Paul Wiegler
Das Haus an der Moldau
Paul Wiegler

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32

Noch im Mai kehrten sie mit Erik zurück. Sie hatten wieder ein Halbkupee, das der Kondukteur am Franz-Josefs-Bahnhof absperrte. Alle Waggons waren voll, und oft wurde die Klinke gerüttelt. Kurz vor der Abfahrt eilte Schandera zum Büffet des Perrons, um für Ljuba und Erik, der freudig seiner harrte, Obst zu nehmen. Ein Passagier der zweiten Klasse in Reisemütze und einem wulstigen Sportanzug stand hinter ihm und belästigte ihn mit seinem Atem. Sadovsky war es. Schandera sah, wie der Konfident sich lahmenden Fußes zu dem Zeitungsverkäufer umdrehte. Jedoch Schüler in Leinenjoppen mit Messingknöpfen, aus einem Pensionat oder Waisenhaus, schoben sich vor ihn.

Bis Sigmundsherberg, bis Gmünd brannte mit stechenden Strahlen die Sonne des Nachmittags. Dann trat sie hinter Gewölk, und Staubwind kreiste über den Fischteichen Südböhmens, über Wiesen und Chausseen. Auf den Stationen, wenn das Gestampf der Räder schwieg, grollte ferner Donner. Blitze schossen hernieder. Aber der Regen, der die Dächer der Dörfer peitschte, verprasselte, und wieder stach durch den Vorhang die Sonne. Erik lag, sein Blick ließ nicht von der Landschaft. An einer Waldlisière bei Beneschau rannte ein hellhaariger Hund, immer mit dem Zuge mit, und sonderbar war es, wenn er aus jedem Busch, nach jeder Wegbiegung wie behext von neuem emporzuschnellen schien. Ein anderer stürzte ihm nach, von der gleichen Größe und Art, mit dunklem Fell, ein unerbittlicher Verfolger. Niemals wurde der Zwischenraum zwischen den beiden Tieren 202 geringer, obwohl es um Tod und Leben ging. Da erlosch der blendende Schein, und mit ihm verschwand der dunkelhaarige Hund. Er war nur der Schatten des anderen, der zwischen Gänseherden in einen Bauernhof einlief, gewesen.

Die Ankunft in Prag, am Riegerkai, war für Erik wie Befreiung. Er schlummerte, von Ljuba und Pepi gebettet, die ganze Nacht hindurch, bis in den späten Morgen. Er verbrachte den Tag auf dem Balkon so heiter, als gesunde er. Die Dämmerung begann. Über den Kai kam mit Laternen von alter Schmiedearbeit eine Infanteriekapelle, die den Radetzkymarsch spielte; das war an diesem einundzwanzigsten Mai der Aspern-Zapfenstreich. Am Tage danach hatten Kinder einen Kostümtanz auf der Sofieninsel. Sie eilten hin, als Schäfer und Schäferinnen mit Holzstäben oder Chevaliers und Marquisen mit gepuderten Frisuren; und ihre dünnen Stimmchen sangen tschechische Reigen. In der ersten Juniwoche führten Ljuba und Schandera, weil Erik sehr bat, ihn selbst hinab zum Ufer und auf die Insel. Sie saßen mit ihm unter einer der breiten Buchen vor dem Restaurant. Rosen von bläulichem Rot dufteten, Teerosen, knospende Nelken, Aurikeln, Levkojen, Azaleen; und es war so still, daß man den leisesten Amselruf hörte. Sie gingen zurück, Erik an beiden Seiten von seinen Eltern untergefaßt. Aber die Stirn näßte ihm der Schweiß der Kraftlosigkeit, und er erschrak vor der Neugier der Passanten, die ihm und Ljuba nachstaunten.

