Paul Wiegler
Das Haus an der Moldau
Paul Wiegler

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Am sechsten Dezember, des Abends, traf Schandera sich mit Erik in der Stadt, in der Bergmannsgasse, beim Deutschen Landestheater. Er führte ihn durch die Eisengasse zum Altstädter Ring, zum Nikolomarkt. Zwischen Rathaus und Teinkirche waren die Bretterbuden der Händler gezimmert, aus denen der Weihnachtsmarkt entstehen sollte. In den Kaufmannsläden baumelten heilige Nikolasse mit weißen Wattebärten, Bischofsmützen von goldenem Flitterpapier und bebänderten Ruten, schwarze Krampusse, rote Teufel, die lange rote Zungen bleckten, mit Höllenleitern, Ketten und Schlüsseln. An der Rathausuhr belagerten Kinder Stände mit Zuckersachen, Honigkuchen, deren verschnörkelte Buchstaben ewige Treue gelobten oder auf die Husaren geklebt waren, oder Sokoln.

Bilder waren um Schandera, mit harten Spuren in sein Gedächtnis eingegraben. Ferien, in der Herzenskälte der Internatsluft abgebüßt, Universitätsjahre hier in Prag, an den rohen Holzbänken des Carolinums, eine Weihnacht, die er im blakenden Licht seines Arbeitszimmers hindämmerte wie gebannt von geistiger Fallsucht. Entfremdet war seinem Ich das schmerzgewohnte Etwas, das dieses Leben des freudlosen Studenten gelebt hatte, des hungernden Phantasten. Und weiter zurück diese Kindheit voll Zaghaftigkeit, mit ersten Lügen, ersten Träumen. Wie konnte dieses Gesicht, das einst spitz und weich war, nun so zerfurcht sein, wie kam es, daß diese Glieder nun schwer waren, von Haar umwuchert, bemakelt? Mit einem Ruf des Schreckens zog er in der Karlsgasse Erik 52 an sich, als wollte er ihn nicht mehr freigeben; und Tränen schossen ihm hervor, weil er eben jetzt, grausamer als zuvor, an dem jugendlichen Hals den roten Rand der schlecht verheilten Wundmale gesehen hatte.

Eine Woche danach besuchten sie den Weihnachtsmarkt und den Tumult zwischen seinen Gängen. In den Buden waren Krippen ausgelegt, kleine, dickbäuchige Marien von Holz oder Gips, in blauen Röcken mit goldgelben Fransen, heilige Josefe mit Stab oder Eimer, Ochsen und Esel mit platt gedrücktem Maul, das rosige Christkind, darüber Sternenglanz. Heiser schrien sich die Marionettenspieler, deren Platz vor der Teinschule war und ihren vier Lauben. Dort gab es die Geschichte des Žižka. Harnische von Papier blitzten und die Krone des Kaisers Sigismund, Männlein in schwarzen oder bunten Lumpen schlenkerten die Arme, eine schöne Dame in Himmelblau piepte, eine andere, häßliche in Zinnober, und der unbesiegbare Held, einäugig, trug fünf Zoll höher als die übrigen seinen martialischen Klotzkopf. Wenn er den Mund auftat, weckte er Begeisterung. Nebenan prahlte von einem Puppentheater, dessen Unterbau Fässer waren, zwischen geflickten Säcken Babinsky, der große Räuber. Der geizige Müller winselte um Schonung, und die lächerliche Person war der Scherge des Königs, der erpicht war, den Babinsky zu verhaften. Dort drüben gab es das Spiel von Faust. Der Nekromant hatte vor sich seine okkultistischen Bücher, deren beschwörende Worte er murmelte. Wagner oder Fakner klopfte an die Tür, Pimprle, Fausts Diener, prügelte sich mit den Teufeln Pik und Mefistofeles, die dummen Bauern Vomačka und Cubičar, die in Fausts Höllennacht zum 53 Wächterdienst bereit sind, wurden um ihren Erwerb geprellt, und Pimprle war kein Kaspar mehr, sondern mit Flößerhosen und Mütze ein grober Pepik aus Podskal. Die Zuhörer, lehmfarben, kauerten im Hintergrund wie Erscheinungen. Manchmal barst ein Lachen, oder das Stück wurde unterbrochen, denn der Direktor beschäftigte sich mit dem Bierglas, und seine Frau sammelte die Heller ein.

