Paul Wiegler
Das Haus an der Moldau
Paul Wiegler

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In den drei Tagen bis zur Überführung Eriks nach Wien stand Schandera schon um sechs oder sieben auf, gereizt durch Schlaflosigkeit, und versenkte sich draußen in die anschwellende Melodie des Morgens. Der Hügelwald erwachte und mit ihm Finken, Drosseln und Meisen; einen geborstenen Stamm beklopfte ein Specht. Birken und Erlen hatten am frühesten getrieben. Nun waren auch Lärchen und Hainbuchen belaubt, Stieleichen und Traubeneichen, Fichten und Tannen, Bergahorn und Schwarzkiefern. An den Träufelspitzen haftete der Tau. In die Rinde der Kiefern sickerte das klebrige Harz. An den Erlen sprossen, winzige Zapfen, die Kätzchen; fünflappige Schuppen umhüllten die Blüten. Alles kreiste im neuen Ring des Jahres; nur Eriks Leben war am Ziel. Schandera beobachtete an einem zermahlenen Weg 194 einen Bau von Ameisen, aus Holzstückchen, Grasstengeln und Nadeln, mit einem Kegel, der, in der Nacht verschlossen, nun von den Tieren geöffnet worden war. Schon hatten sie den Rand des Dickichts kahl gebissen, sie wimmelten, geflügelt und ungeflügelt, weiter hinein. Von den Furchen ihrer Straße bogen sie nicht ab. Was ihnen zu schwer war, betasteten sie und stülpten sie um. So schleppten sie es fanatisch in die Höhlungen ihres Labyrinths, verzweiflungsvolle Totengräber des Waldes.

An den Nachmittagen gingen Ljuba und Schandera, wenn sie bei Erik gewesen waren, dem Helenental zu. Der Aquädukt der Wiener Hochquelleitung spannte sich über die Ebene. Vögel, Sonne und Wolken, lichte und dunkle Waldteile in blauem Glanz. Die Schwechat war wie ein Bach und an ihrem Saum fast versiegt, mit zerriebenen, blanken Kieselsteinen. Zwischen dem Gesträuch lagen Flöße, durch die Wipfel schimmerte die Weilburg; rechts und links stiegen Ruinen auf, der Rauhenstein und das Rauheneck. Menschen flanierten über die sattgrüne Hauswiese; einst hatte auf ihrer Bretterestrade Johann Strauß den Walzer »Souvenir de Baden« gegeigt. Autos, Fiaker, Reiter und Reiterinnen hielten vor dem Sachergarten. In den Felsen des Urtelsteins war ein Tor gesprengt; junge Paare beugten sich über das Geländer der Brücke. In der Karlsgasse bewohnte der Erzherzog Rainer die Villa Epstein; da lenkte schon sein Kutscher die Pferde, ein Greis saß im Fond, runzlig, mit langgezogenem Schnurrbart und kurzem Backenbart, bürgerlich auch im Militärmantel, der Vetter des Kaisers. Aus einer von Moosrosen umwachsenen Altane klang Klavier; eine Gesellschaft schleuderte Tennisbälle über 195 ein Netz und lachte. In der Breyergasse war ein Haus aus der Empirezeit, weiß mit weißen Fensterläden, das Haus der Marie Luise und des Aiglon, ihres kranken Sohnes. Über einem Dachpostament mit einem Füllhorn kniete Flora vor einem Blumenkorb, Blumen an ihre Brüste pressend; an der Mauergrenze lehnte ein Pavillon von griechischen Formen.

Am letzten Tag tranken sie den Kaffee im Doblhoffpark. Es war sechs Uhr am Schloßturm und an den Sonnenstundenzeigern unter den Efeuranken des Gutshofs; denn später als sonst hatten sie Erik verlassen. Inmitten des Weihers konzertierte ein Blasorchester. Schwimmer schwammen aus der Badeanstalt heraus und dehnten übermütig ihre gebräunten Leiber in den Booten, die gegeneinander krachten. Dann dämmerte es, der Maihimmel verfinsterte sich, man brannte ein Feuerwerk ab. Ein zehnjähriges Mädchen wurde vom Steg in den See gedrängt. Als es schreiend einen Balken umfaßte, holte ein Musiker es heraus. Jedoch Ljuba hatte einen Weinkrampf, Schandera geleitete sie entsetzt in die Stille.

Der Gummiradler, in dem Erik zum Bahnhof geschafft wurde, fuhr die Frachtrampe hinan. Zwei Wärter legten ihn auf die Kissen eines Halbkupees, und Schandera und Ljuba konnten schon zu ihm einsteigen. Die Lokomotive wurde rangiert. Nun dampfte sie durch Gumpoldskirchen, und der Anninger war zu sehen, nun durch Mödling, und das war die Vorderbrühl. In Liesing mußte auf einen Fernzug von Triest gewartet werden; schwitzende Brauknechte arbeiteten in der Brauerei. Der Gürtel der Großstadt wies seine proletarische Häßlichkeit. An der Philadelphiabrücke in Meidling tauchten 196 Friedhofsmonumente auf, ein Krüppel mit einem Grammophon, einer, der Stummel in seinen Rock steckte, Burschen, die an der Böschung kauerten. Ein Kino verhieß den »Start ins Glück«.