Zwei Mal konnte er diese Ausflüge unternehmen; beim dritten Mal knickte er vor dem kleinen Steg um. Hinfort war er wieder an das Haus gefesselt, an das 203 Balkonzimmer und an das Bett, das hier für ihn aufgestellt wurde. Er sah von droben dem Treiben der Menschen zu. Bald war es ein gellendes Vorüberjagen der Feuerwehr, bald der Sonntag mit den Signalen der Dampfer, deren Ziele sich ihm nun in märchenhaften Ländern verloren, bald an der Ecke der Zusammenstoß eines Sandkarrens mit der Straßenbahn, das Geklingel des Eismanns oder ein Aufmarsch von Sokoln. Auch Begräbnisse gab es, das einer Unverheirateten, die keusch gestorben war, in weißem Sarg, die armselige Familie dahinter, das eines Professors mit dem Rektor im Purpurtalar und den bärtigen Pedellen oder ein militärisches Funus, die Bestattung eines Generals. Schwarz waren der Wagen mit den Blumenspenden und der Leichenwagen, dessen Knauf einen schwarzen Roßschweif trug, als ruhe in dem schwarzlackierten Zink ein Pascha. Ein Soldat in schwarzem Harnisch und Helm mit dräuendem Visier wie auf heraldischen Gobelins ritt vor dem Kondukt. Und es blieb für Erik, wenn die Abende die Aussicht verdüsterten, der ungeheure Himmel mit seinen zerfließenden Wolken, rechts in silbrigem Grün, links violett; und als der Juli angefangen hatte, über dem grauen Hradschin die Pracht der Gewitter.

Es war, auch der Großvater schrieb es aus Agram, einer der trockensten Sommer seit Jahren. Die Hitze dauerte an, bis die Nacht hereinbrach; und dann hockte die Schwüle noch immer in den Wohnungen. Um Erik nicht zu verlassen, warteten Ljuba und Schandera, bis das Geräusch, mit dem er die Luft einzog, ganz gleichmäßig geworden war. Dann schlichen sie sich hinaus zur Moldau. Die Akazien, deren Geruch den Franzenskai 204 überschwemmt hatte, waren verblüht, der Mond malte die Umrisse ihrer Blätter und ihrer Fruchtdolden auf das Trottoir. Die Lichter der Karlsbrücke funkelten, der Veitsdom wuchs in die Unendlichkeit. Auf den Bänken räkelten sich Einsame. Burschen, die ihre Jacken über das Kaigitter gehängt hatten, legten sich an die Schultern und in den Schoß der Mädchen, schwatzten und lachten. Der blinde Kilian, der greise Modellsteher, der dem Sankt Petrus oder sonst einem Apostel der Armut glich, pochte mit dem Bambusstecken gegen die Steine. Sie kamen um zwölf nach Hause. Pepi schlief schon. Auf den Fußspitzen näherten sie sich Erik. So behutsam sie waren, er erriet ihre Anwesenheit und richtete sich jäh empor. »Geht ihr fort?« fragte er. Er hatte seit Stunden geschlummert und beharrte bei dem Irrtum, es sei nicht später als acht oder neun Uhr. Furcht war in seinem Ton und in seinen tiefen Augen.

Der September kündigte sich mit Wetterkatastrophen an, und als sie sich ausgetobt hatten, war es Herbst geworden. Man mußte die Fenster geschlossen halten, so kalt wurde es. Erik übersiedelte von dem Balkonzimmer in sein Kabinett. Er las wieder viel, oder er träumte stumm, unter manchen Tränen. In einem Haus der Myslikgasse, in das man schauen konnte, und von dem durch die Querwand hindurch das Klopfen und Klirren eines Bügeleisens zu hören war, kratzte ein Gesell, wohl ein Flickschneider, auf einer miserablen Geige. Nie gelangte er über die ersten Takte von »Děvčátko hezky« hinaus; dann meckerte er mit dem Grinsen der Verblödung.

