Paul Wiegler
Das Haus an der Moldau
Paul Wiegler

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Kurz vor Neujahr verbreitete sich der Streik von Duhanitz über das Kohlengebiet von Kladno, und auch die Bergleute von Mährisch-Ostrau und Karwin machten Anstalten mitzugehen. In Blata bei Duhanitz wurden die Inspektoren fortgejagt, die Pumpen zertrümmert. In Satalitz steckten Aufrührer das Werksgebäude an. Truppen feuerten, und man konstatierte Tote. Die Zeitungen forderten den Sturz des Kabinetts Waldburg und die Einberufung des Reichsrats. Der Prager Landtag hatte schon nach dem Fest der Heiligen drei Könige eine Session. Es hieß, der Statthalter, Baron Lamboy, werde gehen und der Graf Bubna ihm folgen, der allen Parteien, selbst der rechten Gruppe der Sozialisten, genehm sei. Am siebenten Januar erhielt Schandera einen Brief des Hofrats Melichar, der ihn bat, ihn in der Statthalterei zu besuchen.

Die Kleinseite war an der Moldau von Nebel umschleiert. Über die Ecke des Malteserplatzes, bei dem Laden mit Gipsabgüssen des Jesuskindes in der Kirche Maria de Victoria, des gekrönten, puppenhaften Jezulatko, sprang der Nordflügel des Palais Bubna vor, und nun wurde seine ganze Fassade frei. Livrierte Diener schlossen lackschimmernde Wagentüren. Man sah durch ein Seitentor den Hof, einen Teil der französischen Gartenarchitektur, die Volière. Vier Wege strahlte das Rondeau um eine niedere Fontäne aus; und das Monument der Brunnenschale war eine langschenklige, ihren winzigen Busen pressende Nymphe. Im Hof spazierten der Graf und sechs Herren des konservativen und des verfassungstreuen 137 Großgrundbesitzes, darunter der Fürst Hohenwarth, ein eleganter Sechziger, der vornübergeneigte Baron Nadolny, der seinen Reichtum von großen Fabriken bei Königssaal hatte und seine Gesinnung durch Jahresspenden für die Matice Skolska bekundete, und der Pater Bellmann, der würdevolle und in politischen Dingen mächtige Abt des Stiftes Klostergrab. Fürst Hohenwarth redete, die Asche seiner Zigarette von seinem braunen Paletot stäubend, um dessen rechten Ärmel ein Trauerflor lag. Es hatte den Anschein, als ob der Pater Bellmann widerspreche. Der Baron Nadolny schob seinen Hut mit Heftigkeit gerade. Graf Bubna, den sie umringten, warf, so ließ sich vermuten, eines seiner launigen Worte hin; er klemmte sich das Monokel ins Auge. Nun drehten sich alle um und entfernten sich nach dem Hauptportal.

An den Laubenbogen der Thomasgasse vorüber sprengten die Pferde von Equipagen und zweispännigen Fiakern. Die Palais hier dienten jetzt als Unterkunft für Büros der Landesregierung. Tafeln hingen an den braunen Holztüren. Auf einem Portal stand grau der Hirsch des Sankt Hubert, ein goldenes Kreuz zwischen dem Geweih. In der von der Zeit geschwärzten Front des Waldsteinhauses verhüllten gespenstische Tücher die Parterrewohnung der Gräfin Adelgunde, die vor Tagen gestorben war. Schwarz träumten die alten Bauten am höher gelegenen, schrägen Fünfkirchenplatz; da oben war der Hradschin und der Garten des Theresianischen Damenstifts. In der Fünfkirchengasse vor dem Landtag scharten sich Abgeordnete und Publikum, Klerus, Bauern, Städter, Deutsche und Tschechen, einige von diesen in der Tschamara, der verschnürten nationalen Jacke. 138 Auch ein russischer Pope mit öligem Haar, in langen, schleppenden Frauenkitteln, hatte sich, wohl unter den Gästen der Journalistentribüne, eingefunden.

Im Torweg des Statthalterpalais, unter dem Fries der sieben Löwenköpfe, vor den steinernen Bänken, schwang der wie der Himmelsvater bärtige Portier, in Blau und Silber, den Goldknauf seines Stabes. Ein General in weißem Galarock, mit goldbordiertem, scharlachrotem Kragen, nahte vom Korpskommando. Trommeln wurden gerührt. Die unbesetzte Kutsche des Barons Lamboy wurde an der Brückengasse, durch die ein Demonstrantenhaufe anmarschierte, mit Pfiffen und »Abzug Lamboy« empfangen. Offiziale kamen aus der Statthalterei oder eilten drinnen über die weißen Treppen, über die gewachsten und mit grauen Leinenläufern belegten Verbindungsgänge.

