Paul Wiegler
Das Haus an der Moldau
Paul Wiegler

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Der letzte Tag von Schanderas Aufenthalt in Brünn war da. Er hatte einen Brief geschrieben, nicht nach Prag, an Frau Ljuba Gjalska, sondern nach Wien, an seine Stieftochter Manja, deren Konservatoriumszeit im Mai zu Ende gegangen war, einen zweiten nach Linz an seine Schwester, die Hauptmannswitwe Therese Giacometti. In der Bahnhofsgarderobe hatte er sein Gepäck untergebracht. Nun begab er sich mit seinem noch im Zaudern heftigen Schritt über den Krautmarkt durch die Altbrünner Gasse zum Spielberg. Der Rauch der Fabriken umwölkte das Tal der Schwarzawa und der Zwittawa. Ein paar alte Leute saßen auf den Bänken unter der Festung, vor der d'Elvertbüste. Vom Petersberg her kam die Stimme der Glocken.

Ein kleiner, blonder Infanterieleutnant beugte sich träg über die Steinbrücke zum klotzigen Tor O'Brien. Im dunklen Gewölbe, in dem sich geradeaus das Zimmer des Oberprofosen befand, putzten Soldaten ihre Gewehre, und ihre groben Lieder hallten durch das Holzgatter. »Naše Hanka«, brüllten sie zur Melodie des Zapfenstreichs. Eine Treppe im jenseitigen Trakt stieg, senkrecht fast, zur Wohnung des Kastellans empor. Von dort hatte Dr. Josef Schandera in den tiefen Hof, in dem Gras welkte und geflickte Hemden trockneten, hinabzugehn. Mit schwarzen Beeren wucherte, da wo ehemals der Galgen gestanden hatte, der Holunder. Schulkinder aus Tischnowitz und Gurein umdrängten den Einlaß zu den Kasematten, der niedrig wie ein Backofen war. Der junge 10 Lehrer suchte Schandera zum Reden zu bringen, mit tschechischen und deutschen Höflichkeiten; dann stand er unmutig davon ab. Er wußte nicht, was er aus diesem Fremden machen sollte. Die Tochter des Kastellans, ein blutarmes, wachsbleiches Mädchen, holte einen rasselnden Schlüsselbund und nahm eine Pechfackel.

Schwer war die Luft, kleine Steine besäten den Boden, kleine Steine sickerten von der zerbröckelnden Wand. Das Mädchen sagte seine Litanei her. Der Lehrer unterbrach: »Meiner Seel', wenn nicht die Postbeamtin in Tischnowitz jetzt hinter ihrem Schalter säße, ich würde schwören, Sie sind es. Das Fräulein sieht genau so aus wie Sie. Ist sie Ihre Schwester?« Das Mädchen verneinte. Gähnend öffneten die Kerker sich, durch die rot die Fackel wanderte. Die Schulkinder verstummten vor den kalkgetünchten Zellen, dem Marterloch, in dem an rostigen Ketten eine Holzpuppe in dem weißen Uniformrock des Kaisers Josef hing, den Folterwerkzeugen, den Tafeln mit den Porträts von Trenck, dem Panduren, und Bonneval. Die Kinder trippelten wie eine gejagte Herde durch den Frauentrakt. Der Lehrer vermahnte sie und sah sich mehrmals nach dem zurückbleibenden Fremden um.

Jetzt war Schandera allein. Nichts lebte um ihn als das Steingeriesel. Ging es zur Rechten, ging es vorwärts? Er rannte mit dem Kopf an einen Mauervorsprung, in klebrige Spinnweben griff seine Hand. Ihn fror, Schweiß lief ihm über den Körper. Doch eine listige Freude war in diesem Erschrecken, eine Genugtuung. Es war ihm, als sei er nicht er selbst, als habe er keinen Teil an dem allen. Und nun empfand er es ganz, daß er aus dem plumpen 11 Geviert, das ihn umgab, niemals zurückkehren wollte. Der Todeswunsch langer Jahre stillte sein hämmerndes Herz. Violette Ringe tanzten vor seinen Augen und ein Feuer goldener Sterne. Ein Hustenkrampf schüttelte ihn. Er zertrat die Uhr, die ihm aus der Tasche gerutscht war. Ihr dünnes Glas knirschte unter seinem Stiefel.

Er war einer Ohnmacht nahe, als ein Lichtschein durch den Raum huschte. Das Mädchen war neben ihm. »Jesus Maria«, flüsterte sie, »was ist Ihnen?« Fragend, mißtrauisch sah sie ihm in das Gesicht, dessen Linien noch rein waren trotz den ersten Spuren der Zeit. Er stammelte zu seiner Rechtfertigung, daß er sich verlaufen habe. Dann folgte er ihr in den Kasemattenhof. An seinem Hut, seinen Kleidern war Erde und Staub, als ob er gestürzt sei. Hinter dem Monument des Generals de Souches säuberte er sich, schamvoll auflachend. Ein dumpfer Schmerz umflocht seine hohe Stirn mit eisernen Klammern.

Leer waren die Wege, die unter der Zitadelle sich im Gestrüpp verloren. In der Elisabethstraße traf Schandera einen städtischen Parkhüter, einen Studenten und dessen Liebste, deutsche Turner. Die Trödelläden wurden von Petroleumlampen hell. Durch das Rathaustor und eine Geschäftspassage kam er in die Ferdinandsgasse. In dem Restaurant, in dem er immer gespeist hatte, verlangte er die Prager Morgenblätter. Unaufmerksam, wie gelähmt, las er den Bericht über die Dienstpragmatik und die Parteien, die Obstruktion der Ruthenen und der tschechischen Agrarier. Er las seinen Namen, der einer der ersten im Reichsrat gewesen war und den seit fünf Jahren niemand hatte nennen wollen. Dieses nach öliger Schwärze 12 stinkende Papier druckte ihn in großen Lettern. Von neuem berichtete es über den Fall des Konfidenten Tersch, dessen Verbindung mit der politischen Polizei damals aufgedeckt worden war, über die Enthüllung des Abgeordneten Vojna, Dr. Josef Schandera, der Parteiführer, sei dieser Tersch, über die Verleumdungsklage Schanderas und den Freispruch Vojnas. Jetzt hieß es: »Der Abgeordnete Karel Vojna schwindelhafter Spekulationen überführt. Rehabilitierung des Dr. Schandera? Vor einer Wiederaufnahme seines Prozesses.«

Erinnerungen, die ihm noch deutlich waren, daß sie in jeder Minute ihn anstierten, trugen ihn zurück in den Saal des Weinberger Národní Dům. Unter dem Kranz mit den weißroten Schleifen, unter dem Bilde des Havliček-Denkmals beleuchteten die Flammen der Gaskrone die Züge eines Mannes mit struppigem Bart; Vojna war es, der seine Ausstoßung forderte. Zum tausendsten Male durchlebte er die Konferenz im Nationalrat, im Parterre des grauen Eckhauses am Franzenskai; und wie eine hartnäckige Zwangsvorstellung fiel ihm ein, daß Jahre hindurch, an jedem Morgen, hinter diesem Fenster der deutsche Besitzer mit offenem Mund, wohlwollend und pedantisch ein Rasiermesser von bläulichem Stahl sich an die Kehle gesetzt hatte. Er dachte an den regnerischen Märzabend, die angstvollen Blicke seines Sohnes Erik, die frechen Mienen des Hausmeisters, der um einen Wagen geschickt wurde, den gehässigen Hohn Vorübergehender, die Abreise nach Paris. Er hörte das Klappern der Teller, der Gläser, und wiederum schwanden ihm die Sinne. 13

 


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