Paul Wiegler
Das Haus an der Moldau
Paul Wiegler

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

9

An der vereisten Moldau wehte ein großer schwarzer Wind. Schandera kam durch die Petřingasse, neben der Albrechtskaserne, zum Kai, zur Brücke. Die Maut auf der Smichower Seite war geschlossen. Nur in einem Schalter der Prager Seite wurde noch amtiert. Ein Wächter saß hinter dem Fenster, das er zurückklappte, und strich die doppelten Kupferkreuzer ein. Über den Steg zur Sofieninsel stampften mit dumpfem Echo der Hufeisen, an denen Schnee klebte, die Pferde der Mietswagen. Der Ball der tschechischen Juristen war aus, man sah durch die Scheiben, in Pelze und Tücher gewickelt, schlaftrunkene oder miteinander redende Frauen und Mädchen. Mit blauer Laterne fuhr die Kutsche des Vortänzerpaares heran. Das große Konzerthaus verfinsterte sich. Dort standen, singend und lachend, Scharen junger Leute. Einige ließen ihr Wasser ab. Unaufhörlich hieb das Tor gegen das Lederpolster. Von den Bogenlampen, deren Kohlenstifte verbrannten, jagte ein Schein über den 60 Garten der Insel. Dann erloschen in ihren weißgelben Kugeln die milden Gasflammen des Stegs, und als Schandera von der Schitkauer Gasse zurückblickte, war um ihn nur noch das dunkle Wehen der Winternacht.

Am siebzehnten Januar empfing er eine Zeugenladung zum fünfundzwanzigsten in der Strafsache gegen Vojna. Am Tage selbst ging er schon vor acht Uhr ins Café Imperial, der Polizeidirektion gegenüber. Für zehn Uhr war er ins Landesgericht bestellt, in das Zimmer 166. Er las Zeitungen im Café, unter dem Bild Franz Josefs, neben einem alten Oberstleutnant mit Kaiserbart, der einen grauen Pudel bei sich hatte. Dann blieb er in der Brenntegasse. Er zwang sich, die mit Kreuzen geschmückten, schwarzumrahmten Partezettel an der Tür eines Sargmagazins auswendig zu lernen. Sie teilten den Tod des Emanuel Kladivko mit, Direktors des Technologischen Museums, der Privaten Anna Heindl, des Tischlermeisters Bohumil Makovec, und er buchstabierte jedes Wort bis zu den Namen und Titeln der Firma und zu der Firma des Druckers. Ein Leichenwagen setzte sich in Bewegung; acht Männer in Zylinderhüten, mit Zinklampen, folgten. In einem Drechslergeschäft an der Ecke einer Nebengasse waren Bleisoldaten, die eine pappene Festung bestürmten, in grün gefärbte Sagschaten eingeklemmt. Aus einem Keller roch es nach Wurst. Eine schlampige Hökerin stieß gegen Schandera, in deren Korb von Würmern zernagtes Kraut lag. Die Straße war voll von Ruß und von Krachen der Fuhrwerke.

Er ging zum Karlsplatz, vom Denkmal Haleks, des Dichters, bis zu dem Roezls, des Botanikers. In der Apotheke an der Hopfenstockgasse kaufte er Tabletten. Von 61 dort beobachtete er, wie am Turm des Neustädter Rathauses langsam die weißen Zeiger des schwarzen Zifferblattes sich vorwärts drehten. Um zehn Uhr schritt er durch das Eisengitter des Haupttores ins Strafgerichtsgebäude. In dem großen Arkadenvestibül, auf Stiegen und Korridoren haderten künstliches Licht und Dämmerung. Überall warteten die, deren Stunde da war, verschluckt von der unbarmherzigen Weite des Raumes. Gerichtsdiener in grünen Röcken, mit violetten Uniformkragen, schnupften Tabak und beförderten Akten, ein Herr klopfte vor Zorn mit seinem Schirm gegen die Steinfliesen, eine Matrone in Trauer wankte, irgendwo scholl aus einem Saal eine krähende, rechthaberische Fistelstimme. Schandera suchte das Zimmer 166. Es war im zweiten Stock, das vorletzte an einer Treppe. »J. U. Dr. Prohaska«, meldete eine Karte. »Herein«, rief jemand.

