Paul Wiegler
Das Haus an der Moldau
Paul Wiegler

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14

In der Nacht zum Karfreitag, dem zehnten April, leuchtete es vom Hang des Petřin. Die Frommen wallfahrteten zur Laurentiuskirche, zum Kalvarienberg. Unwirklich war das, in die Höhe entrückend. Am Ostersamstag nahm Schandera Erik auf die Kleinseite, in die Spornergasse, in die alte Marienkirche. Er liebte die primitive Einfalt ihres Muttergottesbildes, das sanfte Frauenantlitz unter der schwarzgrünen, goldbesternten Kapuze, die lange, weiße, große Mutterhand, um die sich die Händchen ihres Kindes schmiegten. Den Kopf sittsam drehend, richtete der Jesus ihn samt Juwelenkrone und Heiligenschein in den Goldgrund empor, wo zwei Engel in rosa Röcken ihm sein Kreuz darboten, die Lanze des Kriegsknechts, den Stock mit dem Ysopschwamm. Verschleiert war die Monstranz des Altars. Die Pappfiguren der Wächter, der römischen Legionäre umgaben den dunklen Glassarg des Erlösers, vor dessen wächsernem Leichnam ein Priester betete. Chorknaben putzten die qualmenden Kerzen oder rasselten mit dem Weihrauchfaß. Alles war vorbereitet für den Augenblick, wo die Hülle der Monstranz unter den Fingern des betenden Priesters verschwinden und plötzlich der dunkle Glassarg erstrahlen würde, als werde der begrabene Gott hervorkommen und wandeln.

Jenseits der Karlsbrücke, vor dem Altstädter Rathaus sammelten sich inmitten des Volkes die Bürgergardisten. Ihre Offiziere waren zu Pferd, sie selbst maskiert als napoleonische Grenadiere mit Bärenmützen und als Sappeure mit Kalbsfellen. Noch war das Pflaster regennaß, 91 doch über den Doppelturm der Teinkirche huschte die erste Vorfrühlingssonne. Vier Uhrschläge hallten, alle Glocken läuteten. Die Bürgergarde schoß drei Gewehrsalven ab, ein Taubenschwarm flog auf. Sperrangelweit klaffte das Tor unter dem Haus der Himmelfahrt Mariä. Die Orgel sang, es nahten die kirchlichen Banner der Auferstehungsprozession.

Am ersten Feiertag war die Premiere des »Waldsteyn«, des Schillerschen »Wallenstein«, der hintereinander gespielt wurde. Ljuba hatte tagelang in einem Fieber gelebt. Die Herzogin von Friedland war ihr zugedacht worden; sie hatte mit wilder Energie um die Terzka gerungen. Noch am Vormittag lag sie, unfähig sich zu erheben, verfallen, mit blauschwarzen Schatten unter den Augen. Mußte sie absagen? Sie riß sich hoch. Der Portier des Theaters trug ihren Koffer mit Schminkkasten und Perücken hinüber. Sie mußte um sechs Uhr in die Garderobe. »Bringe mir Erik«, sagte sie zu Schandera, als sie sich von ihm auf dem Tylplatz verabschiedete.

Durch die Seitengassen der Bühne drang die Statisterie, Waldsteyns Heer, das sich rasch mit Würsteln sättigte. Ein Geruch von staubigen Lumpen, Dextrin, Gas und Menschenschweiß stieg empor. Hart neben blendenden Lichtbahnen waren Finsternisse, in denen Maschinisten und Arbeiter sich stießen. Der Inspizient mühte sich, mit seinem Buch umherrennend. Die obere Hälfte eines Feuerwehrmanns überragte eine zusammengesunkene, schmutzig grüne Soffitte. In ihrer Garderobe entkleidete sich Ljuba, hin und wieder einhaltend. Sie hatte einen krankhaften Durst, die dicke Garderobiere, die Witwe Silaba, mußte ihr ein Glas schwarzen Biers holen. Dann 92 reichte sie ihr die Schuhe, den purpurroten Samt, den gelblichen Spitzenkragen, die unechte Perlenschnur der Terzka und setzte sich ihr stumpf mit der Stopfnadel gegenüber. Die Randova ließ sich nicht abweisen. Auf der Bühne vermehrte sich das Hallo, eine Eisentür wurde zugehauen. Nun war man beim Umbau zu den »Piccolomini«.

Die Gjalska ging, im Konversationszimmer auf ihr Stichwort zu warten. Sie trat mit der Zeithammer, der weinerlichen, verdrossenen Sentimentalen, hinaus. Sie sprach, ohne dabei zu sein, vor sich den feindlichen Raum und darinnen die feindlichen Gesichter. Von seinem Guckfenster aus machte der Regisseur ihr Zeichen, sie solle mehr links stehen. Sie beachtete sie nicht. Ungleichmäßig, in ihrem opernhaften Sprechgesang, dem sie vertraute, beendigte sie die Szenen der Terzka. Dann hatte sie zwei Akte, bis zum dritten Teil der gekürzten Trilogie, nichts zu tun. Sie sah das Konversationszimmer voll von Solisten mit Lederwämsern, Bandeliers und Reiterwaffen, den Charakterspieler Vanka mit dem eisgrauen, schiefen Bart des Obersten Butler und Beran, den berühmten Beran, der zu der Maske Wallensteins auf eine geklebte Nase seine Brille gehängt hatte. In Kameradschaft lächelten seine entzündeten Augen die Gjalska an.