Am Weihnachtsabend hielt eine Erregung, für die er in einem Briefe an Ljuba körperliches Unbehagen zum Vorwand nahm, Schandera der Wohnung in Smichow fern. Er sah in der Neustadt hinter den Scheiben die brennenden Bäume. Um sechs Uhr liefen alle Wagen der Elektrischen in die Depots; die schwingenden Geräusche setzten aus, die sonst die Straßen mit ihrem Netz überzogen. Schandera forderte am Bahnhof eine Karte nach Libotz. Er war allein im Kupee; niemand war an der Station. Eisiger Nachtwind blies über den Rücken des Weißen Berges, Krähen flogen auf. Im Schloßpark glotzten vor der Gastwirtschaft die Laternen eines Fuhrwerks.

Schandera rastete in dem niederen Lokal, mit Taglöhnern und dem in seinem Hammelpelz eingehüllten Kutscher; dann trat er ins Freie hinaus. Klar war der Nachthimmel über dem Park, über den Wiesen, über dem sternförmigen Schloßturm, irgendwo bellte ein Fuchs, unter ihrer Schneelast knisterten die Zweige. Die Straße nach Prag lag höher als die Abtei Břewnow, von der ein Glockenton kam. Die Häuser von Tejnka begannen, an den Steinhalden hingebaut. Auch hier hatten die Leute Christbäume angezündet, mit Paraffinkerzen, deren Licht durch die Scheiben zitterte. Es waren Maurer, Fabrikarbeiter, die Mieter der kleinen Läden. Beim 54 Kloster Strahow endete die Chaussee und beim Reichstor vor der neuen Landwehrkaserne.

In der tauigen Frühe des ersten Weihnachtstages holte Schandera Erik ab. Bei Ljuba, die um elf Uhr Probe hatte, war Frau Chmelova, die Friseurin, Manja badete. Der Baum, mit Glasfrüchten und vergoldeten Nüssen behangen, reichte vom Boden fast bis zur Decke. Erik zeigte dem Vater die Bücher, mit denen er von ihm beschenkt worden war, eine Taschenuhr, einen physikalischen Apparat; und mit einer Freude, die seine Knabenstimme umbog, packte er alles fort. Dann eilten sie durch die Aujezdgasse bis zum Kleinseitner Ring, und sie stiegen die zweihundertdrei Stufen der Schloßstiege hinauf zum inneren Burghof, zum Sankt Veitsdom. Kerzelweiber knieten hinter den Türen, bei den heraldischen Grabsteinen der adligen Geschlechter. Städtisches und bäurisches Volk stampfte über die Fliesen, zu den kupfernen Weihrauchkesseln und dem umgitterten Mausoleum und bekreuzte sich betend.

Orgelmusik rauschte von der Empore durch den ungeheuren Raum, durch Hauptschiff und Seitenschiffe, gegen die zwölf Kapellen, die Arkaden, die einander schneidenden Rippen des Triforiums, durch Chor und Presbyterium zum Hochaltar. Zwischen Priestern, Diakonen und Subdiakonen zelebrierte in der Herrlichkeit seiner weißseidenen, golddurchwirkten, purpurnen, von Juwelen schweren Gewänder der Kardinalerzbischof die Messe. Weihrauch umwogte das Altarkreuz, die vergoldeten Reliquienschränke, neunmal erscholl, von den an Gottes Brust sich werfenden Stimmen der Sänger und Sängerinnen ausgehalten, der Hilferuf des Kyrie Eleison 55 und in Reinheit das Gloria in Excelsis. Inmitten des warmen, flimmernden Lichtes sprach der Kardinal, die Hände gefaltet, den priesterlichen Gruß und mit gebreiteten Händen die Bittgebete, las er nach dem Hallelujah, während die Akoluthen mit den Leuchtern sich neben ihn stellten, das Evangelium, sprach er das Credo; weich und sonor war sein Bariton wie der eines Schauspielers. Vorwärts gingen bis zur Schnur, sich räuspernd, betreten starrend, die Gläubigen; es roch nach verlöschten Zigarren, nach dunstendem Leder, nach Pelzwerk und Armut.