Schandera gab in einer Kanzlei seine Karte ab. Man führte ihn in ein Zimmer im zweiten Stock mit einem Rokokoofen, der geraucht hatte, und einem Fenster gegenüber dem alten, gelben Landgerichtsgebäude. Der Hofrat Melichar trat aus einer Tapetentür, nach englischer Mode gekleidet, mit noch dunklem Spitzbart, und schüttelte Schandera die Hand. Er bat ihn zu sich auf ein Kanapee, ins Zwielicht des Tages und einer brennenden Gaskrone, unter die Bilder von Sternkreuzordensdamen und hohen Herren. Auf dem Tisch häuften sich Sportzeitschriften um die gerahmte Photographie des Siegers im Großen Preis von Kuchelbad.

»Sie wollen verzeihen, wenn ich gestört habe«, sagte der Hofrat Melichar. »Ein halbes Leben ist es her, daß ich nicht die Freude hatte, Sie zu sehen. Aber Sie sind noch 139 wie auf der Universität. Weißt du noch, wissen Sie noch, das Bankett zu Ehren Hayns, als er Landsmannminister geworden war, die Abende im Verein der Staatsrechtler und unsere Diskussion über Krapotkin? Sie waren wie er ein Idealist, lieber Schandera. Zum letzten Mal trafen wir uns wohl vor ungefähr zwanzig Jahren. Ich war damals schon Amtsleiter der Bezirkshauptmannschaft in Melnik. Erinnern Sie sich, ich war verlobt mit der Tochter des Czernin-Morzinschen Schloßvorstehers Holy, Fräulein Marketka, mit der Sie über die Töpferbauden nach Johannisbad gingen. Sie hat es mir erzählt, meine Frau. Und meinen Bruder haben Sie doch auch gekannt, den Ingenieureleven beim Grafen Schönborn. Er wird morgen Sektionschef im Eisenbahnministerium. Denn soeben waren Staatsgespräche zwischen Prag und Wien. Morgen wird Waldburg demissionieren, ein Beamtenkabinett Clary wird ernannt, Graf Bubna wird im März zum zweiten Mal Chef der Landesregierung.« Schandera entsann sich des Riesengebirges, der grünen Tannen, der kalten Quellen, eines unendlichen schwarzen Gewitterhimmels, der vier Kuppeltürme auf dem Morzinschen Schloß, des Sees im Park, der mehrstündigen Tour und der Bootsfahrten mit einem schlanken Mädchen, dessen spitze Knie ihn, den jungen Konzeptspraktikanten, erregt hatten. Er durchschaute die Geschicklichkeit dieses Strebers zu lavieren, Tendenzen sich anzupassen, die er dann verhöhnte, seine Kunst, schwarzgelb und dennoch national zu scheinen. Und er fürchtete das Lächeln des anderen.