Sie floh in den Quergang, in ihre Garderobe hinein. Das Fieber war wieder da und mit ihm eine Gefahr, die vielleicht schon ansetzte, sie zu vernichten. Es sauste ihr in den Ohren, Frost schüttelte sie. Sie warf sich auf den verschossenen Diwan. Halblaut leierte sie irgend eine Stelle her, die ihr durch den Kopf jagte, kroatische Verse aus einer Oper, in der sie als Zwanzigjährige am 93 Nationaltheater in Agram gesungen hatte: »Vom rauhen Winde der Nacht sind alle Rosen entblättert.« Sie fühlte, wie etwas in ihrer Brust zersprang.

Durch die Gänge schrillten dreimal die Klingeln. Es klopfte; die Silaba, der Inspizient. Sie mußte hinaus, über eine enge Treppe, wo ihr Kleid sich an dem Blechbeschlag der untersten Stufe verfing. Und jetzt war sie auf der Bühne, vor Beran, dem massiven Smutny, dem lispelnden Deport, und es kam die große Rede der Terzka an den Herzog von Friedland. Das schwarze, feindliche Haus schwieg. Sie sah im ersten Rang, über der Loge des Grafen Bubna, den Knabenmund, die Knabenaugen Eriks. Weit wurde ihr ums Herz. Sie sprach Worte, sich selbst behorchend, sie genoß den schwingenden Ton, der immer tiefer und stärker aus ihr brach. Die Rede war für sie ein Triumph. »Gjalska, Gjalska!« schrie das Parkett, schrie die Galerie. Beran nahm sie, als der Vorhang dann niederging, bei den Händen.

In der Pause nach dem dritten Akt besuchte Schandera sie mit Erik. Die Dekoration des Bürgermeisterhauses im winterlichen Eger wurde herabgelassen. Rovensky im Küraß Max Piccolominis kam zum Platz der Feuerwehrleute, verschwitzt und tobend, weil der Inspizient unachtsam ihm den Applaus geschmälert hatte. Die Silaba, mit Kostümteilen, duckte sich in der Garderobe. Ein Glanz wie von Arsenik flimmerte in Ljubas Blicken. Sie umarmte ihren Sohn und sagte deklamierend: »Daß du im Theater bist, war mein Glück.« Bald eilte das Signal zum vierten Akt durch die Korridore. »Ich bin noch nicht dran«, sagte sie, »aber geht, geht.«

Das Haus füllte sich, der vorletzte, der letzte Akt 94 begann. Die Gjalska schwankte mit dem Antlitz der Vergifteten, ihr Nachtgewand fegte die Bühne, ihr herbes Organ erstarb in heiserem Decrescendo. »Beran, Gjalska!« stürmten die Rufe, und da Beran sich nicht mehr zeigte: »Gjalska, Gjalska!« Dann tastete sie sich in die Garderobe zurück. Sie fuhr in der hochgewölbten Theaterkutsche, die von Begeisterten umlagert wurde, die kurze Strecke des Riegerkais ab.

Manja wollte sich noch mit Petera treffen. Aber er fehlte in der Menge unter den Kandelabern, und so begleitete sie die Čermák und ihren Bruder in das Lokal von Šroubek. Hinter einem Wandschirm, durch Frühjahrspaletots und schwere Wintersachen verdeckt, trank eine Gesellschaft Wein. Den scharfen Diskant einer Frau übertönte eine Männerstimme. Sie stutzte, war es nicht die Stimme Peteras? Jemand verließ die Gesellschaft auf ein paar Minuten, der in der Stadt sehr bekannte Neffe des Herrenhausmitglieds Zveřina, in einem maronenbraunen Rock vom Zuschnitt des Biedermeier. Nachher wurden am Tisch die Plätze getauscht. Manja sah Petera, ohne von ihm gesehen zu werden. Nun, wieder verdeckt, erzählte er mit dem Lachen des Trunkenen. Er nannte mit einer Beschimpfung ihren Vornamen. Unglaubhaft standen die Laute in der verdorbenen Luft. Manja wurde blutrot, als hätte ein Peitschenschlag sie gezüchtigt. Sie zweifelte, sie wehrte sich. Aber in ihr war ein nicht mehr zu zähmendes Grauen. Verwirrt sagte sie der Čermák, daß sie nach Hause gehe. Mit schlotternden Beinen flüchtete sie über den Wenzelsplatz.

Sie war in diesen Wochen unzufrieden mit der Weinberger Direktion, unzufrieden mit sich, zerquält. Nur in 95 kleinen Rollen wurde sie beschäftigt, in Verwechslungspossen, in denen sie als Zofe über die Bühne zu trippeln hatte, in einer Neuheit, in der sie eine Orpheumstänzerin und Kokotte sein sollte und die mit Skandal durchfiel. Die »Törichte Jungfrau« wurde einstudiert. Nicht mehr Dianette war sie, die Märtyrerin ihrer Liebe zu Marcel Amaury, die mit der brennenden Öllampe umherläuft und sich eine Kugel in das Peignoir schießt, sondern über ihr Alter hinaus Fanny Amaury, die Ehefrau, die Betrogene; und die Hysterie des zweiten Aktes dämpfte sie mit Klugheit. Man spielte zumeist den »Keuschen Kasimir«. In einem dummen Lustspiel sollte sie als Statue der Aphrodite dastehen, im Hemd, auf einem Sockel, und der Regisseur tadelte ihre Schenkel. Die Rolle wurde ihr entzogen, sie passe nicht dafür. Man sah davon ab, sie weiter zu verpflichten. Sie erklärte, sie wolle über den Sommer nach Berlin.

Am Tag darauf fuhr sie in letzter Minute mit ihren Koffern, die sie selbst verschloß, allein zum Staatsbahnhof. Auf ihrem Schreibtisch hatte sie einen Briefbogen vergessen, mit nur ein paar Worten, von Tinte besudelt: »niemals nach mir zu fragen.« Unter dem Löschpapier lag eine zerfetzte, unkenntliche Photographie.

 


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