Paul Wiegler
Das Haus an der Moldau
Paul Wiegler

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25

Bis in den August hörten sie nichts mehr von Manja. Sie wußten, daß sie in Bamberg gewesen war; und sie hatte einmal die Rokokologen des Theaters beschrieben, den Schillerplatz, zu dem die Abonnenten durch das Gäßchen des Zinkenwörth schlüpften, das Rathaus inmitten der Regnitz mit den Heiligen der Prager Karlsbrücke, das erhabene Schweigen des Domplatzes. Sie malte sich selbst in der Konditorei am Grünen Markt mit einem blauen Tagalhut, ein Exemplar von Strindbergs »Kameraden« vor sich; denn sie hatte die Bertha gespielt. Nun wollte sie nach München. Sie hatte sich an den großen Direktor in Berlin gewandt; er hatte nicht geantwortet. Ljuba war, noch immer beurlaubt, wieder in Kaltenleutgeben. Erik verlebte seine Ferien bei den Großeltern in Agram; und jetzt holte Schandera nach fünf Wochen ihn ab.

Er kam über Linz und Laibach, an einem 155 Freitagabend. In einer seltsamen Bangigkeit wollte er erst am Morgen nach dem Kraljevec hinausfahren. In einem provinziellen Hotel beim Bahnhof logierte er sich ein; dann schritt er durch die Ahornallee des Zrinyiplatzes, in der die Blätter niedertaumelten, längs der Museen, der Büsche, der welkenden Rondeaux, dem Jellatschitschplatz zu. Die Rollbalken rasselten. In einer Kavana gegenüber dem Spital fiedelten Zigeuner aus Budapest oder Ujvidek. Ein paar Leutnants schlenderten durch die Ilica und wünschten sich vor dem »Jägerhorn« nach Wien. Der bronzene General Jellatschitsch ritt seinen Gaul und hob den Arm gegen die Front der oberen Stadt. Schandera ging die Straße zur Linken hinauf. Ein altes, massiges Torhaus, unterhalb der Mauern und Bäume der Strossmayer-Promenade war der Durchlaß. Weihkerzen flimmerten in dem Gewölbe vor dem Schrein der Majka Boska, ein Küster kratzte die Stümpfe der zerronnenen von einer Platte, in Drahtgeflecht staken die papiernen Gelübde. Vor der Rampe des Korpskommandos, neben der Katharinenkirche, schulterte der Wachtposten das Gewehr. Auf einem plätschernden Brunnen war ein negerhafter Fischer postiert, der ein Netz hatte und eine Schlange erwürgte. Der Palast des Banus schlummerte, einstöckig, gelb, mit weißen Jalousien. Diese Gassen erinnerten an den Hradschin. Aber in einer von ihnen bespülten die Strahlen roter Laternen die Nummern geschlossener Häuser.

Am Jellatschitschplatz drunten, quer zur städtischen Sparkasse, verhießen Plakate ein Kabarett. Es war in einem luftlosen Hotelgarten. Schandera trank gegen seine Gewohnheit, um bis Mitternacht müde zu werden. Das 156 Kabarett hatte einen zerrütteten Conférencier. Zögernd, da fast niemand sich einfand, bat er in krampfhaftem Operettendeutsch die Gönner um ihre Gunst und sagte, er werde dies und das bringen. Er brachte dann vor der Dekoration der Sommerbühne Anekdoten, die der Kapellmeister auf zwei Klavieren illustrierte. Die blonde Ungarin Körmöcz Rozsika hatte ein Couplet »Ujje, a ligetben nagyszerü, ujje, a ligetben jó!« Hierauf schrie sie »Jaij, mamám!« und setzte sich apathisch zu einem Paprikahuhn. Ein bösartiger Bauchredner schüttelte zwei Puppen, eine männliche, eine Tiroler, und eine weibliche mit Husarenkalpak, und ließ sie in parodistischem Deutschenglisch, zur Rache für ausstehende Gage, die Lokalität und die Damen des Ensembles beschimpfen. Die Hernalserin Gisa Bardi wies auf eine baufällige Laube, die ein paar Reisende und in Zivil die Leutnants aus der Ilica sich streitig machten, und befeuerte die Herren mit der Erklärung: »Adam ist schuld daran.« Ein Damenimitator mit rohem Gesicht schwenkte Dessous, eine Mulattin cakewalkte waagerechten Steißes. Ein junger Komiker imitierte Eisenbach. Eine Liedersängerin in silbernem und resedagrünem Changeant, verhungert und verbraucht, die der Conférencier Ria Rita genannt hatte, sang die Paloma. Sie war, wenn sie sich ins Haar griff, wenn sie die Stirn faltete, wenn sie melancholisch lächelte, beinahe eine Schwester Manjas. Aus dem Abflußrohr unter der Küche des Restaurants trippelten Ratten ihrem Loch zu. Die Hernalserin sang: »Du hast so was Gewisses, nun sag' mein Schatz, was is es?« Der Conférencier kündigte an, im Salon des ersten Stocks sei nach der Vorstellung cercle privé.

