Paul Wiegler
Das Haus an der Moldau
Paul Wiegler

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Dr. Brandeis ordinierte in der Hibernergasse, in dem Palais Kolowrat, dessen Hoftrakt jetzt die Zeitung und die Parteibuchhandlung der Sozialdemokraten 117 beherbergte. Im Laden des Erdgeschosses nach der Straße zu vergilbten Broschüren, deren Titel die wirtschaftliche und politische Revolution ankündigten. Flugblätter, auf denen, ihre Geldsäcke unter sich, Kapitalisten thronten, andere, auf denen ernste Frauen, Männer des Volks mit freier, muskulöser Brust, frohe Kinder über eine blühende Wiese wandelten, umrahmten das Bild des löwenmähnigen Karl Marx, die Büste des Svatopluk Čech, des Dichters der »Sklavenlieder«. An der Hofseite keuchte der Auspuff der Gasmotoren, die die Schnellpressen trieben, und inmitten des seiner großen Bäume beraubten winterlichen Gartens wurde eine Restauration für die Parteivereine gebaut. An den Galerien der oberen Stockwerke lagen die Kontore einer Schuhfirma und eines Exportgeschäftes für Bleikristall.

Vom Zimmer des Arztes, wo das Ölporträt eines grauhaarigen Rabbiners mit Goldbrille und violettem Samtkäppchen verblichenen Familienhausrat bewachte, sah man den Eingang des Hotels Europa. Der Zahlkellner, die Hand in den Frackschößen, sprach mit dem Friseur von nebenan, der Schandera damals bedient hatte. Die Elektrischen, die Fiaker, die Frachtwagen rollten wie an jedem Vormittag dem Staatsbahnhof zu. Die Pferde hatten Dampf vor den Nüstern, es war schon sehr kalt. Jetzt wurden aus den Büros die Lehrlinge um Bier und Würsteln geschickt. Dort, im zweiten Stock, in der Anstalt Securitas, feilte sich eine junge Maschinenschreiberin, die einen karierten Rock anhatte, die Nägel. In einer Stube des Hotels wusch ein kahlhäuptiger Reisender sich die schwarzbehaarte Brust.

Schandera blätterte in zerlesenen Nummern einer 118 deutschen Zeitschrift. Mit ihm saß noch eine bürgerliche Frau da, papageienartig die Züge. Eine Uhr hämmerte zehnmal, blechern schrill. Hinter der Portiere entließ Dr. Brandeis ein junges Mädchen. Nun stand er, phsysiognomielos lächelnd, in der Tür. An seinem Pult machte er sich schnell Notizen zum letzten Fall, dann sagte er mit Vorsicht: »Ich habe untersucht, was zu untersuchen war, und darf es Ihnen nicht verhehlen: eine gefährliche Rezidive. Wohin er im Frühjahr sollte, darüber kann ich mich noch nicht äußern. Aber zweifellos ist ein neuer Schnitt in die Halsdrüsen und mehrwöchentliche Heilung in einem Privatspital dringend notwendig.« Schandera sagte in ruhigem Ton: »Kann es in Prag sein?« Dr. Brandeis überlegte: »In Prag selbst weiß ich nicht, wo ein Platz wäre, aber vielleicht in Duhanitz, bei Doktor Geyer. Ich spreche ihn am Samstag in der Ärztegesellschaft. Sie haben bis Montag von mir Bescheid.« Schandera blickte auf Flaschen, Wattebausche, spitze Instrumente. Mit leeren Worten dankte er. Erst vor der Schwelle des Ordinationszimmers kam er zur Besinnung.

Daheim traf er an diesem Abend Erik außer Bett. Er wollte morgen ins Gymnasium. Schandera mußte ihn nach und nach darauf vorbereiten, daß er noch zu fehlen habe; und Erik fügte sich, nicht ohne staunende Bangigkeit. Der Reflex der Lampe beschien seinen Mund, sein glattes, weiches Blondhaar. »Wenn ich nur rasch die Erkältung los bin«, sagte er geduldig. Er preßte die Stirn an das Fenster, das an einen Winkel der Hauswand grenzte. Auf der Seite gegenüber waren Küche und Pawlatsche. Milada wurde dort sichtbar im Seifendunst, und nun bog sie sich singend, um Polster auszubürsten, zum Geländer 119 heran. Erik nickte vertraulich; dann schloß er den Vorhang. Nun ging die Glocke des Korridors. Ljuba war es, sie hatte spielfrei. Ihre Lautheit bezwingend, nahm sie, was Schandera ihr mitteilte, hin. »Ich habe es gleich geahnt«, murmelte sie, »daß uns eine Prüfung bevorsteht. Ist Erik unterrichtet?« Schandera sagte ihr, daß er ihn nicht in alles eingeweiht habe. »So will ich jetzt zu ihm gehn«, erwiderte sie.