Jetzt sang der Chor das Offertorium. Jetzt erhob der Kardinal Patene und Hostie, jetzt weihte er den Kelch, jetzt rüstete er, nach Händewaschung und Gebeten, sich zur überirdischen Darbringung. Jubelnd krönte das dreifache Sanctus die Präfation. Das Altarglöckchen läutete, das Volk verstummte, man sah nur den Kardinal, der gebeugt, unhörbar selbst dem Klerus, den Text des Meßkanons flüsterte, unter Altarkuß und Kreuzeszeichen. Jetzt legte er auf Kelch und Hostie die Hand, jetzt zinkte das Glöckchen den gnadenreichen Moment der Konsekration, der Wandlung in Christi Leib und Blut. Von unnennbaren, nicht mehr kindlichen Gefühlen wurde Erik durchschauert. Anbetend sank der Kardinal, die seidenen Gewänder raffend, nieder. Nun ergriff er die Hostie und den strahlenden Kelch, sie dem Volke sichtbar zu machen. »Per omnia saecula saeculorum« sang er, indem er weich den Ton dehnte. Er küßte die Patene, er brach die Hostie, er mengte sie mit dem Blut des Erlösers, die Stimmen des Chors begleiteten seine Verrichtungen mit dem Agnus Dei. Er aß von der Hostie, er trank das Opferblut, vollzogen war das Wunder der Kommunion. Das »Ite missa est« entließ die Gemeinde. 56

Schandera war mit Erik auf der Evangeliumseite des Presbyteriums geblieben, wo am Rande der Chorgestühle der erzbischöfliche Thronhimmel sich wölbte. Alles suchte Befreiung, was in seinem Herzen verschüttet war. Er mußte schnell den Pfeiler neben der goldenen Kanzel fassen. Taubheit riegelte sein Ohr zu, das Band mit der Welt zerriß. Aufschauend war er soeben der zeremoniellen Umkleidung des Kirchenfürsten gefolgt, der, von der Priesterschar umringt, die spitzenbesetzte Albe zurückgegeben hatte, das schimmernde Cingulum mit den kostbaren Quasten, die Stola, die Casula, und nun unter dem Thronhimmel lächelnd dastand. Jetzt rauschte er an den Harrenden vorüber zur Sakristei. Das Kardinalskreuz mit den zwei Balken glänzte seinem Weg voran. Er hatte die Pontifikalschuhe mit dem Kreuzemblem, den langen Mantel, dessen Schleppe die jungen Kleriker schleiften, die perlenbenähte Mitra von Goldbrokat, und seine Rechte, im Handschuh aus Goldstoff mit metallenem Rundschild, segnete die Frommen. Die Bischöfe kamen, der Erzabt von Emaus, die Domgeistlichkeit.

Im Gewimmel bat Erik den Vater, noch mit ihm durch das Gotteshaus zu gehen, und blutleer im Kopf erklärte ihm Schandera die farbigen Fenster, die Kapellenbilder, die Altäre, die Holzreliefs. Er zeigte ihm das Denkmal des Kardinals Schwarzenberg, die Sarkophage der Herzöge und Könige mit den abgehauenen Nasen, den zertrümmerten Fingern, den Grabaltar des heiligen Veit, das pompöse Silbergrab des Johannes von Nepomuk, auf seiner Marmorumfriedung die Gestalten der Verschwiegenheit, der Demut, der Liebe, der Heiligkeit, des Gehorsams, den Baldachin von rotem Damast, die silbernen 57 vier Engel, die goldenen und silbernen Lampen, die Bergleute mit den Grubenlichtern. Sie durchmaßen die Hallen des südlichen Seitenschiffs bis an die Wenzelskapelle, deren eisernes Tor nun offen war. Ein schwarzer Kirchendiener hütete den Eingang, die Wände von Achat, Amethystquarz, Chrysopras und Karneol, die verwitterten Malereien, den schlanken gotischen Turm des Reliquiars, den gehämmerten Eisenhelm, das eiserne, aus Drahtringen geflochtene Panzerhemd des heiligen Wenzel. In der Kreuzkapelle hing oberhalb einer Kniebank, verglast, das Vera Ikon, der auf Goldgrund gemalte byzantinische Christus. Rote Blutstropfen überrannen seine Stirn; beschwörend heftete sich auf Schandera der edle Blick der braunen Augen. Sie ließen ihn nicht los, bis er an dem geschnitzten Portal unter der Steinbrüstung des Oratoriums war, sie klagten, sie beschuldigten.