Der rothaarige Konzipist, der im Zimmer war, gähnte und bat Schandera Platz zu nehmen. Dann trat der Richter ein, kurzsichtig und verärgert. Er fragte den Zeugen nach seinen Personalien, kratzte mit einem Federmesser und stierte in den Hof hinaus. Plötzlich wandte er sich schroff zu Schandera: »Ihre Aussage ist von Wichtigkeit. Sie haben mit dem Abgeordneten Vojna prozessiert, es wäre möglich, daß Sie das für Ihre Bekundungen maßgebend sein lassen. Sie waren vor sieben Jahren Parteiobmann, als Vojna, unterstützt durch einen Kredit der Partei in Höhe von achtzigtausend Kronen, sein Hotel gründete. Rekapitulieren Sie genau, was in der Sitzung vom dritten Oktober verhandelt worden ist. Sie haben das Protokoll, das nur den Beschluß selbst gibt, abgefaßt und gezeichnet.« Schandera berichtete. 62 Die Feder des Konzipisten spritzte einen Klecks auf das Papier. »Wie weit hatte Vojna Vollmacht? Hat er allein die Verträge mit Haas abgeändert und mit Roztočil? Wer hat den Geschäftsführer engagiert, den Zelinka? Hatte die Partei Rechnungskontrolle? Was wußten Sie von der Schätzung bei der Prager Sparkassa, von der Täuschung, durch die das Darlehen erzielt worden ist?« Die Fragen waren drohend. »Sie können die Aussage über diesen letzten Punkt verweigern, wenn Sie sich selbst straffällig machen würden. Nein? Dann werden Sie im Termin vereidigt werden.« Die Feder des Konzipisten schrieb nach, was Schandera erklärte; und er dachte im Sprechen an die Soldaten, an die Zinnen der Festung und die giftgrüne Holzwolle.

Der Richter winkte, das Verhör schien beendet. Im Treppenhaus eilte das Publikum zu einer Stufe, an der ein Mensch mit blutberonnener Schläfe niedergebrochen war. Er hatte, indes ein Gefangenenwärter ihn transportierte, über eine Balkonrampe springen wollen und war durch sein Ungeschick herabgestürzt. Jemand reichte ein Glas Wasser, der Mensch stöhnte und griff nach seinem zerschlitzten Hut, den er an seinen Leib preßte. Vor dem Schwurgerichtssaal machten Hunderte von Personen sich die Zuschauerplätze streitig. Da war die Straße, und Schandera atmete tief. Es war Mittag geworden. Der Jungmannsgasse ging er zu und der engen Charvatka, wo der Tierhändler war. Affen im Urwald, Papageien und Goldfische waren auf Schilder gemalt, Käfige hingen im Laden mit Stubenvögeln, Meerschweinchen hüpften umher, weiße Haarknäuel mit schwarzen und rostroten Flecken, Kaninchen schnupperten, ein Rudel von 63 Tanzmäusen trieb im Kreis eine Trommel. Nichts war erschütternder als diese sinnlose Fröhlichkeit der Kreatur.

Abends fand Schandera sich vor der Wohnung am Kinskypark. Über die Mauer hinweg vernahm er, wie die Bäume im Eiswind knarrten. Silbern, rötlich umschimmert, flog der Mond. Die Slowakin, die droben auftat, hatte eine Tändelschürze an, fremde Wintersachen waren im Flur gehäuft, bei Ljuba waren Gäste. Schandera konnte nicht mehr zurück. Er erriet die Gegenwart des Malers Professor Sauerwein, der das Ölbild der Gjalska geschaffen hatte, und seiner Geliebten, der Schriftstellerin Roubiček; und dort hing auch der Stößer Nejedlys. In seinem Kabinett schlummerte Erik. Leise ging Schandera durch das Schlafzimmer Ljubas, das von einer milchigen Ampel erhellt wurde. Ein bordeauxrotes Kleid lag in einer Ecke, rasch abgestreift von seiner Besitzerin. Wasser füllte das porzellanene Becken, es roch nach Heliotrop, Spiritus und versengtem Haar.

Jetzt sah sich Schandera in dem Empiresalon seiner Frau den Gästen gegenüber. Der erste war der Komödiant, der mit dem Taschentuch sich die verrunzelte Stirn wischte. Er hatte zwei Generationen des Schauspiels vorübergehen sehen, und es gab Leute, die sich noch an seinen tadellosen Olivier de Jalin in »Demimonde« erinnerten. Jetzt waren sein Bestes die greisen Marquis mit Samtkragen und Uhrberloques, die galanten Ruinen und die väterlichen Abbés. Ohne Wimpern blinzelten die grünen Augen in seinem rosigen Gesicht. »Wo stecken Sie denn?« sagte er durch die Nase. »Ich bin Ihnen doch vor Monaten schon begegnet, aber da müssen Sie mich nicht erkannt haben. Nun erzählen Sie, Verehrtester!« Und 64 seine durch die Gewöhnung schon wieder harmlose Falschheit sprudelte. Der Professor Sauerwein, ein Fünfziger mit einem Löwenhaupt und schlecht gepflegtem Vollbart, rauchte schweigsam. Vor zehn Jahren hatte er seine Zeit des Ruhmes gehabt, seine blauen, mit Tritonen und Nixen bevölkerten Meerbilder waren vielfach dekoriert worden. Unzufrieden und massig trank er. Mit glanzlosem Blick hing die Roubiček an ihm, deren tyrannische Eifersucht ihm das Leben vergällte; sie, die Modeschriftstellerin Yvonne de Bray, war hager, gereizt ihre Stimme.

