Paul Wiegler
Das Haus an der Moldau
Paul Wiegler

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26

Im August war Manja, die Lucerna, in München ohne Beschäftigung. Von einer Pension in der Ohmstraße, nahe dem Englischen Garten, dem künstlichen Wassersturz und dem Monopteros, zog sie in die Barerstraße, in ein Hofzimmer bei der Hartschierswitwe Plendl, als Flurnachbarin einer Bahnhofsdirne. Eine Agentur brachte sie an das Theater in der Maximilianstraße. So konnte sie sich ein besseres Quartier am Isartor bei einem Schirmhändler leisten. Während der Proben für die »Judith« wurde ihr Mirza zugewiesen, die Dienerin der Heroine. Des Farbenkontrasts wegen hatte sie sich schwarz zu schminken, als sei die Jüdin in Bethulien eine Mohrin. Sie fiel gänzlich ab, von niemandem wurde sie beachtet. 162 Ein Schreiben der Direktion teilte ihr mit, daß man auf sie verzichte.

Sie wollte zurück nach Prag; Scham hemmte sie. In dreizeiligen Inseraten erbot sie sich zu Lektionen im Tschechischen, im Kroatischen und zu Geigenunterricht. An diesem Montag zahlte sie sich nur einen Kaffee in einem Schank am Viktualienmarkt. Sie fragte bei einem Lebzelter und Wachsbosseur, in dessen Scheiben sie so lange gestarrt hatte, daß er die Tür öffnete, zwecklos nach dem Preis der Barockfigürchen von Betenden, einer Stifterin und eines Stifters, in peinlich nachgeformten Spitzenkragen und blauen und braunen Staatsgewändern. Sie wanderte in drei Etagen eines Kaufhauses umher, durch die Musikautomaten klimperten. Das Trottoir sperrten Studenten, die zum Bier eilten. Viele Männer hatten Bartstoppeln und viele buntgewürfelte Jacken. Hinter der Frauenkirche fütterte eine Alte in elender Mantille aus einem Sack mit Körnern die niederflatternden Tauben, die sie mit hexenhaftem Geleier rief; sie war nicht bei Vernunft, sagte ein Wasserer den Fremden, und eine geldgierige Bettlerin. Der Wittelsbacher Brunnen auf dem Maximiliansplatz rauschte kristallen. Das war die Theatinerkirche, das die Treppe der Feldherrnhalle, das der Hofgarten, die Arkaden, der Dianatempel, die speienden Delphine. Manjas Beine zitterten. Sie rastete erschöpft. Hermelin stand vor ihr, ihr rumänischer Kollege von Leipzig, der Lindekuh.

Er war jetzt am Hoftheater und über die Dürftigkeit, in der er damals befangen gewesen war, hinweg. Er stammte aus Czernowitz und hatte den Tenor eines Kantors, eine gequetschte Nase, einen vierschrötigen Rumpf; 163 jedoch in seinen Augen, in seinen gauklerischen Gesten war irgend etwas, das packte. Er spielte Charakterfach, noch nicht den Philipp oder den Mephisto, aber den Deveroux, den Muley Hassan, den Keßler in der »Schmetterlingsschlacht«; und er vertraute Manja die Ziffern seiner Gage an. Er lud sie ein, mit ihm im Ratskeller zu Mittag zu speisen. Die Apostel der Rathhausuhr schwenkten um; und es war, wie wenn in Prag die zwölf nickten, der Gockelhahn krähte, das Gerippe des Todes am Strange läutete. Sie trennten sich. Alexander Hermelin sagte, er sei immer um fünf in der Theresienstraße im Café Stephanie, und drückte Manjas schlaffe Finger. Sie ließ sie ihm nicht.

In der Zeitungsexpedition fand sie Briefe, gemeine und ernste. Die ernsten von einer Studentin und von einem Privatsekretär. Der Privatsekretär, der, des Russischen kundig, die slawischen Sprachen trieb, wohnte in Pasing, in einer Lokomotivfabrik; das war zu entlegen. Die Studentin, eine adlige Baltin, spielte Bratsche; noch am Abend vereinbarte Manja, die lange bei tröpfelndem Regen auf dem Pflaster der Amalienstraße hin und her strich, um das hagere Fräulein von Rotsattel nicht zu verfehlen, zwei Stunden täglich mit ihr. Ein Büro beauftragte sie mit Übersetzungen.