Oft schlüpfte Pepi zu Erik. Sie war ihm mit schonender Zärtlichkeit zugetan, und er blickte nach ihr, wenn sie die 205 Lampe für ihn anzündete oder einen Teller, ein Glas auf den Tisch setzte. Auch sie mußte ihm von ihrer Heimat erzählen, von dem Schloß in Mähren, in dem ihr Vater Gestütwärter und gräflicher Kutscher und ihre Mutter Köchin war, von dem Interesse des Alten für Deichseln, Achsen und Räder und für die Adelspalais in Wien und in Prag, von den Hetzen auf Kastelwild, auf eingefangenes Hochwild, nach denen die Herrschaften im Forsthaus gespeist hatten und das Gesinde sich um die Reste raufte, um Gulaschstücke oder Makkaroni; von dem kleinen Märzhasen, den der Vater zusammengekrümmt in den Hufspuren eines Schimmels fand und der sich unter sein Wams schmiegte. Die Mutter hatte bei dem Fürsten Starhemberg gedient und war frömmer als der Vater; sie war auch überzeugt, daß der Teufel die Sünder im höllischen Feuer siede. An Sommertagen streifte Pepi mit ihr durch den Wald nach den gelben Schwämmen, mit denen sie ihre Henkelkörbe füllten, und die Mutter kochte Schwammerln mit Ei; und Pepi lernte den braunen Steinpilz von dem braunen Satanspilz unterscheiden, dessen fettes Fleisch giftig war wie Aas, und den sie zertrat wie den Fliegenpilz mit der roten, weißgesprenkelten Kuppe. Erik sah Pepis Hüften, ihre Kehle, ihre Wangen, durch deren Haut das junge Blut rann; noch waren es nicht seine Sinne, die sie suchten, aber ihre Wärme beglückte ihn. Einmal fragte er sie, ob sie einen Schatz habe. Sie sagte, daß sie schon mit einer Freundin, der Tochter des Hegers, bei den Brombeersträuchern gewesen sei, zu denen sich die Größeren in den Samstagnächten bestellten; aber sie habe sich zornig gesträubt, so seltsam sei es dort zugegangen, und durch den 206 Schloßpark sei sie zurückgeflohen. Erik haschte ihre Hände. Nun war er gewiß, daß er sie, wie es in den Büchern geschildert war, und nicht bloß als seine lustige Pflegerin liebe.

Einmal hatte ihm Schandera Abbildungen von Malerei erklärt, das venetianische Rosenkranzfest von Dürer aus dem Stift Strahow, die Jungfrau mit dem Jesuskind und den Engeln, dann den Paradiesvogel und die Kamelien von Švabinsky, das Marienlied von Uprka, den Fischmarkt von Schwaiger; und Erik hatte das satinierte Papier angestarrt, als wolle er diese irdischen Farben und Schwingungen für alle Ewigkeit in sich saugen. Es war Abend; bald erkannte man nichts mehr. Schandera glaubte, Erik huste nicht, weil seine immer dumpfere Ermüdung ihn überwältigt habe. Im letzten Licht betrachtete er ihn. Dann schüttelte er den Kopf und schlug sich stöhnend gegen die Brust, ohne Manneswürde. Erik sprach: »Was ist dir denn?« und die Augen, die er keinen Moment zugedrückt hatte, heftete er auf den Vater.

Für die Redaktion des Rechtsarchivs, nicht für die politischen Dokumente, brauchte Schandera einen Juristen, der seine Schreibmaschine bei ihm ließ. Hin und wieder raffte Erik sich hoch und erprobte mit ungelenken Fingern die für ihn neue stählerne Klaviatur. Er hatte in dieser Oktobermitte sich einen Band über deutsche Heldengeschichten gewünscht, über den gehörnten Siegfried, Dietrich von Bern und die Nibelungen, ein paar Absätze daraus schrieb er sich auf Zettel, die er in einer Lade verbarg, weil sie noch voller Fehler waren. Nun durfte er nicht mehr aus dem Bett. Eine Karmeliterin, eine Matrone in schwarzen Röcken und weißem 207 Hut, die Schwester Terezie, mußte zu ihm kommen. Seine Beine waren dürr, ohne Säfte, wie Werg seine Locken, von Fleisch entblößte sich sein Gebiß. Er wies seinen Dulderkörper: »Das sind nun meine Glieder mit siebzehn Jahren.« Dr. Brandeis beaufsichtigte, untätig bis auf Rezepte für lindernde Opiumpulver, den Verfall des Kranken. Von Dr. Geyer gesendet, erschien der Dr. Kafka aus Duhanitz, um nachzuprüfen. Er beschäftigte sich weniger als mit Eriks Zustand mit dem Herzleiden Ljubas und empfahl sich unter hundertfachen Höflichkeiten.