Ljuba, hochaufgerichtet vor dem Kamin, hatte eine graue Seidenrobe mit Schulterbändern, die ihren Hals und ihre Brust freiließ, und lächelte angestrengt. Sie redete mit Dr. Hurt, einem Arzt von etwa dreißig, und seiner Gattin, einer kleinen Russin von taubenhafter Schüchternheit. Die Liebhaberin Frau Randova, jugendlich emailliert, wie ihr Fach es heischte, Teerosen an der hohen Korsage, die von Schmelz funkelte, girrte die sattesten Kaskaden ihres Alts, indes sie mit Rovensky sich unterhielt, dem dümmlichen Heldenspieler, und Borecky, dem Kritiker des Národ. Manja, die ganz in Weiß war, hatte zwei Freundinnen bei sich, die eine, die Čermák, die Tochter des Warenhausbesitzers, ging auf den Flügel zu und phantasierte. Dann leitete sie zu der Sonate Pathétique hinüber.

Schandera riß sich empor. Er hatte gemerkt, daß auch Nejedly verstummt war. Nun begann wiederum das allgemeine Gespräch. Der Professor Sauerwein kündigte seine Reise nach Istrien an, die er in jedem Frühjahr machte: »Wenn ich nur draußen an der Adria bin und nicht unter diesen Banausen und Selchern!« Die 65 Roubiček strich ihm beschwichtigend die Mähne; und noch hektischer wurde ihr glanzloser Blick. Schandera spürte, wie der Journalist mit boshaftem Mund zu ihm hinsah und wie der Dr. Hurt durch seinen schwarzen Hornkneifer ihn von fern betastete, als sei er ein interessanter Krankheitsfall. Die Randova, von ihrem Parfüm umwölkt, rauschte zu dem Manne ihrer Kollegin und fragte ihn voll Begierde aus.

Nejedly hatte sich eine Zigarette angezündet. Er stand jetzt bei Ljuba und schwatzte über das Theater und die Kulissenränke. Er sagte ihr, daß die »Mutter der Jugoviće« abgesetzt worden sei. »Dafür wird mit einer Novize, aus Pilsen glaube ich«, näselte er, »die Hippodamia neu einstudiert.« Ein Teller klirrte, den Ljuba niedersetzte. »Die Hippodamia, meine Rolle!« rief sie überlaut. »Das wird nicht geschehen, ich beklage mich beim Intendanten!« Die Randova kam heran und pflichtete ihr bei; denn auch sie mußte sich gegen die Bühnenvorstände wehren. Ljubas Wangen und Lippen waren kalkig weiß geworden, sie bat, sie für eine Viertelstunde zu entschuldigen, da sie Kopfschmerzen habe. Die Randova umarmte sie tröstend. »Banausen und Selcher«, wiederholte in mühsam gebändigtem Rausch der Professor über seinem Likörglas.

Rovensky und Nejedly zankten sich wie im Konversationszimmer. Manjas Augen glitten über alle und hafteten auf Schandera. Sie suchte Noten und nahm, Unwillen im Antlitz, aus dem Futteral eine Geige von Lantner. Sie spielte mit der Čermák die erste Violinsonate von Brahms, die bis zum Quartsextakkord sich steigernde Elegie des Regenlieds, die Coda, den vierfachen Ruf, das 66 Entschweben der Töne. Aber längst sah sie von Schandera hinweg.

Die Gäste wollten sich verabschieden. Ljuba zeigte sich nochmals und sagte, daß ihr schon wieder besser sei. Ihr Haar war in Unordnung. Die Randova küßte sie, Nejedly bedauerte wortreich. Nun schloß sich hinter ihnen, als letzter der kleinen Russin, die Tür. Die Magd ging voran, den Hausmeister zu wecken. Ljuba lag über dem Diwan, steif wie ein Pfahl, kalt, die Augen zu. »Ihr Herzkrampf«, flüsterte Manja. Sie nahm von der Schale auf dem Tisch ein Stück Zucker, tauchte es in Kognak und schob es der Mutter zwischen die Zähne. Ljuba regte sich, ein Beben durchrann sie. Mit Ungestüm hakte sie, ohne davon zu wissen, sich das Kleid auf, entblößte sie die bräunliche Haut, das bläuliche Geäder, den großen braunen Hof ihrer rechten Brust.

Schandera faßte sie mit Manja. Sie trugen sie ins Schlafzimmer und betteten sie. Noch immer war Ljuba ohne Klarheit, was mit ihr sei. Jetzt erwachte sie ganz. Dann starrte sie von Schandera zu Manja, die lautlos das Zimmer verließ. Schandera neigte sich über Ljuba, und mit einem erstickten, tierischen Schrei zog sie ihn an sich.

 


 << zurück weiter >>