Hermelin schickte ihr Billets. Sie sah ihn als Edmund im »Lear«, mit quäkendem Organ und bösen Lippen, einen Teufel. Aber als sie sich nachher in der Bodega in der Maffeistraße trafen, war er bescheiden, still und wie von einer schwächenden Krankheit ausgehöhlt. Er weihte sie in seine Jugend in der Stadt ein, in der sein Vater Schulklopfer und Schneider gewesen war und seine 164 fromme Mutter noch heute durch die Gassen ihren Bauch trug. Aus Rumänien waren sie geflüchtet, aus Bera, wo die Gendarmen die Juden in der Synagoge überrumpelt und zum Frondienst beim Eisenbahnbau gepreßt hatten; noch an die Häuser der Vertriebenen, der Vogelfreien hatten die Behörden zum Hohn Steuerpapiere geklebt. Trotz einer Fahrt der Mutter zum Rabbi von Sadagora, und Hermelin erinnerte sich an die Erschütterungen des Korbwagens, war der Vater in Czernowitz gestorben, bald nachdem man dem Dreizehnjährigen die Gebetriemen umgehängt hatte und er, in der Vorhalle der Schule mit Schnaps, Rosinen und Mandeln die Schnorrer der Gemeinde bewirtend, von ihr aufgenommen worden war. Dem Onkel, dem Possenreißer und Heiratsvermittler, hatte er Schwänke und Grimassen abgeguckt; und so hatte er eines Tags der Wangenlocken, des schwarzen Käppchens, der Schaufäden an der Weste sich entäußert und war mit einer Truppe nach Kolomea durchgegangen. Am Theater in Preßburg, wo er den Spinoza im »Uriel« gab, bemerkte ihn Sonnenthal, über Mährisch-Ostrau, Bielitz und Breslau kam er nach Leipzig. Er litt unter Manjas Kälte und bekannte es ihr, als er mit ihr in einer Autodroschke saß. In der Rumfordstraße, zwei Häuser von dem des Schirmhändlers, zwang sie ihn, den Wagen anzuhalten.

Sie benutzten dennoch diese Septembertage zu Ausflügen in das Isartal, nach Großhesselohe, wo die Selbstmörderbrücke sich steilte und in der Tiefe das grüne Wasser schäumte, nach Pullach und zu den Turbinen von Höllriegelskreuth, mit dem jähen Abstieg zum Strom. Es war herbstlich in der Menterschwaige. Als die dünnen 165 Wolken über ihnen vom Nachthimmel verschlungen waren, kehrten sie in der leeren zweiten Klasse zurück. Sie saßen in einem Restaurant am Stachus und dann in der Reginabar. In dem abgesonderten Raum, bei den Melodien der Zambra Granadina von Albeniz und des Lichtertanzes der Bräute von Kaschmir, wurde Hermelin dringlicher als je, flehentlich; und auch Manjas Augen veränderten sich, indes sie rauchte und den Stengel einer nach Zimt duftenden lachsrosa Nelke aus der Vase vor ihr zerknickte. Der Kellner stellte die Gläser auf eine Platte und entzündete unter der Mokkamaschine den Spiritus. Hermelin küßte die Nelke, Manjas Hand, die Verengerung der von ihrem Blut durchpulsten Adern. Er folgte ihr bis in den Torweg ihres Hauses selbst, und indem sie sich umwandte, gab sie ihm aus ihrem seidenen Beutel die Schlüssel. An Eisenstacheln wurde für den Charkutier nebenan Fleisch abgeladen, ein Privatwächter bediente eine Kontrolluhr, Katzen jagten sich durch den Rinnstein. Hermelin zauderte. Mieter prüften sie argwöhnisch. Schon ging Manja die Treppe hinauf. In ihrem Zimmer, in dem man sie nicht hören konnte, warf sie sich nieder. Sie beschuldigte Hermelin der Feigheit, denn sie hätte keine Lust mehr zum Widerstand gegen ihren Körper gehabt. Aber sie war nicht fähig, sich das Gesicht des Mannes vorzustellen.

Am Morgen las sie Plakate: ein Konzert im Odeon von Jan Petera. In der Maximilianstraße begegnete sie ihm. Sie war bemüht ihm auszuweichen. Aber er hatte sie schon hinter einem städtischen Sprengwagen entdeckt und nickte ihr zu, ein kleines Ordensband am Revers unter dem zurückgeschlagenen Kragen, breiter als in 166 Prag und in nichts mehr bohemehaft. Er stellte sie der Sängerin Edith Casella vor, der Gilda und Traviata der Münchner Oper, einer rotgelockten Frau, deren Goldplomben blinkten, und die von Holland sprach als dem Lande der Tulpenzwiebeln, der wunderbaren Buketts und der Beefsteaks. Mit Manja allein tat er so, als sei ihre Empörung über ihn ein Irrtum gewesen. Er war fassungslos, daß sie deklassiert lebe. »Warum haben Sie sich an den deutschen Bühnen herumgestoßen, warum sind Sie nicht in Prag oder Wien? Und wie konnten Sie Ihre Musik vergessen? Was würde Rose sagen, Ihr Meister?« Er nannte ihr einen Konservatoriumsgeiger hier in München, mit dem er befreundet sei, und bei dem sie in ein paar Unterrichtsstunden ihre Technik, wenn sie es nötig habe, nacharbeiten solle, den Professor Schindler. Er schrieb ihr die Adresse des Konzertbüros auf, mit dem er verbunden war, und bot sich an, ihr eine Matinee vor einem Freikartenpublikum, nur damit sie wieder einspringe, zu beschaffen. Lange redete er mit der Sicherheit erworbener Routine. Er scherzte, er wurde sentimental. Manja zernagte sich die Lippen, dann stimmte sie sich auf seinen Ton. Über den Max-Josefs-Platz schritt er rasch der Casella nach, die in einer Parfümerie der Perusastraße eingekauft hatte. Manja hatte Tränen ungelöster Empfindungen; oder waren es nur ihre schlechten Nerven?

