Paul Wiegler
Das Haus an der Moldau
Paul Wiegler

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5

Manja ging unter dem kahlen Himmel durch die Villenstraßen von Bubentsch und sah in die Gärten. Amseln hüpften paarweis, eine schwarze und eine braune, zwischen niederem Gezweig. Ein Herr, der dem alten Ritter von Sonnenthal glich, schlief in einem Rollstuhl. Eine Dogge kläffte gegen den Zaun der Nachbarvilla. In einer Veranda, hinter grünen Glasscheiben, wurde Kaffee getrunken. Mit zerbrochenem Gipsfinger ihr Gewand zur Schulter ziehend, hockte inmitten eines Rondeaus die vom Wetter nasse Figur einer Göttin. Da, wo die Allee mit den schwankenden Wipfeln begann, schlugen Kinder Diabolo. Eine Frau hinter einer Hausiererlade und einem Bottich verkaufte schimmlige Gurken. Durch das für die Wagen geöffnete Gittertor erreichte Manja das Schloß des Statthalters, ein normannisches Kastell. Von da führte der Weg zum Baumgarten, den die Buntheit des Herbstes überflammte.

Drei Jahre war sie hier nicht mehr geschritten. Jetzt lag die Zeit in Wien schon abgetan zurück; und doch saß sie noch vorgestern am Mittagstisch der Pension Weininger in der Marokkanergasse. Sie hatte dort unter zwanzig, dreißig Menschen gelebt wie eine Gefangene, mit Fluchten in die Canovagasse, das Konservatorium und zuletzt 30 in die Roteturmstraße, ins Dramatische Theater des Direktors Farkas. Nachmittags speiste sie, hastig, unlustig zum Reden, im großen Eßzimmer der Frau Weininger mit dem porzellanenen Rokokoofen, den Fayencetellern und den Wiener Veduten, in das an ganz lichten Tagen eine trübe Helligkeit sich stahl. Immer waren Flecke auf den Tischtüchern, immer krächzte der Papagei, dem die Pensionärinnen, um der Frau Weininger zu schmeicheln, den ruppigen Kopf kraulten. Nachher übte Manja in ihrem Zimmer, das abseits war, neben der Küche; durchs Fenster hörte man die Lokomotiven der Stadtbahn pfeifen. Und immer klopfte einer der Mitbewohner an, die jetäugige Polnay, die Kommissionärsfrau aus Budapest, die, unter ihrem Leibesgewicht seufzend, jeden Nachmittag in einem anderen Zimmer sich zur Schwatzstunde einfand, die kleine Fischl, der Dr. Diogenide aus Saloniki, der ein Hochstapler sein sollte, oder Petera, der Pianist, ihr Prager Landsmann, der ihr seine Freundschaft aufnötigte. Sie hatte durch ihn eine Szene gehabt. Oft sperrte sie sich ein, unzugänglich, und ermüdete sich durch Studien. Vor zwei Jahren noch hatte sie Geigerin werden wollen. In der Musikakademie hatte sie die Klasse Rosé absolviert, mit einem Diplom war sie aus der Prüfung hervorgegangen. Indes sie ertrug das Instrument nur selten, es war ihr, als verrate es sie. Sie sprang aus und wurde Schauspielerin in der Klasse Heßler. Noch tat ihren Ohren bisweilen das Lachen weh, als sie bei einer Matinée jüngferlich streng, nicht buhlerisch girrend, die Worte der Salome gesprochen hatte: »Du warst der einzige Mann, den ich liebte, Jochanaan.« Auf das Zureden der zwerghaften Fischl, ihrer Mitschülerin bei Heßler, war 31 sie im September ein paar Abende bei Farkas aufgetreten. Sie hatte Dianette de Charance in der »Törichten Jungfrau« von Bataille gegeben, unfertig, an allen Nerven zitternd. Aber sie mußte vorwärts, über Prag vielleicht nach Berlin.

Ein Jahr war es her, daß ihr Stiefvater von Brünn aus sie besucht hatte. Indes sie dem Talgrund des Baumgartens sich näherte, der Landschaft der blassen Hängeweiden, Birken und Lärchen, dem Schwanenteich und seinen Stegen, dem Rosarium, besann sie sich darauf. Es fiel ihr nicht mehr ein, was sie beim Abschied im Bahnhof miteinander gesprochen hatten, und es überraschte sie, daß etwas wie Haß sich in ihr regte.

Schandera, den sie durch eine pneumatische Karte hierher bestellt hatte, kam von der Station der Tram. Als sie zum Restaurant einbog, erkannte er sie. Verlassen war die Promenade, in der zur Sommerzeit die Blechmusik der Militärkapellen jubelte und deren Rand dann, Strauch für Strauch, von purpurnen und schwefelgelben Blütenballen überschwoll. Niemand war im Restaurant als ein Kellner, der eine Rennzeitung las. Sie ließen sich am Eingang nieder. Manja zwang sich zu lächeln. »Was ist dir?« fragte sie, als seine Hand die ihre drückte. »Ich bin froh, daß du da bist«, erwiderte er, unsicher durch ihre Wandlung. Er zürnte den Jahren, die ihn mitleidlos von den Seinen entfernt hatten.