Vor dem gelblichen Erzbischofspalais auf dem Hradschinplatz wurde die Galakutsche des Kardinals hin- und herbewegt, schwarz gelackt, mit roten Rädern. Spatzen flatterten durch das entlaubte Gebüsch, um die Mariensäule. Schnee troff vom Dach der Paläste und des Karmelklosters. Zwischen den buckligen Häusern kletterte, mit tunnelartig vertieftem Durchgang, die Rathausstiege empor, bis zur Lorettogasse. Aufseher geleiteten einen Trupp in das plumpe Gebäude der Zwangsarbeitsanstalt, zurück hinter die mit Eisenstäben bewehrten Fenster. In ihren dunklen Flanelljacken, ihren weißen Zwillichhosen hatschten die Sträflinge daher, muckerisch oder dreist waren ihre Gesichter. Steife Kinderhände rüttelten an der Klingel einer Bäckerei, in der Mohnstriezeln lagen, Topfenkolatschen und Buchteln; Gevatterinnen 58 trugen ihren Suppentopf. Ein Kapuziner mit Vollbart, Kutte, bürgerlichem Hut und Regenschirm dankte für den ehrerbietigen Gruß des Wachmannes, der vor der Polizeistube spazierte. Artilleristen, braunröckig, mit roten Troddeln, in sonntäglichen blauen Hosen, langweilten sich am Eingang der Czerninkaserne, deren dreißig flache Säulen, einundachtzig Fenster umgrenzend, hinter dem sandigen Platz ragten.

Schandera führte seinen Knaben in den Hof der Lorettokirche, über die brüchigen Stufen des grauen Altans mit den grauen Steinfiguren. Nur angelehnt war die Tür der Kapelle, der Santa Casa; wie eine Höhle war ihr Inneres, von dessen Wänden es gleißte, als seien sie mit Stanniol belegt. Unter einem Mantel von Tauschnee fror, auf Wolken und Mondscheibe stehend, Engel und Christen zu ihren Füßen, die Madonna des grauen Barockbrunnens. Sie betrachteten die welken Heiligen in den wurmstichigen Schränken der Passionsgalerie, Sankt Florianus, der ein Ritter war, Sankt Rochus mit Holzstab, Kürbis, Muscheln, Jagdhund und Bart des Pilgers, Sankt Stapinus, den Bischof, der Schutzpatron gegen die Gicht ist, die weiße, verschnupfte Ludmilla, unter ihren Kronen Elisabeth und Katharina, Ottilia, deren graue Locken sich wie Raupen ringelten, Barbara, mit Schwert und gelbem Kleid, Rosalia, schwarz um die Augen, das Mieder violett, Blumen im Haar, eine Sterbende, über die ein Engel sich neigte. Halbnackt, in opernhaftem Büßerinnenwahn, vor sich den Totenschädel, beugte sich Maria Magdalena. Und in einer Seitenkapelle streckte ein spanischer Kruzifixus, ganz mit einem roten Sackhemd angetan, von echtem Barthaar umflossen, die müden Arme. 59

Es war ein Uhr. Droben in der Winterluft leierten, dünn wie eine Spieldose, die siebenundzwanzig Glöckchen von Loretto ihr Stundenlied. Erik lauschte, bis ihr feiner Singsang verhallte. Dann gingen sie, vorbei an dem rötlichgelben Rokokohaus mit dem kleinen Balkon im Dachgeschoß, den Säulchen auf dem zierlichen Postament, den Bildern der Luna und des strahlenhäuptigen Sol, vorbei an den alten Häusern der Nachbarschaft, den Hohlen Weg hinab, die Talstraße zur Nerudagasse.

 


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