Der Professor Schindler, dem sie nach drei Tagen vorspielte, in einem knarrenden Saal mit Cellos, Bässen und zwei Flügeln, durch die jungen Konservatoristen gestört, lobte sie und tätschelte ihr den Nacken. Als sie zusammen mit einem der Schüler, den er über den Korridor hin rief, das Adagio von Brahms' dritter Sonate begann, brach 167 Petera ein und setzte den Klavierpart fort, bis zum d-Moll-Dreiklang, dem Abschluß. Er klatschte, er war voll Überschwangs; und auch der Professor, nun ein wenig säuerlich, erklärte sich höchst zufrieden. An diesem Donnerstag kündigte Manja dem Fräulein von Rotsattel die Musikstunden auf; das Fräulein zuckte in ihrer maskulinen Sportbluse die eckigen Schultern.

Das Konzertbüro war bereit, die Matinee am zwanzigsten Oktober, einige Tage vor dem Auftreten Peteras, in der Tonhalle in der Türkenstraße zu veranstalten. Manja übte; der Schirmhändler bat sie, im November auszuziehen. Sie kam mit Petera an mehreren Abenden zusammen, in einer Ceylon-Teestube, da sie dort die einzigen Gäste waren, und er verlachte die Casella, die eine Pute sei, zerpflückte den Ruhm von d'Albert und von Rachmaninow, überreizte sich durch unmäßigen Verbrauch von Likören. Nur an den Nachmittagen noch sah Manja im Stephanie oder in einem Café in der Sonnenstraße Hermelin. Sie erwähnte Petera nicht; er ahnte aus jeder ihrer Bewegungen den anderen.

Zu der Matinee waren hundert Karten versandt worden; etwa siebzig Hörer und die Kritiker von vier oder fünf Blättern erschienen bei einer auf die Hälfte verringerten Beleuchtung. Manja hatte das Caprice Viennois von Kreisler gewählt, die Gavotte von Gossec, die Jota de Sant Fermin von Sarasate, den von Hubay eingerichteten ungarischen Tanz von Brahms, den Napolitano von Tschaikowsky und als Bravourstück die Moise-Variationen von Paganini. Ein unerprobter Pianist saß am Flügel. In den ersten zehn Minuten wußte Manja, daß sie, seit sie pausierte, sich nicht verloren hatte. Ihr Bogen schwebte 168 in der Leichtigkeit des Traumes. Alles beherrschte sie, auch den glänzenden Rausch der Triller. Die siebzig Hörer verdreifachten sich in einem Applaussturm für dieses melancholische Mädchen, dessen Hals Blut überrann. Als endlich die elektrische Krone aufflammte, blickte Manja umher. Sie vermißte Hermelin, und sie gewahrte Petera. Und sie spürte, heute würde sich, was in Prag sie beunruhigt hatte, vollenden.

Sie gab sich Petera in der Pension Parsifal in der Kobellstraße, bei der toleranten Frau Holzer-Schlicker, aus Überdruß. Sie wachte dann bei dem fernen Lärm aus den Buden und von der Achterbahn des Oktoberfestes. In der milchigen Helligkeit der verschleierten Nachttischlampe betrachtete sie den Mann neben sich, dessen Zähne gelb waren und Lücken hatten; auf seiner Brust kräuselte sich wie Moos das Haar. Sein Schlaf wurde unregelmäßig. Ihre Griffe nach ihrer verstreuten Wäsche, nach ihren Strümpfen, ihren Schuhen erweckten ihn. Er wollte sich ihrer wieder bemächtigen. Sie schlug ihn mit der Faust, raffte ihren Mantel auf und stürzte über den teppichbedeckten Gang der Pension. Trunkene lallten durch die brauenden Morgennebel der Straße.

 


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