Schandera blieb zurück, mit rebellischem Herzen. Nach zehn Minuten rief ihn Ljuba in Eriks Kabinett. Er fand sie im Mantel, ihre Pakete auf dem Tisch. Die Hände hatte sie um den Knaben geschlungen, der scheu ihm entgegensah. »Er wird tapfer sein, unser Bub«, tröstete sie, »und bald ist er dann wieder bei uns.« Fast konnte Schandera, als er ihm nun sacht die Zweckmäßigkeit und Harmlosigkeit der ärztlichen Vorschriften naheführte, glauben, daß Erik seine Furcht langsam vergesse. Aber bleich und hager waren im Lampenlicht die Schläfen des Jungen.

Schon am Sonntag schrieb Dr. Brandeis, daß Schandera am Dienstag mit dem Patienten im Werkspital von Duhanitz sein möge. Es war eine Station im mittelböhmischen Grubenrevier, an einer verstaatlichten Strecke. Eine zweistündige Eisenbahnfahrt brachte sie dahin. Nur ein Zug ging morgens, der um sieben Uhr vom Staatsbahnhof abgelassen wurde. Als Schandera mit Erik um sechs aufstand, war noch tiefe Nacht, frostig in der Unordnung der Stuben. Im steinernen Treppenhaus schloff ein Kind der Zeitungsfrau umher, ein halbwüchsiger Mensch, der einen Semmelkorb trug, schwang gegen die Wohnungen seine Laterne. Am Kai war nasse Finsternis 120 und ein Wirbel von Schneeflocken. Es rauschte vom Flußwehr.

Jetzt lief über die Palackýbrücke die leuchtende Spur der Straßenbahn, jetzt glitt sie den Kai entlang. Sie stiegen, da der erste Wagen voll war, in den zweiten, den für die Raucher, durch dessen Tür der Dunst der schlechten Zigarren und Pfeifen sich wälzte. In der Myslikgasse, in der Wassergasse schoben sich immer neue Passagiere hinein. Und nun zerstreuten sie sich in der von Stummeln, Speiseresten, Papier noch starrenden Bahnhofshalle.

Umständlich rangierte der Zug, die Beamten trotteten über den dritten Perron, an dem die Lokomotive, auf die zusammengeduckten Waggons aufdröhnend, mit Gezisch sich festlegte. Schandera erklomm mit Erik das Trittbrett der zweiten Klasse. Er breitete ihm eine Plüschdecke über den schwarzen Ledersitz. Bläuliches Zwielicht stahl sich in das Glasdach der Halle, bis an den Messinghebel der Notbremse und die Papptäfelchen mit den doppelsprachigen Kundmachungen. Ein Gendarmerieoffizier, ein Landwirt mit dicker Joppe und eine vorwurfsvolle Dame mit einem Luftkissen, einen Schleier um den Kopf, besetzten die andere Bank. Der Zug fuhr ab. Oben in der Blockstation schnupperte ein Hündchen in den grauen Schneehimmel. Güterwagen mit hölzernen Milchgefäßen wurden entleert. Die Straßen von Karolinenthal zeigten sich, das Theatervarieté, eine Steinwüste zwischen den Nebenläufen der Moldau, die Hetzinsel, Gasometer, der Park der Ausstellung. Zwischen den Fabrikvororten streckte sich mit dünn verschneiten Furchen Ackerfeld um Ackerfeld. 121

Der Bahnhof von Duhanitz war von der Stadt dreiviertel Stunden fern. »Werkspital«, sagte Schandera zu dem bäurischen Kutscher, der noch übrig war und der eine blaue Soldatenkappe hatte und den schäbigen Pelz eines Muschik. Erlen umfaßten die Chaussee, ein Dorf sandte bis zu ihr versprengte, niedrige Häuser. An der Wegscheide umklammerte eine Heiligenfigur, slawisch trauernd, ein gußeiserner Johann von Nepomuk, den Schaft eines Kruzifixes. »Hostinec«, stand unter einem rosa getünchten Giebel. Mehrmals machte die Straße große Kurven. Schwarze Krähen schwirrten auf. Im Hintergrund Schornsteine, Brücken und Kühltürme, Grubenwagen an Drahtseilen, die kreisenden Räder der Fördermaschinen, Hochöfen und Krane, Rohre und Aufzüge, eine Kokerei und rauchende Halden, weit vorgelagerte Schlackenberge und ringsum schwelende Feuer, die Gruben von Duhanitz.

Lange Bretterzäune begannen. Arbeiterfrauen in Trupps und einzeln, mit Kinderwagen und Holzschlitten, Arbeiter, durch Tag- und Nachtschichten ausgemergelt, stapften mit ihren Eßtöpfen durch den Schneeschlamm. Ein Leiermann, in dessen Mantel, sich wärmend, ein kleiner verhungerter Affe in betreßtem Jäckchen stak, trug seinen Musikkasten. Erloschene Gesichter spähten, als die Droschke an den Hütten vorbeistolperte. Abermals »Hostinec«, »Hostinec«, ein Tanzsaal, Gebäude, die mit der Kärglichkeit ihrer Ziegelmauern Villen gleichen wollten. Der weiße, stille Spitalshof.

