Paul Wiegler
Das Haus an der Moldau
Paul Wiegler

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Ljuba kam am dreißigsten August mit ihrer Schwägerin Therese Giacometti. Nur einmal hatte Schandera seit dem Kriminalfall des Hauptmanns Giacometti seine Schwester gesehen. Von Brünn war er nach Linz zu ihr gefahren. Sie wohnte noch in der Villa auf dem Freinberg, in der ihr Mann im Frühjahr verhaftet worden war, als sie das Nachmittagskonzert im Volksgarten besuchte. Nun war er in der Militärstrafanstalt Möllersdorf gestorben, und sie wollte weg aus Linz. Die Villa hatte ein Fabriksbesitzer in Kleinmünchen gekauft. Nach Prag oder Leitmeritz, wo sie eine Hypothek auf ein Haus hatte, dachte Frau Giacometti zu übersiedeln.

Dem Wagen, der abends kurz vor zehn Uhr am Riegerkai hielt, entstieg zuerst Ljuba, langsamer als sonst sich bewegend, in violettem Reisemantel, mit einer Pappschachtel und einem Asternstrauß. Dann Therese, nach der Mode des Vorjahrs gekleidet, welk, verängstigt, als könne jetzt und jetzt eine Hand sich ihr auf die Schulter legen. Sie hatten sich in Veseli-Mezimosti getroffen; und so waren sie zusammen hier, ohne daß sie sich angekündigt hätten.

Ljuba setzte sich auf einen Stuhl im Vorzimmer. »War 107 das schwül unterwegs«, rief sie, »alle Klassen voll. Wo ist Erik?« Der Knabe, der schon zu Bett gewesen war, hängte, in seinem langen Nachthemd herzulaufend, sich an den Hals der Mutter. »Ist er groß geworden«, sagte Frau Giacometti, »und schmal.« Die beiden Frauen hatten noch nichts gegessen, und in Miladas Küche war nichts. Schandera schlug ihnen das Restaurant auf der Sofieninsel vor. Zu dreien begaben sie sich hin. Ein Dampfer von Zavist her drehte sich zum Smichower Ufer. Die granitne Böschung hauchte die Hitze des Tages aus.

Der Musikpavillon der Insel war leer. Unter den weißen Bogenlampen schwärmten die Nachtschmetterlinge, zahllos, so viele auch sich schon daran versengt hatten, und ihre Leiber taumelten auf das Tischtuch. Die Blätter der unsichtbaren Wipfel flüsterten, ein Boot, das bei einer Zelle der Schwimmschule an die Planke gebunden war, knarrte, Vögel piepten im Halbschlaf. Ljuba wurde bald müde. Therese schwieg beharrlich. Angstvoll sah sie nach einem weißgedeckten Tisch hinüber, um den tschechisch redende Fähnriche und Leutnants saßen. Einer von ihnen, ein Behäbiger, Blonder, begeisterte sich, immer seine Worte wiederholend, für eine Oper »Zrinyi«, die ihm dem Anschein nach höchste und einzige Kunst war. Die anderen lachten, sie neckten ihn damit und mit einer Fini oder Toni, die er verehrte.

Sie salutierten vor einem Offizier in blaugrauem Mantel, mit dem schwarzen Samtkragen eines Regimentsarztes. Hastig unterbrach Ljuba sich: »Der Ferdinand.« Der Offizier schleuderte gerade, in grellem Licht an das Eisengeländer des kleinen Brückenstegs sich lehnend, eine Zigarette in die Luft. Grau war sein Haar unter der 108 hohen Kappe, verschlossen der Ausdruck seiner Mienen. Schandera brauchte Sekunden, bevor er ihn erkannte; so sehr hatte die Zeit den ersten Gatten Ljubas, Dr. Ferdinand Körner, verändert. Aber schon war er drüben am Kai auf die Elektrische gesprungen. »Was macht er hier?« sagte Ljuba. »Er muß auf Urlaub von Josefstadt in Prag sein.« Ihre Stimme zitterte.