Der Hofrat Melichar redete weiter über die Ziele, die der neue Kurs haben werde. Die Parteien des Reichsrats 140 würden nicht dieselben bleiben. Die Monarchie werde ihren slawischen Völkern entgegenkommen, nicht mehr dualistisch sein, sondern trialistisch. Aber wie damals, als man das allgemeine Wahlrecht geschaffen habe, erwarte man eine Beruhigung in dem von zwei hochkultivierten Volksstämmen bewohnten Lande Böhmen. »Die Partei der Intelligenz«, sagte er, »wird nicht die der Doktrinäre sein, sondern alle aufbauenden Kräfte umfassen. Den Drang über die Grenzen hinaus wird sie durchsetzen helfen, die Politik der Macht, der Zukunft, na ja, au delà de Mitrovica, das ganze Werkel. Aber nun werden Männer gebraucht, die sich von den zerfallenden Fraktionen losgelöst haben, die als Eingeweihte sie beobachten. Da denken wir, Herr Doktor Schandera, auch an Sie. Ihre Tätigkeit bei der Grundbank ist doch sicherlich nur ein Notbehelf. Oder ist es Ihr Wunsch, für immer ein reuig kuschender Angestellter des Doktors Hynais zu sein? Sie werden unser Referent über die Vorgänge im Parteileben, das niemand mit solcher Schärfe des Geistes durchdrungen hat wie Sie, nehmen Aufträge von uns an und liefern uns schriftliche und mündliche Informationen. Aber das hat in keinem Betracht etwas mit der Polizeiverwaltung zu tun. Wir subventionieren Ihr Rechtsarchiv, und Sie werden als Professor geführt. Sie haben materielle Unabhängigkeit und können Ihre soziologische, wie sagten Sie doch damals? Begriffskritik ausgestalten. Wir sind nicht mehr jung, lieber Freund, das Alter rückt näher, ist das nicht ein Vorschlag, der sich hören läßt?« Schandera wollte sich brüsk gegen diesen Ton auflehnen, gegen diese abschätzende Vertraulichkeit. Da stellte der andere schon die Frage: »Ja, wie ist jetzt Ihre Existenz, und was 141 etwa würden Ihre Bedingungen sein?« Schandera sagte: »Ich kann Ihnen heute nichts erwidern, Herr Hofrat.« Die Augen schmerzten ihn vom Zwielicht, es war ihm, als gebe es keinen Rückzug, seit die Worte in der von dem Ofenruß wolkigen Luft standen. »Sie haben Zeit, Herr Doktor«, entgegnete der Hofrat Melichar. »Und natürlich wahre ich volle Diskretion über Ihren Besuch, wie Sie darüber schweigen werden.«

Schandera sammelte sich in der Elektrischen, die um den Kleinseitner Ring bog und die noch an der Franzensbrücke leer war. Er schrak auf, als ein Durcheinander von Stimmen den Wagen erfüllte. Er blickte um sich: den Platz neben der Klapptür des hinteren Perrons hatte der Regimentsarzt Dr. Körner, der ihn nicht sah und vor ihm an der Ursulinengasse abstieg. Schandera fuhr bis zum Platteis, bis zu der Kunsthandlung, die von der Konkursmasse Sauerweins erworben hatte, was aus der Wüstenei seines Ateliers gerettet worden war, Ölskizzen, Pastelle und Zeichnungen. Es waren Meerszenen, zu einem Teil noch in Sauerweins früherer Art, mit mythologischer Staffage. Aber die Fabelwesen verschwanden, und schrill, gewaltsam entlud sich das Licht. In dem grellen Ultramarin, das dem Ausbruch der Bora voranläuft, spritzte die Flut. Mit Büscheln von Chromgelb, Weiß und Grün steilte sich das Felsenpanorama unter einer fanfarenroten Sonne. Jedoch in diesen Orgien wurde das Zittern der Krankheit fühlbar, des erschütterten Willens. Die Blätter zeigten Motive von der Adria, Opuntien und dornige Agaven zwischen Ruinen, Türme, umwucherte Stadttore, Köpfe zerlumpter Arnauten, Möwen, Delphine, fliegende Fische, aber auch bizarre Zerstreuungen einer 142 innerlich toten Phantasie. In einem Winkel entdeckte Schandera das nur vorbereitete Gemälde eines Mannes, der mit dem Antlitz eines Gehetzten in einem Sessel kauerte. Das war er selbst, und das dort, die Hand an der Geige, in violettem Schatten, Manja. Schritte störten ihn; kaum vermied er die Roubiček, die im Schwarz der Witwe mit dem Kunsthändler durch den Laden hin und her ging.

Vor dem Hotel Blauer Stern warteten zwei Autos. Detektive schoben sich hinter die Wachleute, die die Passanten nicht vorwärts ließen, bis ein Offizier mit goldenem Kragen unter dem Mantel und sein Adjutant sich von ihren Begleitern verabschiedet hatten. Der Offizier war nicht ohne Korpulenz, in den Vierzig, mit dem gestrafften, dicken Schnurrbart eines Wiener Oberkellners und zornigen, schweren Augen. Jemand in der Menge rief: »Hoch«. Drei Stunden war der Erzherzog in Prag gewesen, er begab sich zurück nach Konopischt. Die Passanten verliefen sich. Am Grabenkeller begegnete Schandera dem Polizeikommissär Okoun, der in Uniform bei einer Laterne stand. Er grüßte ihn mechanisch. Staunend und übermäßig tief erwiderte Okoun den Gruß.

 


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