Paul Wiegler
Das Haus an der Moldau
Paul Wiegler

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Die Straßenbahn ratterte durch die rußschwarze Florenzgasse unter dem Eisenbahnviadukt hinweg, nach der Vorstadt Karolinenthal. An der zweitürmigen Kirche der Apostel Cyrill und Methud stieg Schandera vom Trittbrett. Menschen umlagerten die Žižkagasse neben den 67 Bahngeleisen, am öden Hang der von Schnee überwucherten Žižkakuppe, auf der ein zerbrochenes Salettl stand. Polizisten hatten ein Haus durch einen dünnen Kordon abgesperrt. Im dritten Stockwerk erschien an einem offenen Fenster der Steueroffizial Hruby, der Geisteskranke, über dessen Kampf mit den Behörden seit Tagen die Zeitungen Artikel brachten. Hohlwangig, schlotternd, in einem alten Winterrock, ein rotes Cachenez um den Hals, war er dort zu sehen. Er hatte damit begonnen, daß er seinem Dienst in regellosen Briefen entsagte, seine Zimmertür verrammelte und aus einem Lefaucheuxrevolver auf die Mitbewohner schoß. Feuerwehr war gegen ihn alarmiert worden und hatte von einem Hydranten einen Schlauch durch alle Stockwerke bis vor seine Tür geschleift. Er verwahrte sich brüllend. Noch wollte die Zahl seiner Patronen nicht geringer werden. Als die Tür mit dem Drillbohrer durchlöchert war und ein Wasserstrahl gegen ihn gezückt wurde, sprang er rasch zur Seite. Dazwischen warb er vom Fenster aus mit höhnenden Prahlereien um die Gunst des Volkes. Er erklärte, bei Sinnen zu sein, er winkte den Tausenden, indem er ein Leintuch als Fahne schwang, und das Volk empörte sich gegen die Gewalt, die es vermutete. Jetzt rüstete die Polizei eine letzte Unternehmung.

Schandera wandte sich zu dem Gebäudeblock an der Kollargasse. Er trat in das vierte Haus ein, in dem ein Greislergeschäft war mit Bunden von Zwiebeln, mit Seifen, illustrierten Postkarten und das Schnapsdebit von Löw und Taussig mit Flaschenbatterien von Stanislauer und Slibowitz. Rachitische Kinder schnorrten um ein Zündholz für ein auf einer Pappschachtel festgeklebtes 68 Lichtstümpfchen. Ein Werkelmann stieß die Kurbel seines Kastens herum, der, den Walzer der Musette pfeifend, immer wieder pausierte. Eine Lupuskranke kam, mit rings vom Hut hängendem schwarzem Schleier; ihr fehlte die Nase, und sie hatte eine Bandage quer über dem Gesicht. Schandera klopfte an eine Tür mit einer Blechtafel: Palkoska, las er. Jemand guckte und horchte von drinnen. Jemand klinkte die Tür auf. Es war eine verwachsene Frau, die durch die geistige Energie ihrer abgezehrten Züge bezwang. Sie hatte das Äußere einer Lohnarbeiterin. Inmitten ihrer Stube war eine Nähmaschine. »Holka, oči má jako šmolka«, plärrte auf der Straße der Leierkasten, und die Kinder plärrten ihm nach.

Die Verwachsene begrüßte Schandera mit stotternder Hast. Er saß vor ihr, und zehn Jahre wichen, eine dunkle Mauer, zurück. War er nicht damals Hof- und Gerichtsadvokat gewesen, hatte nicht er, die Zierde des Prager Barreaus, wie die Blätter ihn nannten, die wegen revolutionärer Propaganda angeklagten Vorel und Genossen verteidigt? Halbvergessene Einzelheiten schlossen sich zusammen: die Massenverhaftung nach dem Meeting unter freiem Himmel in Straschnitz, die Konfiskation der Druckschriften, der Selbstmord des Lithographen Haloun, die geplante Reise des Emigranten Palkoska von Schaffhausen nach Prag. Die durch einen Agenten bewirkte Mitteilung an die Staatspolizei, daß Palkoska mit der Westbahn eintreffen und bei einem seiner Freunde nächtigen werde. Die Vorbereitungen der Gendarmerie, ihn schon in Furth, der Grenzstation im Böhmerwald, abzufassen. Der Agent, wie hieß er doch? Fügner, der 69 Feldwebel, der wegen Diebstahls an der Kasse des Korpskommandos mit acht Jahren Kerker bestraft worden war. Seine eigene Denunziation verratend, hatte er sich in Schanderas Kanzlei eingestellt. Und jetzt war sie vollständig, die Reihe der Begebenheiten: Wie er nach Zürich an die Frau Palkoskas depeschiert hatte, um ihn zu retten, wie er Fügner, den Lockspitzel, mit den hohlen Knöpfen, in denen die provokatorischen Nachrichten aus der Schweiz hinübergeschmuggelt worden waren, der Polizei zugeschickt hatte. Und wie er nach dieser Entlarvung selbst immer mehr in das, was er gewagt hatte, verstrickt worden war. Der Abend auf der Sofieninsel, die Unterhaltung mit Okoun. Doch da stieg sie wieder auf, die Bartholomäusgasse, die dunkle Mauer.