Die Portiers des Südbahnhofs hatten die Passagiere des Fernzugs noch nicht freigegeben. Als die Halle geräumt war, rief ein Beamter die Sanität. Erik wurde auf einer Bahre zum Gepäcklift getragen; mit knirschenden Eisentauen rutschte dieser in die Eingangshalle hinunter. Der Wachmann davor telefonierte nach einem Rettungswagen. Schandera fuhr mit Ljuba nach, über Argentinierstraße, Getreidemarkt, Lenaugasse und Schlösselgasse in die Alserstraße, ins Viertel der Lazarette. Der Trakt des Allgemeinen Krankenhauses, für den Dr. Staudigl Erik angemeldet hatte, war auf der Seite der Spitalsgasse. Auch hier klebten die Zettel der Theater, Händlerinnen in den Toren verkauften billige, bunte Sträuße. Aber von der Kapelle der Poliklinik nahte ein spärlicher Kondukt hinter einem schwarzen Sarg, dem so und sovielten eines Tages; und die Gasse droben beim Institut für gerichtliche Medizin hieß Sensengasse.

In einem der Höfe, unter dessen Bäumen Rekonvaleszenten in Kitteln und Drillichhosen Zeitungen lasen oder verstohlen rauchten, war eine Aufschrift mit dem Namen des Professors Kallina. Eine Kanzlei, der Saal vier und Abschied von Erik; und wieder lebte Schandera das Kommende. Er ging mit Ljuba durch Schwarzspanierstraße und Ferstelgasse bis zur Votivkirche, zum Hotel Währing. Sie war so ruhelos in der Nacht, daß er sie anflehte, für die Woche, die es bis zu ihrer beider Heimkehr mit Erik dauern würde, in ein Sanatorium in einem Vorort zu 197 übersiedeln. Sie bejahte, aufgewühlt und schwach. Er bat sie, schon für diesmal dem Besuch bei Erik zu entsagen. Ohne sie sprach er am Vormittag den ersten Assistenten Kallinas, des berühmten Internisten. Der Assistenzarzt, ein Bozener, gab Auskunft, der Professor habe bei der Visite angeordnet, daß Erik aus dem großen Saal in ein Zimmer umgelegt werde, zu wenigen Patienten. In etwa zehn Tagen könne er reisefähig sein. Für Ljuba nannte der Dr. Kreindl das Nervensanatorium des Dr. Uchatius in Klosterneuburg.

Schandera fuhr vom Hotel mit ihr über Heiligenstadt und Nußdorf hinaus. Sie atmete den lauen Wind, der von der Donau her um den Kahlenberg sprang. Zwei grüne Kuppeln wölbten sich über der ockergelben Fassade des Stifts, Erzherzogshut und Kaiserkrone. Auf dem Stadtplatz hatte die Niagaratruppe an den alten Giebeln ihr Drahtseil befestigt. Die Kierlinger Straße entlang ächzten mit klirrenden Bremshebeln die Bauerngefährte, wenn sie vom Goldenen Ochsen wieder aufbrachen, gegenüber der Märtyrerstatuette des vom Pfeil durchbohrten Sebastian. Der Gastwirt Zylarz scheuchte ein quiekendes Ferkel in den Stall. Die Sonne brütete im Kalkgestein der Weinberge, auf den unbehauenen Treppenstufen. Um den rieselnden Bach neben der Chaussee wucherten Holler und Huflattich. Häuser folgten, wo sein Lauf endete; und wo der Mühlbach, mit dem er sich vereinte, wieder vortrat, lag in einem Waldgarten das Eigentum des Dr. Uchatius. Ihm, einem wortkargen Therapeutiker, vertraute Schandera Ljuba an. Er blieb noch unter den hohen Föhren, bis eine der Schwestern ihn benachrichtigte, die Dame sei eingeschlafen. 198