Der September blieb heiß und trocken. Erik hatte noch Ferien. Nach dem Feld an der Apollinargasse, da wo das Gebärhaus war und die Irrenanstalt, Kastanien aus grünen Stachelhülsen unter verdorrte Grashalme fielen, um eine Säule mit dem heiligen Adalbert die Wärterinnen in weißen Schürzen spazierten, wo vom Windberg in das Nuslertal die Gifthütte herabsah, in die Gegend der Villa Amerika und der Karlshofkirche lockten die bunten Reklamen eines internationalen Zirkus. Eines Zirkus mit Indern, vielleicht echten, die als Fakire und Tempeltänzer kostümiert waren, mit Chinesen, die Messer warfen und an ihren Zöpfen in einer Pyramide hoch oben im Manegezelt baumelten. Tscherkessen, die von einer Troika in drei Etagen Fahnen schwenkten und Büchsen abschossen, mit höckrigen Kamelen, die ihre zottigen Hälse in den Sand niederlegten, mit goldbraunen Seelöwen, die watschelnd Bälle jonglierten, mit acht Eisbären und zehn Tigern, mit fliegenden Trapezkünstlern, einem Schulreiter auf einem Fuchshengst, einer Schulreiterin auf einer schwarzen Stute. Clowns mit kreidigen Fratzen stolperten, indes der Direktor mit Zungenschnalzen einer ganzen Kolonne von Pferden Befehle gab, über Harken, über Linoleum, über ihre Füße und blödelten in beiden Landessprachen; und einer, ein Liliputaner, schwatzte 109 mit der kindlichen Miß Preziosa, die in lila, silbrig besterntem Trikot sich von einem Apfelschimmel hinunterschwang und auf das sattellose Tier wieder hinaufvoltigierte. Erik träumte von Miß Preziosa, ihrem Nacken und dem süßen Lächeln um ihren kirschroten Mund. Schweißberonnen schlief er um Mitternacht ein.

Am nächsten Tag war er erkältet. Er hütete das Bett, in einem Vorderzimmer. Schandera sah nach ihm und trat, um ihn hinter der Jalousie eine Stunde ruhen zu lassen, auf den Balkon hinaus. Die gotischen Teufel am First, die Basilisken glotzten in der Mittagssonne. Vor dem Zwiebelturm der Mühle schlief in Lumpen ein Obdachloser. Das Wasser der Moldau strömte über den niederen Rechen. An der Ecke der Myslikgasse, in spärlichem Schatten, tranken barfüßige Kinder gierig Limonade, die sie von der Straßenhändlerin um ein paar Kreuzer gekauft hatten, oder schleckten Himbeereis. Und während er sie betrachtete, hatte Schandera eine verzerrende Sinnestäuschung. Er glaubte, selbst unten auf dem Trottoir zu sein, fünf Haushöhen tiefer. Dann wurde ihm bewußt: dazwischen war der Abgrund. Hell rief Erik ihn an, und in der Tür erschien vergrämt Therese Giacometti.

An einem Samstag Nachmittag war das Begräbnis der Blahova. Sie hatte zuletzt in der Marienstraße gewohnt, bigott und ganz für sich lebend. Um drei Uhr nahte der Leichenkondukt dem Franzenskai, der goldene Wagen mit dem Sarg und ein goldener Kranzwagen. Auf der Freitreppe des Theaters, gegenüber dem Café Slavia scharte sich der Opernchor, den Zadek, der zweite Kapellmeister, dirigierte. Sie sangen den elysischen Chor aus »Orpheus und Eurydike«. 110

Der Himmel war wolkig. Ein Windstoß zwang alle sich an die Hüte zu fassen. Dann ging es Schritt für Schritt durch die Ferdinandsstraße zurück bis zum Wenzelsplatz. Ljuba hatte eine Lohnequipage mit der Randova, die unter ihrem schwarzen Kreppschleier, geschminkt, mit bemalten Augen die trauernde Claire aus dem »Hüttenbesitzer« darstellte, und dem zwinkernden Nejedly, der Anekdoten von der Frömmigkeit der Blahova zum Besten gab. »Geizig war sie«, sagte die Randova. »Sie trug die ältesten Kleider. Sie soll sich hunderttausend Kronen gespart haben.« Am Bergstein stockte die Reihe. Kinder und Frauen staunten zu dem gerüttelten Fenster herein. Ljuba, ehrlich ergriffen, wurde voll tragischer Hoheit. »Die gute Jindra«, seufzte sie, »eine um die andere geht dahin!« Nejedly sah nach der Uhr: »Ich nehme euch den Wagen weg, ich muß vorher in die Stadt. Heute abend habe ich zu spielen. Ja, die Jindra, wie oft sie wohl mit mir auf der Bühne gestanden ist. Mehr als fünfundzwanzig Jahre. Und immer, wenn sie eine neue Rolle hatte, spuckte sie dreimal in die Kulisse.«

»Es fängt zu regnen an«, sagte die Randova. Dicke Tropfen rollten gegen die Scheiben. In der Masse draußen spannten viele die Schirme auf. Doch nur ein Huscher spritzte nieder. Schandera stand am Museum. Durch die Weinberger Jungmannstraße schallte, von den Bläsern des Theaterorchesters intoniert, der Chopinsche Trauermarsch. 111

 


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