»Erzähle!« sagte er, »was ist mit Erik?« Sie antwortete: »Er wird in vier Wochen hier sein. Gebessert hat es sich nach dem Drüsenschnitt, meinte der Doktor Oransz.« »Und die Mama?« forschte er rauh. »Ich war im Theater, ich habe sie gesehen. Willigt sie ein?« »Nein, noch nicht. 32 Du darfst dich nicht wundern, daß sie es bedenkt nach allem, was passiert ist.« »Ich darf mich nicht wundern, recht hast du«, wiederholte er. Sie griff nach ihrem Teeglas, und er sah die Herbheit und Reife ihres Mundes. Hatte auch sie schon unheilbare Enttäuschungen?

»Wie war es noch in Wien?« fragte er. Sie sagte ihm ohne Zuversicht ihre Pläne. Dann brach sie ab, mit Ungeduld: »Oh, es ist weit zum Ziel!« »Manja«, flüsterte er. Er hatte, wenn er in den Brünner Glacisanlagen saß oder am Spielberg, diese Zusammenkunft vorweggenommen. Nun hatte er zu sehr darauf warten müssen. Vom Talgrund stieg ein bläulicher Schein. Er bat: »Geh noch mit mir nach Troja! Wirst du mich benachrichtigen, wenn das Telegramm von Erik kommt? Ich werde ihn mit dir nach Hause bringen.« Er hielt ihr den Pelzkragen hin. Sie nickte und drehte sich weg, stumm widerstrebend; und er beobachtete, als sie ihr Gesicht überpuderte, wie in ihren verschleierten Augen ein Licht glomm und verschwand.

Durch die Grotte unterhalb der Promenade, durch die zementierte Höhlung, von der das Wasser tropfte, gingen sie in den Baumgarten. Hinter ihnen verdämmerten die normannischen Burgzinnen der Statthaltervilla. Nichts hörte man als von der Trambahnstation das Singen der Motorwagen, die verschoben wurden und von deren Leitstangen die Funken sprühten. Grau war der Nebeldunst über dem Boden; doch mit braungoldner Glut, die von Asche bestreut schien, stachen die Chrysanthemenbosketts hervor. Eine Equipage mit trabenden Schimmeln jagte nach Bubentsch oder dem Belvedere zu.

Sie waren am Eisenbahnübergang. Von der hohen Schleusenbrücke kamen Arbeiter mit 33 Zimmermannsgeräten. Farblos glitzerte der Moldaukanal. Ein Fohlen schrie, das inmitten einer Koppel weidete. Scharen von Dörflern aus Podhor und Bohnitz harrten an der Moldaufähre, die, stark durch das Drahtseil, über den rauschenden Fluß glitt. Sie betraten den Garten von Troja, dessen Wiese vom Laub der Obstbäume gesprenkelt war, sie standen vor der Galerie der rottönernen Barockbüsten, der antiken Kaiser und Kaiserinnen, die noch immer majestätisch sich an der morschen Treppe reihten. Manja schwieg. »Es ist Zeit«, sagte Schandera. Der Mond umspann die Bäume, das Netz ihres Astwerks.

Sie fuhren gemeinsam mit der Elektrischen nach Prag. Seit einer Woche demonstrierte die Menge in den Straßen. Vom Ausstellungsplatz erklang der Chor des »Hej Slovane«. Ein kleinerer Haufe, der die wehmütige Kadenz des »Kde domov můj« anstimmte, zog durch die Rudolfstraße. Wachmänner ritten gegen ihn, Steine prasselten auf die Hahnenkämme ihrer Hüte. Bis zur Hetzinsel bewegte sich der Wagen langsam vorwärts. Allenthalben strömte es aus den Seitengassen. Hinter dem Nordwestbahnhof gab es eine halbstündige Verzögerung. Ein Chaos erfüllte den Wenzelsplatz. Die Berittenen teilten die Rotten; aber sooft der Platz geräumt war, barst von neuem die lebendige Schutzkette, wogte von neuem das Chaos. Endlich rückte der Wagen auf die Nordseite vor. Manja hatte dagesessen, einen unsteten Schimmer in den Augen. Schandera begleitete sie bis zum Palackykai, bis zu der Brückenmaut und der Statue der Libuša, die, eine mystische Prophetin, in den Novemberabend ragte. Dann stieg er aus. Er schwenkte in der Richtung der Wassergasse um. 34

