Paul Wiegler
Das Haus an der Moldau
Paul Wiegler

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Das war der Frühling, der traurige Frühling um Prag. Mit häufigen Bahnfahrten für Erik zur Mutter nach Krtsch, wo sie in einem Sanatorium am Wald sich in die Gewißheit fand, daß sie nie mehr würde spielen können. Und als sie nach Roztok übersiedelte, den Besuchen bei ihr in einer Villa dicht bei der Maximilianka. Sie schliefen in lauwarmem Sonnenlicht auf den Wiesen, unter den Birnbäumen, deren weiße Blüten der Ostwind, tagelang wehend, schüttelte. Oder Erik kletterte, wenn er schon mittags von der Schule frei geworden war, allein in die Felsen, und plötzlich kam im Stillen Tal, seinen Strickstrumpf vor sich, mit Hund und Herde lautlos ein Schafhirt ihm entgegen. Im Mai ging Schandera mit ihm bei Podbaba hinein in die Šarka. Die hohen Ufer der Moldau waren gelber und grauer, von der Flut unterwaschener Sand. Bis zur Eichmühle dehnte die Landschaft 150 über dem Šarkabach sich friedlich. Aber dann wurde sie die zerklüftete, wilde Einöde des Dzban, der Wolfsschlucht; und Geschichten umgaben das Matthiaskirchlein auf seiner Kuppe und Sankt Johann im Dorn, die Pfarrkirche von Nebuschitz, die Gräber aus der Zeit der Pest, die Kozakova Skala mit ihren heidnischen Opferstätten. Steinklopfer, Horngläser vor den Augen, duckten sich über Geröll, und der trostlose Takt ihres Pochens hallte bis zur Wegbiegung nach. Eine Hutweide, ein Johann von Nepomuk ohne Kreuz, Kamillen an einem Zaun und breite Linden. In einer Schmiede lohte das Feuer. Der Abend war noch kühl an den Tischen der Generalka.

Erik glaubte, er sei ganz gesund. Aber er war lässig im Gymnasium und nur der Lektüre hingegeben, den Versen der Dichter, der Träumerei. Pulpan, der Direktor, nahm ihm die Hymnen von Březina fort und verwarnte ihn. Jüngere Professoren waren seit Ostern die Lehrer der Klasse; alle sahen sie an Eriks fragenden Augen vorbei. Seine Gedanken schweiften ab zu den Zetteln, die ihm seine Nachbarn in die Hand steckten, und zu den verschlungenen Schriftzeichen, den gemeinen Bildern, die sie in die Bänke kratzten oder draußen in den Kalk über den öltriefenden Wänden des Aborts. Der Katechet strafte ihn. Doch sein Herz erschloß sich der ängstigenden Feierlichkeit der Beichte und der ersten Kommunion in der Kreuzherrenkirche. Und sanft beglückend war noch immer der Fronleichnamstag oben auf dem Hradschinplatz. Mit Fichtenreisern, zerschnittenem Buchs und Blumen an vier Altären, mit Lilien, Kerzen und Madonnenstatuetten an den Fenstern bis hinab zur Neuen Welt. 151 Mesner und Diakone begannen die Prozession, sie und die Ministranten in ihren roten Hemden hielten Kruzifixe, Banner, Glocken und Weihrauchkessel. Schulkinder, Vereine, ein Oberst mit einem Toupet und seine Offiziere mit pflichtmäßigen Mienen, Beamte der Regierung und der Post, der Chor, die Geistlichkeit im Ornat reihten sich an. Ein Priester unter goldgefranstem Baldachin schwang die Monstranz und kniete mit ihr vor den teppichbedeckten Altären. Der Chor sang das »Tantum ergo«. Kleine Mädchen mit blauseidenen Schärpen, Kränzchen in den Haaren, streuten aus Körben Blumen. Und es war nicht nur der Ritus, das Geläut, das Böllerkrachen, das Gepränge, es war der Sommer in seinem Leuchten und seiner Kraft; und für Erik die Wehmut eines Abschieds.