Die Verwachsene war mit ihrem Dank zu Ende. »Sie sind allein?« fragte Schandera und sah sich im Zimmer um. »Lebt Ihr Mann?« »Vor vier Jahren ist er in Bern gestorben«, erwiderte die Frau. »Er war zuletzt Buchhändler, Kolporteur. Niemals hat er an Ihnen, Herr Doktor, gezweifelt.« »Ich möchte ein paar Worte zu Ihnen sprechen«, entgegnete Schandera. »Hören Sie! Als ich die Gewalt über Fügner hatte, ließ ich ihn oft und oft zu mir kommen. Ich war barsch zu ihm, weil ich ihn nicht achtete, denn er war ein Lump, nicht wahr? Er hatte als Rechnungsfeldwebel Löhnungen unterschlagen. Sechzig Gulden im Monat verdiente er als Agent, und das genügte ihm nicht, Frau und Kinder zu ernähren. Darum verkaufte er mir, was ich wollte, und ich erfuhr von ihm alles, alles. Nun denken Sie sich, wohin das jemanden, der die ersten Schritte getan hatte, bringen konnte: daß er von den geheimen Aktionen der 70 Regierung im voraus wußte und selbst sie umzulenken mächtig war. Immer größer wurde dadurch sein Einfluß auf Politiker, die er tief unter sich sah, und auf die Ministerien. Denken Sie sich einen schmalen Weg hinter einem Irrlicht, das blendet! Wenn der Fuß da strauchelt in der Finsternis – –« Es war wie ein Monolog, nun hielt er erschöpft inne. Dann stammelte er, kaum noch verständlich: »Aber Tersch, der Schuft, war ich nicht. Nur einmal habe ich ein Darlehen angenommen und zurückgezahlt. Erik war vier Jahre alt und lag scharlachkrank, auf Tod und Leben.«

Die Palkoska stutzte in flackerndem Mißtrauen. Schandera sank vornüber auf seinem Stuhl. »Soll ich für Sie zum Arzt«, fragte die Frau, »Herr Doktor?« »Nein, es ist nichts«, murmelte Schandera sich aufraffend. Weshalb war er hier, in dieser Vorstadt, deren Menschen ihn nichts mehr angingen? Welchem Wahn einer schlaflosen Nacht gehorchte er? »Sie verlieren Ihre Gesundheit«, sagte die Frau und hob erbarmend die Hände. Schlüssel klapperten an der Tür, die ein junger Bursch mit dem roten Hemd, der schwarzen Kappe und der Falkenfeder eines Sokols öffnete. »Jarda, das ist Herr Doktor Schandera«, rief ihm die Mutter zu. Er errötete stumm, mit einem jähen Abscheu. Die Frau brachte Schandera hinaus.

Die verschleierte Lupuskranke holte unten im Greislerladen Erdäpfel und Petroleum. Den Kindern war das brennende Pünktchen auf ihrem Lichtstumpf vom Wind fortgeblasen worden; sie rückten jetzt an einem Wagen der städtischen Desinfektionsanstalt, der nach Karbol stank. Durch die Žižkagasse gellten die Fabriksignale der Mittagstunde. Im Fenster des Steueroffizials Hruby hing 71 zerfetzt sein Leintuch, die weiße Fahne der Übergabe. Die Wachmannschaften hatten den Irren niedergezwungen. Fünf hatten, mit Schutzschildern sich deckend, ihn zu Boden gestreckt. Kaum gelang es, ihn zu bestimmen, daß er ihnen folgte. In diesem Moment zeigte er sich mit der Eskorte auf der Straße. Die Menge umjubelte ihn, »Na zdar« schreiend. Der Irrsinnige entschädigte sie durch eine Ansprache, worin er sagte, daß verborgene Niedertracht ihm die Erhebung zum König von Böhmen neide, daß er in seinem Testament das Volk und das Redemptoristenkloster auf der Kleinseite beglücken werde, und daß es sein Wunsch gewesen sei, für die heilige Kirche in den Tod zu gehen. Dazu lachte er triumphierend. Die Reporter, gegen die er sich am wenigsten sträubte, zerrten ihn sanft zur Karolinenthaler Wachstube.

Schandera entfernte sich nach dem Eisenbahnviadukt und dem Theater-Varieté, vor dem man die Turngeräte und die silbernen Keulen amerikanischer Akrobaten auslud. Dem Nordwestbahnhof gegenüber war eine Speisewirtschaft mit großen Scheiben. Hinter einer von ihnen aß ein Vierschrötiger sein Mittagmahl, grau im Gesicht, die Serviette unter das Kinn gewürgt: Sadovsky. Er hatte einen Zwicker wie ein Studierter. Neben ihm ein Weib, schwarz, mit dem hakigen Kopf eines Bussards. Sie trug einen Hut mit riesenhaften Wollfedern und um die Schultern einen Fuchspelz. Und jetzt sah durch die Scheibe Sadovsky auf Schandera. 72

 


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