Der Wenzelsplatz war jetzt vom Spinka bis zur Mariengasse frei von Menschen. Polizeitrupps sperrten ihn ab. Doch schon brandete vom Čelakovskypark, vom Museum, das Volk der Außenbezirke, das zu einer Schlacht sich gegen den Graben wälzte. Nochmals setzte das Steinbombardement ein. Schandera stand im Portal des Café Metropole. Frauen zeterten und lachten, ein Lehrling da vorn an der Laterne brüllte. Jetzt machte er einen Hechtsprung wie im Schwimmbad, den Kopf nach unten. Ein Schuß krachte. Da schmetterten Hörner. Die Dragoner sprengten heran, die in ihrer Kaserne beim Porschitsch konsigniert gewesen waren. Es folgte eine tiefe, atemlose Stille. Dann schleuderte ein Offizier mit goldener Schnur um den Krimmerkragen einen Befehl, zum ersten Mal, zum zweiten. Gäule wieherten, gezückte Säbel blitzten auf. Der Offizier befahl ein drittes Mal. Plötzlich brauste die Attacke der Reiter mit den roten Mützen und den roten Hosen über das Pflaster. Ein Zorngeheul, ein Rasen und abermals die tiefe Stille. In die Durchhäuser, die Bierhallen, in die Heinrichsgasse stob alles auseinander.

Vom Palais Ährenthal bis zur Pštroßgasse schleppte Schandera sich, als seien ihm die Knie gebrochen. Er war in dieser Woche aus dem Hotel Europa in ein Haus der Adalbertgasse übersiedelt, zu einem Ehepaar Netolicky. Unter einem Kreuz vor dem Pfarramt der Adalbertkirche brannte die ewige Lampe; Beterinnen haspelten ihre Rosenkränze ab. Die Mägde klatschten mit den Selcherburschen. Es war ein Gerücht, die Menge habe schwarzgelbe Fahnen zerrissen. Hausmeisterinnen mischten sich ein, man schloß die Tore.

Schandera lag auf seinem Bett, bis die Tauben um das 35 patinagrüne Kupferdach der Kirche kreisten und am Fensterbord gurrten. Es war sieben Uhr morgens vorbei. Nun ging er neben Ljuba am Strand der Adria. Sie war jung wie damals, als er mit ihr nach Korfu reiste. Sie hatte das Haar aufgelöst, sie bückte sich, und ihre Finger spielten mit den Wellen. Beklommen schauten seine Sinne ihre nackte Schönheit. Da aber war nicht sie, sondern Manja neben ihm. Durch seine Adern floß ein Beben des Glücks. Noch im Erwachen, als die Schatten der Wirklichkeit sich senkten, überließ er sich, erleichtert von der Last des Tages, der Lockung des Traumes. Dann verflüchtigte sich der Traum wie Rauch, und er wußte nichts mehr von ihm.

Um acht Uhr brachte der Postbote einen Brief Eriks aus Agram: »Lieber Papa, ich bin froh, daß Du mit der Mama wieder gut bist, und daß wir uns bald in Prag sehen werden. Ich danke Dir, daß Du mir so oft geschrieben hast. Ich bin noch ganz dunkel von der Sonne und ganz verschlafen von der Liegekur bei Doktor Oransz. Es war herrlich im heißen Sand von Grado. Wir hatten eine Kabane gemietet, fern vom Stabilimento, wo es leise nach dem Schlamm der Lagune und nach den Meerestieren roch. Täglich gab es Strandmusik, die nur ganz schwach zu uns drang, und Seeserenaden mit Feuerwerk, und ich schlief ein, in einer Mansarde nach der Via ai Bagni, auch das Gesumme der Kurgäste draußen in der Allee weckte mich nicht. Stundenlang habe ich den Gradesern zugesehen, wenn sie mit ihren ockergelben lateinischen Segeln abfuhren und wenn sie dann in den Hafen wieder einliefen und unter der Porta Grande die armen, zappelnden Fische mit den goldenen Pünktchen 36 in den Augen, die schönen Fische verkauften. Kennst Du die Zisterne, die Mosaiken im Dom, die Madonna auf der Insel Barbana? Ich habe Ansichtskarten von allem. Im September sind wir hierher zurückgereist. Die Großeltern werden nur noch bis zum Frühjahr in der Erdedijeva wohnen, dann ziehen sie nach dem Weingut auf dem Kraljevec. Die Großmutter hat ein Bild von der Mama aus der Zeit, wo sie als Kind bei den Klosterfrauen in Sarajevo war, und dann, wie sie das erste Mal hier in der Oper auftrat, mit langen Zöpfen. Ich liebe die Mama, und ich liebe Dich, Papa, und ich bitte Dich, gehe niemals von ihr! Laßt mich immer bei Euch! Auch eine Photographie von Mamas erstem Mann hat die Großmutter mir gezeigt, als Oberarzt. Kolomea, 11. Mai 1895, steht darunter. Ich habe nur noch bisweilen etwas Schmerz in der Brust. Doktor Oransz hat gesagt, das wird vorübergehn. Der Schnitt am Hals ist gut vernarbt. In einer Woche werde ich abfahren. Die Großmutter bringt mich nach Wien und setzt mich dort in den Prager Zug. Lieber Papa, mitunter habe ich ein wenig Angst. Nicht wahr, Du bist mir nicht böse, wenn ich Dir das schreibe?«

 


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