Die Mietkutsche hielt vor der Hauptpforte. Ein Einarmiger, der Verwalter, öffnete den Wagenschlag. Schandera entlohnte den Kutscher und wies ihn an, um zwölf 122 Uhr zur Stelle zu sein. Dann trat er mit Erik in das hohe Vestibül. Eine Palme und ein Öldruck, auf dem ein vornehmes Fräulein, in der Mode der achtziger Jahre, den Rollstuhl eines rekonvaleszenten Obersten geleitete, färbten die Nüchternheit des Raumes. Leichtkranke in blauweißen Kitteln, linnenen Hosen und Filzpantoffeln scharten sich im Quergang. Zwei Schwestern mit der Strenge von Matronen gingen vorüber. Golden glühte hinter Glas etwas, aus dem ein Klingen von Geräten drang, der Operationssaal. Der Verwalter tat die Tür eines grauen Zimmers auf; nichts war darin als ein Diwan und ein Waschtisch. Erik flüsterte: »So einfach ist das hier.« Dann schien er zu horchen. Eine Stimme, ein rauher, jovialer Baß, zankte draußen mit dem Verwalter. Ein sehniger und großer Mann mit kurzgeschnittenem Haar, auf der Nase eine Hornbrille, unter der ein schiefes Augenpaar sprang, das Kinn von pechschwarzem Bart verdeckt, stürmte ins Zimmer. Das war Dr. Geyer, der Primararzt. Herrschsucht verriet sein Gebaren, wie er jetzt über Maßnahmen der Zentraldirektion vom Verwalter Rechenschaft heischte, und grimmige Menschenverachtung und dennoch unverstellte Güte.

Schandera nannte ihm seinen Namen. Er stutzte, dann hieb er sich gegen den Schädel: »Aber ja, Doktor Brandeis, ich weiß schon! Und das ist unser Patient!« Er streichelte Eriks Hand und ermunterte ihn mit kleinen Torheiten. »Na, wo werden wir dich oder Sie nun logieren? Krupka, Zimmer sechzehn! Rasch, rasch, in einer Stunde muß alles fertig sein. Geh' mal mit der Schwester Vinzentia, die wird dich herumführen. Schwester Vinzentia!« Sie hatte nicht die asketische Würde der vorigen. Ihr Haar quoll 123 aschblond aus der Flügelhaube. Doch es war, als sei sie durch irgendein Entsetzen ihrer Jugend verlustig geworden. Mit Erik ging sie die Treppe hinauf. »Herr Doktor Schandera«, wiederholte Dr. Geyer. »Es ist Ihr eigener Sohn? Und war er bei Oransz im Sanatorium? In Grado? Seit wann kränkelt er? Hat er Appetit? Erzählen Sie!« In seinem weißen Ärztemantel flatterte er von Wand zu Wand. Die schiefen Augen sprangen, als wollten sie sich in Schanderas Inneres bohren. Mit Unbehagen fühlte dieser den saugenden Blick. Aber Dr. Geyer trat vor ihn hin: »Sind Sie denn selbst gesund? Ich kenne Sie aus der Zeit vor zehn Jahren. Struppiert sind Sie reichlich! Na, sie haben ja Ihnen wohl angetan, was sie konnten, die Ehrenwerten. Wie ist es, frühstücken Sie mit mir?«

Im Ärztezimmer saßen der blasse, überbildete Dr. Kafka, der mürrische Dr. Hilbert und der fast noch studentische Dr. Neliba. Indes Dr. Hilbert in den Morgennummern der Prager Zeitungen las, sprachen die anderen über die Literatur und das Theater. Mit ärztlichen Zynismen über die Seele der Frauen polterte Dr. Geyer dazwischen. Schandera sah in den Spitalshof, auf Baracken und eine Kapelle. Das Wort »Sterben« fiel ihn an. Warum war er hier an diesem Tisch mit Selchfleisch, Biliner und Brot statt drüben bei Erik? Er entschuldigte sich und hastete hinaus. Der Knabe hatte ein lichtes, geheiztes Zimmer. Die Schwester Vinzentia sorgte für ihn. Doch es wurde ihm offenbar schwer, sich an die neue Umgebung zu gewöhnen. Mutig hielt er sich, als Schandera mit der Zusage, er werde bald nach Hause entlassen werden, die Tür schloß.

Dr. Geyer stürmte zur Treppe: »Also, ich weiß noch 124 nicht! Telefonieren Sie in acht Tagen bei mir an!« Sein schwarzer Kopf verschwand. Der Kutscher war wieder da in seinem russischen Schafpelz. Das Glöckchen der Kapelle bimmelte durch die graue Luft. Der Einarmige grüßte, das Pferd zog an. An einem Fenster stand Erik, den Zipfel seines nassen Taschentuchs zwischen seine Zähne stopfend.

 


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