Im Juni hatte Schandera in Geschäften der Grundbank in Prahonitz zu tun, wo eine Zuckerfabrik lag, und da Erik den Tag versäumen durfte, so nahm er ihn mit hinaus. Das Stationsgebäude des Dorfes war von Efeu umrankt, in dem Spatzen spektakelten, Pappeln umrandeten die Chaussee, auf den Äckern schmarotzten zwischen den Kartoffeln Rittersporn und Mohn, Federn von Fasanen aus einem nahen Herrschaftspark kräuselten sich im trägen Windhauch. Viele Frauen standen in den lehmigen Rübenfeldern. Die Fabrik hatte ein Gittertor und einen koboldhaften Portier. Im Hof knarrten Wagen auf der Brücke vor dem Rübenspeicher. Frauen hantierten mit Gabeln und Schaufeln vor dem Elevator, Frauen standen an der Schneide und an der Diffusion, der Bagger, die Rotationsmaschine, Pumpen und Saturanten bewegten sich, Riemen klapperten. Frauen bedienten Osmogen im 152 Sudraum, wo der Sirup brodelte, im Laboratorium wurde Maisch gefiltert, gläserne Walzen für den Rübensaft und Kolben wurden gereinigt, eine Lampe erhellte den Polarimeter. Aber Erik, der sich darauf niederbeugte, war verstört. Denn er hatte den Boden der Fabrik betreten, als der Magazinist eines der Scheuermädchen in eine Ecke drängte; und ihn schauderte vor der Klarheit über das, was ihm bisher Geheimnis war. Sie aßen im Beamtengebäude; dann kehrten sie in einer Kutsche mit einem Rappen, den der Direktor anschirren ließ, nach Prahonitz zurück. Im Hof sammelten sich Arbeiter und Arbeiterinnen. Das Scheuermädchen, in unsauberem Faltenrock, mit Hirschlederstiefeletten war darunter und lachte Erik an. Ein schütteres Gehölz mit einem Rand von Schlehen und Birken lehnte sich an einen Fluß. Die Sonne setzte aus. Kuhfladen trockneten, Bremsen stachen das Pferd. In einer Schenke disharmonierten zwei Bassetts und ein Bombardon.

Das war die Moldau, der Juli, mit den Dampferpartien der Sonntage. Die Motorschiffe füllten sich noch in Branik, vor den von graubrauner Asche verdreckten Ofentürmen der Zementwerke, und fuhren bis Kuchelbad. Unten am Strom, durch den Staub der Straße von Slichow her, beförderten Kolonnen von Equipagen und Autos ihre Eigentümer und Mieter zu den Rennen. Signale gellten über die Flächen verbrannten Grases, die Hürden entlang wippten und schaukelten, gleich Strichen dahinfliegend, die bunten Kappen der Jockeis. An den Terrassen und auf dem Berg waren Wirtsgärten mit Konzert und Tanz. Die Grillen zirpten in den Sauerampferwiesen. Der Wald schützte das Kirchlein und bot sein 153 Wipfeldach bis zur Beraun und nach Königssaal. Oder man stieg in Zavist aus und saß beim Förster oder wo die Dampfer landeten. Die Flußmatrosen warfen Seile um die Pfosten, die Kapitäne auf den Kommandobrücken salutierten, es roch nach Teer von den Brettern der Badeanstalt. Schwimmer sprangen ab und hieben mit den Beinen in die Flut. Angekettete Nachen rieben sich an den Pfählen. In der blassen Untiefe, in der jedes Mooshaar, jede Alge, jedes Steinchen ein grünlicher Fleck war, huschten Stichlinge und stoben davon, wenn etwas sich regte. Libellen paarten sich in der Luft, die wie siedendes Zinn glühte, und sanken, ohne sich trennen zu können, in die Weiden.

Man fuhr noch stromaufwärts über Wran, über die Insel bei Dawle mit ihrem Benediktinerkloster, über die Mündung der Sazawa. Die Sandeimer der Baggermaschinen waren umgestülpt, als schöpften sie noch. Die Ufer waren rötliche Felsen, und im Schwall der Ausflügler, die geschwätzig sie anstarrten, vertiefte sich die Empfindung der Einsamkeit. In den Wäldern bei Stiechowitz endete die Dampferstrecke. Pferde zogen die verlassenen Kähne. Man ging über schmale, von Tannen verdunkelte Pfade. Haselnußgesträuch und Faulbaum waren im Unterholz, nur ein Häher schrie. Bei einer Johannesstatue ankerten die Kähne. Nun glitten sie abwärts zwischen Klippen, über Wogentrichter. Die Sonne ging zur Neige. In purpurnes Licht tauchte sie die offene Moldau. Gegenüber Sankt Kilian wateten drei Menschen bis an die Knie im Wasser, zwei Männer und eine Frau; und die Brüste des Weibes glänzten in Nacktheit. Ein Dampfer nahte in der Gegenrichtung, man winkte mit Tüchern. Ruderboote 154 schossen heran. Die Last von Hunderten, die heimwollten, beschwerte in Dawle den Landungssteg.

Die Abendschatten wuchsen, die Farben entfärbend, und mit ihnen wuchs der unentrinnbare Gram. Schandera und Ljuba, die nichts sprach, saßen an Deck und von ihnen entfernt, da wo die Treppe nach den Kajüten führte, Erik. Schandera war betroffen, wie fahl seine Haut schien. Er hatte, ohne zu denken, daß dieses aus der Welt ausgeschaltete Antlitz sein Sohn war, seit Minuten zu ihm hinübergesehen; und das bedrückte ihn wie die Gegenwart des Todes.

 


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