Paul Wiegler
Das Haus an der Moldau
Paul Wiegler

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Die neue Wohnung war am Riegerkai, in einem Haus an der Myslikgasse. Sechs Männer in blauem Schurz schleppten ihre Lasten durch das eiserne und gläserne Tor, das mit den Rippen seines schmalen Bogens der Gotik des Wladislaw-Saales nachgebildet war, bis ins oberste, das fünfte Stockwerk, das vierte über dem Mezzanin. Die weiten Moldauufer sah man dort. Ganz zur Linken, im Rauch die Westbahnbrücke zwischen Smichow und Wyschehrad und die Hügel über Koschiř, zur Rechten die Karlsbrücke und 79 jenseits des Stroms die Hradschinstadt, geradeaus den Kinskypark und den Petřin mit dem Eiffelturm. Dicht am Kai die Zwiebelkuppel des braunen Schitkauer Turms, die Mühleninsel, die in das vereiste Strombett vorsprang, bis zu den Planken und Stämmen des Wehrs. Zuweilen kamen Arbeiter, die sich unter den knorrigen Baum der Inselbastion stellten und über den Fluß hinüberschauten; oder Mehlsäcke wurden verladen. Drunten, den Kai säumend, harrten Eistransporte in dichten Kolonnen. Die zertrümmerten weißen Flächen schwammen, mit Haken gestoßen, heran. Immer schoben sich Wagen die schräge Uferstraße hinauf, denen entgegen, die leer zurückfuhren. Schwindelnd maß der Blick die Tiefe. Frost drang in die großen, hohen Zimmer von dem Balkon, der dem mittleren der Räume vorgebaut war. Wasserspeier leiteten die Nässe von ihm ab, Rohre mit Figuren von grauem Stuck, gespenstische Fratzen, ähnlich den Teufeln und Basilisken der Notre-Dame.

In dieser Zeit war es Schandera, als habe ihn nie etwas von der Familie getrennt. Eine traumlose Nacht neben Ljuba, der Morgen mit Manja, die von der Weinberger Direktion aufgefordert worden war, in einem Ostrowski zu debütieren, und Erik, der schon vor acht ins Gymnasium mußte. Der Tag im Büro, der Abend, die traumlose Nacht: wäre nicht der Prozeß gewesen, er hätte an Sicherheit vor dem Schicksal glauben können. Er hatte seinen regelmäßigen Weg, vorbei an der Maria-Schnee-Kirche und dem Englischen Gruß, durch Jungmannsgasse und Lazarusgasse. Dann stieg mit ihren Zacken die Mühle empor, in der Auslage des Elektrotechnikers blendeten die Glühbirnen und hämmerten die 80 Klingelapparate, rohe Bretter waren vor dem Möbelmagazin geschichtet. Manchmal holte Schandera Ljuba, die wenig spielte, aus dem Theater ab, und sie gingen durch die Gasse unter dem Altan mit den brennenden Gaslampen heimwärts. Manchmal kam die Roubiček, die für »Divadlo« über die Heroine Gjalska, ihren Opernruhm von gestern, ihre repräsentative Sprechkunst von heute geschrieben hatte. Dann waren sie allein, und vor den Fenstern schwankten die Laternenlichter in der unbegrenzten Stromnacht.

Am Ende des Monats konzertierte die Philharmonie in der Produktenbörse am Heuwagsplatz. Die Aufführung von Smetanas Zyklus »Má vlast« war bekanntgegeben. Am dritten Sonntag fand die Hauptprobe zur ersten Hälfte statt. Ljuba hatte in der »Godiva« zu tun. Schandera verließ sie um sechs Uhr am Bühnenportal und gelangte durch die Ketten des Korsos zum Graben. Die Fiaker schrieen ihr »Ho!«, vor dem Deutschen Haus wachten Gendarme, das Pflaster war demoliert, rote Laternen staken auf Steinpyramiden. Die Freitreppe der Produktenbörse wimmelte von Menschen. Schandera wartete an der Tür zum Parterre, bis der Lärm verebbte und die Harfen das Thema von »Wyschehrad« präludierten. Er hörte den Einsatz von Flöten, Oboen und Klarinetten, das prunkende, rhythmische Schwellen der Bläser, das unheilbange Piano, die Macht des Unisono, die Schauer des Tremolo; und wiederum das edelglänzende Grundmotiv, die Arpeggien der Harfen. Im Saal wurde mit Geräusch der Dirigent hervorgejauchzt. Schandera klinkte die Tür auf und verschwand zwischen den Andächtigen des Stehplatzes. 81

Alle Stuhlreihen waren voll, bis zum Podium brandete die Menge. Sein Auge wurde durch den Nacken einer brünetten Frau angezogen und durch die Knie eines Mädchens, das eine Partitur hielt. Eine unklare Wallung der Sinne durchzuckte ihn; da erkannte er, es waren die Knie Manjas. Sie hatte einen Nachbar, der ihm fremd war und der beständig auf sie einredete. Sie strich sich über die Stirn, schlug die Partitur zu, legte die Beine übereinander. Der Fremde schaute sich um, irgendwohin in das Menschengewühl. Er war ein Schauspieler oder ein Musiker. Sein Gesicht war knochig, sein Haar lang bis zum Rockkragen, etwa dreißig Jahre war er alt. Nun verglich Schandera ihn mit einer Photographie, die am Graben oder in der Ferdinandsstraße hing. Petera war es, ein Pianist. Und nun sah er, daß der Fremde mit seiner Hand Manjas Knie streifte.

