgeregt war?« Dr. Bergmann antwortete zögernd: »Sie hat oft bis zum Abend niemanden zu sich gelassen, und nachher lief 126 sie davon. Sie sprach mit meiner Mutter nur das Notwendigste. Heute früh war sie noch sonderbarer, direkt psychopathisch. Ihr Zimmer hat sie abgesperrt.« »Herr Doktor«, sagte Schandera, »jetzt ist es zehn Uhr. Wird man mir in einer Stunde Ihr Haus öffnen, damit ich mich nochmals erkundigen kann? Vielleicht ist sie bis dahin wieder bei Ihnen, oder wir selbst haben eine Nachricht von ihr.« Dr. Bergmann ging lahmend an seinem Stock bis zur Straße. »Wie Sie wollen«, entgegnete er. »Ob um elf oder um zwölf Uhr, wir werden wach sein.« Er entfernte sich. Die Frau des Hausmeisters sagte: »Küß' die Hände«, mit blutlosem Gesicht.

Schandera klomm die Treppe empor, Hunderte von Stufen, die er, ohne zu wissen, zählte. Er dachte nach, weshalb der Mensch da eben so finster sich empfahl, und er entsann sich des an den Knopflöchern und am Kragen strapazierten Überrocks, den jener trug, und seiner manierlosen Schroffheit. In der dritten Etage wühlten sich durch die Mauer die Töne des Klaviers, das Komikerlied der Operette »Herbstmanöver«. Das Gaslicht erlosch, der umwölkte Mond bestrahlte die farbigen Scheiben. Etwas klirrte, das Eisen zum Abkratzen der Schuhe. Mit einem Seufzer stand Schandera still. Nach zehn Uhr würde Ljuba vom Theater hier sein. Sollte er in der Wohnung sitzen und dann erst gehen? Er hatte das Gefühl, als rufe Therese ihn, als dürfe er sich nicht verspäten und müsse eilen. Ihm war, als sei sie ein Kind wie vor Jahren in Pilsen, als er sie am Fluß aufgestöbert hatte, am Steg zum Lochotiner Park, bei den brausenden Wassern, und sie in ihrem weißen Kleid im Gebüsch hockte, verheult, vor der väterlichen Strafe zitternd. Dunkel war in ihm die Angst 127 der Blutgemeinschaft. Die Tür droben war verriegelt. Milada hatte in der Küche ihr Traumbuch gelesen. Im Korridor warf er auf einen Zettel ein paar Worte für Ljuba hin: »Therese wird vermißt, ich muß zu ihr.« Dann war er wieder unten, bei den Hausmeisterleuten. Mit der Kerze wankte Prokupek in Unterhosen ihm voran.

Den Kai ging Schandera entlang bis zum Rudolfinum, bis zum Kettensteg über die Moldau, und alles schien eine Wiederholung zu sein: der Kreis um den Mond, das schwarze Wasser, die schaukelnden Lichter, die Sträucher der Uferpromenade, die ausgespannte Brücke, die bei jedem seiner Schritte ein wenig nachgab. Das war das hölzerne Gebäude der Militärschwimmanstalt und nun vor ihr, am Rand der Kleinseite, die Front der Strakaschen Adelsakademie. Die Wipfel des Rudolfsparks überwuchsen die Straße unter dem Belvedere. Soldaten von der Bruska-Kaserne, eine rotgelbe Veranda in einer Gartenwirtschaft, ein Wagen, hinter dem eine Kette rasselnd schleifte, der glühende Punkt einer Zigarre.

Schandera strebte die zementierte Brüstung hinauf, bis zu einem Spielplatz, einer Mineralwasserbude. Seine Augen starrten in das Dickicht der Zweige. Jetzt mußte Thereses altmodischer Hut vor ihm emportauchen, jetzt würde er sie ansprechen, und sie würde mit einem Schrei sich an ihn klammern und sich von ihm zurückholen lassen wie damals. Er stieg hinab, er drehte sich um; eine Frau streifte ihn, eine armselige Dirne von den Schanzen. Die Unruhe vieler Stimmen war in seinem Ohr; doch dann hörte er die Fluten des schrägen Wehrs. Schnell näherte er sich, vorangerissen. Er glaubte eine Menschenansammlung zu sehn, einen Wachmann, eine 128 leblose Bürde unter einer Plache und sah nur das Geländer, die Schatten der Bäume und in der Tiefe den Steinwall. Atemlos kam er an die Talstation der Drahtseilbahn, zur Elisabethbrücke. Der Alpdruck der Stadt war wieder um ihn. Ohnmächtig verhallte der Ruf Thereses zwischen den Häusern.

Die Jakobsgasse durchlief er, in der er zur Rechten das Minoritenkloster, die Kirche, hatte, zur Linken den Teinhof, wo unter den romantischen Arkaden eine Burg ineinandergeschobener Wagen stand, auch sie ein Dirnenversteck, und die weite Fläche des Rings. An der Rathausuhr fuhr, mit Spelunkenvolk als Gästen, ein Schnapsverkäufer vor, sein Hund, der knurrend an der Deichsel zerrte, kuschte sich auf das Pflaster. Das Zifferblatt der großen Uhr besagte, es war elf Uhr vorbei. Und nun ging Schandera durch die unebene Karpfengasse bis zu dem letzten Haus, und über eine gelockerte, schiefe Granitplatte kletternd, sah er Thereses Fenster mit einem weißen Vorhang verhüllt, den matten Schimmer einer Lampe. Das Tor war nur zugeworfen, der Eingang beleuchtet, eine Dienstmagd tuschelte mit einem Soldaten und ließ ihn spähend in den Keller. Auf den Stufen zum Mezzanin kam düsteren Antlitzes, den Überrock um die Schultern, Dr. Bergmann Schandera entgegen. Seine Augen waren unheilvoll, wie drohend verwahrte er mit einem Finger seinen bärtigen Mund.

Im ersten Zimmer kniete die Alte und betete, vor sich hinlächelnd, als habe sie die Vernunft eingebüßt, ohne Pause mahlten ihre des Gebisses beraubten Kinnbacken. Schandera wollte ihrem Sohn in die Nachbarstube folgen. Wichtig zog der alte Bergmann, der am Tisch seinen 129 Tee geschlürft hatte, ihn beim Ärmel zurück. »Sie war nicht aus gewesen«, sagte er, »sie hat uns getäuscht, sich sofort wieder eingeschlichen, ohne daß wir es ahnten. Der Schlosser mußte die Tür erbrechen, die Rettungsgesellschaft hat einen Arzt gestellt, in zehn Minuten wird die Polizei eintreffen und protokollieren.« Schandera wußte plötzlich den Zweck seiner Gegenwart in diesem schlecht gelüfteten Raum nicht mehr, und auch als im Kabinett nebenan der Arzt, der die Instrumente der ersten Hilfe wegpackte, sich mit leisen Worten an ihn wandte, begriff er ihn kaum. Aber da war Therese auf ihrem Bett, das Laken über ihren Beinen. In schwarzem Kleid lag sie, entseelt, kalkig, Bläschen an den Lippen. Eine Winterfliege umsummte sie, und in ihrer Hand stak eine kleine Flasche.

 


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