Am Morgen war auf dem Jellatschitschplatz 157 Wochenmarkt. Durch die bergigen Gassen trieben Bauern und Bäuerinnen in rotbestickten leinenen Mänteln und Kitteln ihre Karren mit den langgehörnten Ochsen. Die Händler luden Geflügel ab. Je zwei Gänse, Enten, Hähne oder Indiane waren an den Pfoten zusammengeschnürt. Die Händler holten sie aus den Holzkäfigen und zerrten, um ihre Vortrefflichkeit darzutun, das Gefieder auseinander; die Tiere schmachteten, die Augen verdrehend, in der Sonne. Schandera ging den Dolać hinan nach dem Kaptol, dem Domplatz. In der Backsteinloggia war die Knjizara des Sankt Anton, vergoldet strebte mit vier goldenen Engeln die Mariensäule auf. Noch sproßte das Gras am Gemäuer um den Park des Bischofspalais, noch waren drinnen, hinter dem Portal zu der Altane, die Palmen und eine morsche Bank, einst Schanderas Bank und Ljubas. In der Wälschen Gasse unterhalb des Palais hingen über den Türen der Trödler alte Schuhe, alte Garderobe; Stiefel, Regenschirme und Kappen harrten über Jahre hin geduldig der Käufer. Der Wirtschaft zur Fröhlichen Anka entquoll der Dunst von gebratenem Lammfleisch. Vorn an der Bakaceva war eine dürre Anlage mit letzten weißen Rosen.

Schandera nahm eine Droschke nach dem Kraljevec. Eine halbe Stunde; dann war sie im herbstlichen Wald, dessen Stämme über einen versiegten Bach ragten. Tagelöhner gruben ihm ein neues Bett, Kinder spielten in der grüngelben Dämmerung. Es begann eine Höhe mit Landhäusern, Zwetschkenbäumen, Pflanzungen von Kukuruz. Die Droschke konnte nicht hinauf; Schandera entlohnte den Kutscher. Ungleiche Stufen begannen, Hütten an einem Weg, der mit Koksresten bestreut war. 158 Und über den Rücken der Höhe zog sich ein großer Weingarten. Schandera schob sich durch eine Luke des Zauns. Ein Wolfshund sprang ihm entgegen und bellte dröhnend. Aber er wedelte um die Opanken eines graubärtigen Mannes in zerlumptem Rock, eines Weinhüters, der an einem Trog mit blauem Kupfervitriol gegen das Licht sah. Und eine rauh umschlagende junge Stimme erscholl in maßloser Freude, die Stimme Eriks.

In der Hitze hatte er sich ausgestreckt unter den Ranken reifender Kürbisse. »Ein Paradies ist hier«, sagte er. »Oh, es geht mir so gut.« Er zeigte auf Eidechsen in den Ritzen des Gesteins, auf Schnecken, deren zäher Saft glitzernde Bahnen hinterließ. Der Wolfshund umschnoberte Schandera. »Das ist Junak, der Starke«, sagte Erik, »und der Graubart unser Franjo.« Von dem Gebäude, das den Horizont begrenzte, näherte sich eine Frau, auf einen Stab gestützt, mit schwerem weißem Haar, in schwarzem Krepp, Jelena Gjalska, Ljubas Mutter. Gjalski folgte ihr, ein Siebzigjähriger in Hemd und Militärhosen, die Hand im Gürtel, mit lohbrauner Haut und kahlem Schädel, verwittert, naturhaft, um den Mund listige Heiterkeit. Sie empfingen Schandera, lobten in zärtlichen Worten Erik, waren eifrig von Ljuba und von Manja zu hören und bewirteten den Gast in einer getäfelten Stube des Erdgeschosses, durch die zwei Mägde mit Krügen und Tellern liefen.

Der ehemalige österreichische Major Josip Gjalski war ein Liebhaber der Guslen und Bugarijen, der nationalen Gitarren; und auch die Kugelbüchsen an der Wand, die inkrustierten Pistolen, Handschare, die in eine Ohrmuschel von weißem Knochen endeten, eine Pala, ein 159 Krummsäbel, ein Makatteppich, ein Minder, der ein Polster von Schafwolle war mit Überzug von Samt und Seide, eine Truhe aus Nußholz, ein messingener Ibrik zeugten von seiner Verbundenheit mit bosnischen Garnisonen. Im Keller türmten sich Weinfässer. Er ließ nicht ab, den betäubenden Erdduft seiner gegorenen Schätze zu preisen und von der Lese zu sprechen, die in etwa zwei Wochen anheben werde. Vorbereitet war alles, Traubenmühle, Raspel, Butten, Schläuche und Kelter.