Die Alserstraße war nicht weit vom Wiener Franz-Josefs-Bahnhof. Aber für Schandera wurde jede Verlangsamung der Elektrischen zur Qual. In der grauen Front des Allgemeinen Krankenhauses fand er nicht den richtigen Hof und vom Saal vier aus nicht das Zimmer 28 in den Mündungen der Korridore. Es war wie eine Zelle, mit Anstrich von weißer Ölfarbe, mit fünf lackweißen Betten und Gitterstäben um das letzte von ihnen. Zwei Männer hatten Besuch, einer, der an Nierenentzündung litt, ein Pensionist, den seiner Frau, ein Student den seiner Geliebten, die ihn, die Stirn auf seinem Polster, heimlich küßte. Der Dritte rannte hin und her. Er hatte einen rötlichen Bart und triefende, unstete Augen. Erik hing am Hals seines Vaters und tuschelte mit ihm. Über den Roten, sagte er, sei viel geschrieben worden, nach achtzehnjähriger Kerkerhaft habe man ihn als schuldlos begnadigt. Sein Name sei Leib Beer. Jetzt wußte Schandera: dieser Ahasver war das Opfer eines grauenhaften Justizfrevels gewesen. Ein Schwurgericht in Böhmen hatte ihn zum Tod durch den Strang verurteilt, weil er bei einer mährischen Stadt eine Magd ermordet habe; die Juden hätten ihr Blut zum Passahfest für rituelle Zwecke abgezapft. Der Fall hatte die Geister auch der tschechischen Nation zum Kampf gegen Haß und Wahnwitz aufgerufen; Niedertracht und Verstocktheit hatten trotz des Gnadenaktes den Sieg behalten.

Wirr näherte der Triefäugige sich Schandera, und durcheinanderschwatzend weihte er ihn in seine Geschichte ein. Er war im Siechenhaus der Wiener Kultusgemeinde unentgeltlich verpflegt worden, als er die Nichte eines wohlhabenden Juden aus Meseritsch zu 199 ehelichen beschloß. Er hatte eine kostspielige Hotelwohnung gemietet und aus den für ihn gesammelten Beträgen seiner Braut zur Erwerbung eines Wirkwarengeschäftes dreitausend Kronen vorgestreckt. Sie hatten die Trauungsanzeigen versendet, die Trauung stand bevor; da griff der reiche Onkel des Fräuleins ein und zwang es, gegen eine Trostmitgift von zwanzigtausend Kronen das Jawort zurückzuziehen. Er erstattete dem Bräutigam seine Auslagen wieder, die Nichte ließ nichts mehr hören. So war die Heirat gescheitert, und verloren war sein Asyl. Er stellte sich, Psalmen betend, an die Wand nach Osten. Der Pensionist erzählte von einer Narkose, von Äther und Chloroform, von Riemen- und Handschellen. Die Geliebte des Studenten ging hinaus wie eine Betrunkene. Eine Nonne glättete die Kissen Eriks, der erglühend weiter sprach. Eine Nachtigall sang in einer Platane vor dem Fenster.

An jedem dieser Abende war Schandera in Klosterneuburg. Er stützte Ljuba mit seinem Arm. In einer Gasse unweit des Sanatoriums blühte in die elektrischen Drähte hinein überall der Rotdorn. Amseln in einem Fliederbusch hackten sich mit gelben Schnäbeln, Finken sausten in Wut um ein räuberisches Eichkatzel, das behend von Zweig zu Zweig kletterte. Zwei junge Bauernweiber sangen im Kanon »Kauft's a Lavenderl«; die bläulich violetten Quirle hatten blassen Duft. Schandera und Ljuba gingen hinunter bis zum Stadtplatz und zum Niedermarkt. Zwischen der Au und dem Bisamberg floß um Sandbänke und Inseln mit Bruchweiden die Donau. Eine verschanzte Burg, dicht am Bahnhof, Treppen und Gebäude von klotzigem Stein, der Kuchlhof mit der 200 Lanzenfahne des Sankt Leopold über einer Brunnenschale, der Stiftshof, weiß und gelb. In das Land ragten die beiden Türme der Kirche; es war ein Rundblick wie in Salzburg am Dom. Die Oberstadt hatte Rathaus, Sparkasse und Polizeiamt. Auf der Höhe sahen sie das Schwarze Kreuz mit dem Bildnis der Werkzeuge, die Christus folterten. Rebhügel sahen sie, den Weidlingbach, den Kahlenberg, den Hermannskogel, grüne Einsamkeit, Wirtsgärten mit undurchdringlichem Geäst von Kastanien, Heurigenschenken in den Dörfern des Wiener Walds. In der Buchberggasse lag der Friedhof; ganz droben gleißte in Gold der Gekreuzigte. Auf dem Portal die Pietà von Raffael Donner, eine weltliche Madonna des Rokoko, ein Fegefeuer, das Gefäß dürrer Halme, Urnen mit Totenschädeln und Totenköpfen in Schleiern. Ein Winzer stand groß gegen den Abendhorizont. Dann verwischte die Nacht die Konturen der Berge.

Von den Kleewiesen wehte ein Hauch. Die Sterne glitzerten. Es flackerte am Buchberg hinter rotem Glas. Ein ölgetränkter Docht verzehrte sich vor dem Heiligen, der gegen Schmerzen und Krankheit Schutz gewährt, dem die kaum leserlichen Marmortäfelchen gewidmet waren, dem Garben frischer Feldblumen dankten, dem milden Bruder des Franziskus, dem Antonius von Padua. Schwer warf Ljuba sich vor ihm zu Boden. 201

 


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