Am ersten November, gegen Mittag, als die Schwester Terezie in ihrem Kloster war, hatte Erik eine Ohnmacht. Ljuba riß von ihrem Toilettenkästchen einen Spiegel, Feuchtigkeit beschlug ihn. Es sei ihm so wohl gewesen, versicherte Erik, wie seit Wochen nicht. Aber dann klagte er, wo er seine Füße habe. Er erinnerte sich: »Heute ist ja Allerheiligen.« Der zweite November war Allerseelen. »Drunten wallfahrten sie jetzt zu den Toten«, sagte er, als die Straßenbahnen nach Smichow an der Kreuzung stockten, mit unförmlichen Asterngewinden über dem Schutzblech wie jedes Jahr. Die Glocken der Adalbertskirche weihten den Abend. In der Dunkelheit bettelte er, man solle ihn wieder nach vorn in das Balkonzimmer bringen; in dem Kabinett finde er keinen Schlaf. Das Balkonzimmer ließ sich nicht heizen; der Wind preßte sich an die Türen. Pepi und Schwester Terezie schichteten Polster im Speisezimmer. Die Nacht war lang und bang.

Gegen eins standen Ljuba und Schandera an Eriks Lager, durch einen Schrei von ihm verstört. Er hatte, so sagte er ihnen, eine Phantasie gehabt, eine schwarze Gestalt hatte sich vom Ofen her auf ihn zubewegt und die 208 Tasse mit Milch und Sodawasser, wonach er schmachtete, ihm umgegossen. Er rührte sich noch im Zwielicht des Morgens nicht. Keine Lampe durfte gelöscht werden. Schandera lauschte dem kaum vernehmbaren Blasen des Mundes, das manchmal so klang, als ob es aus einem Brunnen in ein Becken tropfe. Der Gong der Uhr hallte acht Mal, da seufzte Erik. Nach zehn Minuten regte sich das bißchen Speichel, das irisierend an den ganz weißen Lippen hing, nicht mehr. Schandera umarmte Ljuba. Er hemmte die Zeiger der Uhr. Die Karmeliterin strich mit erbarmenden Fingern über Eriks Augen. Pepi kniete betend auf den Fliesen der Küche.

Schandera wankte hinüber in das Kabinett, um die Sachen des Gestorbenen, die ihm wert gewesen waren, einzusammeln. Es waren seine Bücher, ein paar Familienphotos, ein paar Briefe von den Großeltern und von Manja, in der Kommode Reiseandenken an Grado, den Kraljevec und Baden und in der untersten Schublade jene Zettel, die er, daneben greifend und fehlerhaft, mit den Maschinenlettern beschrieben hatte. Einen las Schandera: »Der Knabe Siegfried ward groß und stark, gab nichts auf Vater und Mutter, sondern dachte nur darauf, wie er ein freier Mann werden möchte. Er machte damit seinen Eltern große Sorge, und der König pflog mit seinen Vertrauten Rat, wie man den Knaben in die Fremde ziehen lassen könnte, wo er etwas zu bestehen hätte, ob nicht vielleicht noch ein tapferer Held aus ihm werden könnte. Aber Siegfried konnte die Zeit nicht erwarten, bis ihn der Vater ausgestattet hätte, sondern er ging ohne Urlaub davon, seine Abenteuer zu versuchen. Indem er nun durch Gehölz und Wildnis zog und der Hunger und 209 Durst ihn quälte, sah er an einem dichten Walde ein Dorf liegen und richtete seine Schritte danach. Zunächst vor dem Dorfe wohnte ein Schmied, ihn sprach Siegfried an, ob einen Jungen oder Knecht er nötig habe, denn er hatte zwei Tage nichts gegessen. Nach Hause zurückzukehren schämte er sich, und der Weg war auch sehr weit.« Die letzte Zeile senkte sich wie in todestrauriger Entmutigung.

 


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