Der Mittag wurde hochsommerlich. Neben dem Weingut lag eine Wiese, die Gjalski an ein befreundetes Ehepaar vermietet hatte, und Erik bat Schandera, die Professorin mit ihm zu besuchen; der Professor sei nach den Litvicer Seen gefahren. Anna Dipauli, jugendlich behend in einer kroatischen Bluse, trat an die Dornenhecke und blickte Erik mit großen Augensternen an. Sie zeigte vom Wiesenrand aus das Gebirgspanorama des Sljeme und im Dickicht die Hütte, die sie sich gebaut hatten, ein primitiv gezimmertes Blockhaus, mit Raum fast nur zum Ruhen. Bienen und Hummeln sammelten die Blütensäfte ein. Mitten im Gras stand eine Badewanne. Anna Dipauli, eine Wienerin, fragte Erik, wie hier unter dem Volk und wie in Böhmen Granatapfel heiße, Himbeere, Mirabelle oder Melone; und er sang ihr mit gebrochener Stimme ein Lied vor, wie sie Ajkuna, eine der Mägde, ihn lehrte: »A do sutra zelena travica«, »und morgen der grüne Rasen.« Lachend warf er sich dann neben ihrem Rohrsessel hin. Sie fächelte ihm mit ihrem Taschentuch die Stirn, bis er einschlief.

Als es dämmerte, saßen sie alle vor dem Haus. Miljutin, der Pförtner, der an der Waldstraße nach 160 Medvedgrad wohnte, lieferte dem Gospodar, dem Herrn, die Schlüssel ab; und Gjalski erzählte, die Bauern hätten einen Hühnerdieb getötet, einen Vagabunden, der seit Wochen durch die Gegend gestreift sei und die Ställe beraubt habe. »Gestern haben sie ihm aufgelauert und ihn abgefaßt, wie er Reisig anzündete, um ein Huhn zu rösten; vier mit durchschnittenen Kehlen verbluteten noch hinter ihm. Mit Knüppeln haben die Burschen ihn erschlagen. Das ist, so behaupten sie, ihr Recht. Nie wird ein Gendarm die Täter finden können.« Wegen der stechenden Gelsen mußte man hinein in die Stube. »Und wißt ihr«, begeisterte sich Gjalski bei rotem Wein, »die Geschichte Miljutins?« Er sei ein Serbe aus dem Königreich und ein Verwandter des drüben regierenden Geschlechts, der Urenkel eines Karageorg, den sein Bruder, der Held, mit eigener Hand hingerichtet habe. »Er hatte eine sechzehnjährige Türkin vergewaltigt, und keiner wollte ihn hängen. Der Bruder, den sie fürchteten, schleppte ihn zu einem Ast, band ihm einen Strick um den Hals, stieß einen Stuhl unter ihm fort und strafte ihn nach dem Gesetz. Ist das nicht wie bei den homerischen Völkern?« Er gab Schandera, dem Erik triumphierend das verblichene Mädchenbild Ljubas mit den bebänderten Zöpfen aus der Truhe herausreichte, seine älteste Weinsorte zu kosten. Ab und zu vernahm man durch die offenen Fenster, über den Hang hinweg, aus dem Restaurantpark Tuschkanec Musik.

Erik war schon in seiner Mansarde. Jelena Gjalska redete mit Schandera, nur flüsternd über Ljubas ferne Zeit in Agram: »Oh, warum ist es dann so anders geworden? Ich kann nicht mehr reisen, ich werde sie nicht 161 mehr sehn.« Gjalski tauschte mit Anna Dipauli einen Kuß, so versicherte er mit schwerer Zunge, der Freundschaft. Er pfiff dem Wolfshund und horchte, da das Tier nicht kam, in die helle Nacht. Dann entschloß er sich, es noch bei Franjo, dem Weinhüter, bei dem es vielleicht war, zu suchen. Schandera sollte ihn um das Haus begleiten. »Er wird euch sterben, euer Sohn, ich kenne das«, sagte er. »Und doch ist nichts so einmalig wie das Leben.«

Schandera blieb an der Hecke und fühlte die Dornen, die Blätter, den toten Sommer, über dem der Mond glänzte. Auf der Wiese klatschte Wasser. Er sah hinüber; der hüllenlose Körper eines Weibes regte sich, Anna Dipauli badete. In der beleuchteten Mansarde zeichnete sich ein Kopf ab, der spähende, schmale Kopf Eriks.

 


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