Der Dirigent schwang den Taktstock. »Vltava«, die Moldausymphonie, entfaltete sich mit dem silbernen Hüpfen von Waldquellen über Kiesel. Ein breiter Fluß, überronnen vom Gold der Sonne. Waldhörner riefen, die Polka einer Bauernhochzeit stampfte in abendliche Dämmerung, Nixen tanzten, im Mondschein schäumte die Vltava. Schandera ertrug es nicht länger, er schloß die umflorten Augen. Er ging durch den Saal und drückte mit Vorsicht die Türklinke nieder. Ein Billetverkäufer, der Kassa machte, zischte über Störung, als er sich am Rand der Kokosmatten zu einem Pfeiler tastete. Drinnen schmetterte der Amazonenchor der »Šarka«, ein Marschtempo, viermal im Nonenakkord ein Weheschrei, das Cello erwachte. Durch die Fülle der Geigen, die Tonmalerei des Zechgelages, der lyrischen Trauer, des 82 Männermordes brauste die Dichtung dem erschütternden Abschluß zu: vom ehernen Fortissimo aller Instrumente wurde das Solo der Posaune, des Fagotts und des Cellos dreifach begraben. Durch die Tür quoll eine Kundgebung des Enthusiasmus.

Schandera griff nach seinem Mantel, seinem Hut. In einer Nische blieb er stehen. So betrachtete er Manja, die vor einem Spiegel ihren Schleier band. Der Fremde, in Astrachanmütze und einem Gehpelz, zündete sich vor der Garderobe eine Zigarette an. Schandera merkte sich: die Zähne des Mannes waren fleckig zwischen erschlafften Lippen. Er folgte den beiden über die Freitreppe, über den Heuwagsplatz in anderer Richtung als die Scharen des Publikums. In der Heinrichsgasse war er hinter ihnen. Am Wenzelsplatz häuften sich die Elektrischen, Gäste des Bierhauses »U Lhotku« hemmten ihn. Vor dem Akademischen Café schien Manja zu zaudern. Der Fremde nahm ihren Arm und ging mit ihr weiter. An der Ecke der Myslikgasse sagte sie ihm: »Wann sehe ich dich wieder?« Sie klingelte dem Hausmeister, der Schlüssel wurde umgedreht, die grünliche Phosphorflamme einer Wachskerze klomm hinauf. Erst als sie erlosch, öffnete Schandera sich das Tor.

Dann, im März, war im Weinberger Stadttheater der russische Abend mit Manjas Debüt, bei kaltem Wetter, indes Regen das Pflaster peitschte. Sie trat unter dem Namen Lucerna auf; so nannte sie sich nach der Agramer Schauspiellehrerin ihrer jungen Kusine Gemma Boić. Die Zeitungen hatten durch Notizen informiert, über die Gjalska und ihren Konflikt mit den jetzigen Leitern und über ein neues, dem Vernehmen nach großes Talent, das 83 man ihr verdanke und das Zukunft habe. Der Abend begann mit der »Hochzeit« von Tschechow; und Manja war die Braut, provinziell inmitten der Spießbürger, entstellt durch Karikatur wie der Brautvater, der Telegraphist, die Hebamme, der griechische Konditor, der Matrose, der bärenhafte alte Marineoffizier, in dessen Rolle der Schwankkomiker Stalich grölte und schlingerte. In »Redlichkeit ist gut, Glück ist besser«, der Komödie von Ostrowski, hieß sie Polyxena, Tochter des Witwers Baraboschew. Sie liebte, trotzig und widerspenstig, den Verwalter Platon Sibkin, wurde verwöhnt von ihrer Kindsfrau, abgekanzelt von ihrer Großmutter, der sie mit Selbstmord drohte, wenn man sie zur Heirat mit einem General zwinge, und hatte nachts im Garten, unter Birken, mit Platon ein Rendezvous. Stekly, der Sibkin war, schalt sie aus, sie liebe ihn nicht, sie quäle ihn nur zu ihrem Vergnügen. Die Lucerna spielte, oder war es mehr als Spiel? mit Anmut, mit Laune und doch mit der Melancholie der Jugend. Sie nestelte sich das Haar des Hinterkopfs, sie faltete ernsthaft die Stirn und hatte in der zerbrechlich hohen Kadenz ihrer Stimme etwas Flackerndes, Atemloses. Mit Stekly, mit der Nedošinska und der Ondrakova, den beiden Alten, und Juhan, dem Gärtner, wurde sie häufig gerufen. Ljuba saß mit der Randova in einer Proszeniumsloge links. Die Bekannten wetteiferten in Komplimenten bei ihr.

Schandera ging hinter die Kulissen, um Manja, die schon wieder für die Straße angekleidet sein mußte, zu sprechen. Unter einer Sofitte, vor dem Schaltbrett des Beleuchters gewahrte er sie und Petera. Der Pianist küßte sie auf den Hals; ihre Skunksstola und ein Bukett weißer 84 Kamelien sanken ihr aus den Fingern. Sie wurde sich der Schritte bewußt, die sich näherten. Doch mit erheuchelter Sorgfalt stach sie in ihre Seidenbluse die Nadel der von einem stumpfgrünen Skarabäus überdachten Spange. Sie lächelte gelassen, und fest war unter den zusammengewachsenen Augenbrauen ihr Blick, als sie auf Schandera zuging.

 


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