Paul Wiegler
Das Haus an der Moldau
Paul Wiegler

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Nichts wollte vorübergehen, und alles ging vorüber. Die Leichenwäscherin kam und das Personal der Bestattungsanstalt Pietät, das Erik in ein Hemd von Damast kleidete und im Balkonzimmer einen Katafalk und lodernde Kerzen aufstellte; und am dritten Tag die Schließung des Sarges, den sie von Stockwerk zu Stockwerk hinabtrugen, bis sie unten die Menge passiert hatten und der Wachmann dem Kondukt die Straße freigab. Dann die Beisetzung in Wolschan. Die Kapelle mit den bunten Scheiben, das heisere Totenglöckchen, der Priester in der zerschlissenen Goldstickerei seiner Stola, der den Sarg segnete, die Ministranten mit den hin und her geschwungenen Gefäßen, Winterblumen, herbes Immergrün der Blattpflanzen und Solfeggien des Harmoniums. Die Prozession durch eine Kiesallee, an dem Monument einer Frau vorbei, die maskenhaft, mumienhaft die Luft mit ihrem Jammer zu zersprengen schien, bis zu den frischen Gräbern der siebenten Gruppe an der Umfassungsmauer. Der Priester intonierte: »Requiem aeternam dona ei, Domine«; die Ministranten erwiderten: » Amen«. Der Sarg 210 glitt an Stricken in ein Erdloch, die Stricke wurden hochgewunden, jeder der Friedhofsgäste schüttete von der Schaufel drei Häufchen Erde in die klaffende Höhlung. Nejedly, Beran, die Randova küßten Ljuba. Man fuhr hinein in die Stadt. Aber nun war die Leere.

Sie hatten niemanden um sich als Pepka, die durch die Räume huschte. Schandera telegraphierte an Manja nach Dresden; sie war nicht mehr in Deutschland, sondern mit der Robertson auf einer neuen Tournee. Von Budapest antwortete sie; aber vor Temesvar und vielleicht Kronstadt, Klausenburg, Jassy und Bukarest, vor Januar oder Februar konnte sie sich aus ihren Verpflichtungen nicht losmachen. Sie sagte, sie sei der Trabant einer Primadonna geworden. Aber sie habe die Es-Dur-Sonate von Richard Strauß gespielt und Schuberts Opus 159 für den böhmischen Paganini Slavik, mit dem Allegretto auf Ungarisch und den Variationen über »Sei mir gegrüßt«; und Huberman habe sie in Zürich sehr gelobt. Wieder und wieder schrieb sie, als genüge das äußerste Maß von Teilnahme ihr nicht.

An den meisten Abenden wandten sich Ljuba und Schandera von dem sandigen Platz in Wolschan, auf dem man wegen des Regens und des Schnees noch keinen Grabstein setzen konnte, nach den Vorortstraßen, nach Žižkow, in die Verschollenheit. Sie erreichten den Rayon der Nordbahn, und die grellen Pfiffe von den Nachtzügen her durchschauerten sie. Sie traten in das Haus am Riegerkai, wenn sie keinem der Mieter mehr begegneten. An Erik mahnte alles, was er benutzt hatte, er war noch leibhaftig bei ihnen. Sie sahen ihn, wie er sich auf die Kissen lehnte, wie er lächelte, wie er zum Balkon ging, 211 wie er müde den Nacken neigte, und sie hatten mit ihm rätselhafte Unterredungen. Er ließ sie nicht in ihr Schlafzimmer; so erharrten sie in Sesseln den bleichen Tag.

Dr. Kafka warnte Schandera und erklärte, Ljuba müsse wieder unter die Leute, wenn ihre Abreise noch nicht möglich sei. Um Weihnachten drohte ihr eine pathologische Melancholie. Sie stand im Januar auf, mit weißem Haar, das sie sich in Büscheln jeden Morgen auskämmte. Ein Konzert, zu dem ihr Barhon, statt Zadeks zweiter Dirigent des Nationaltheaters, eine Karte schickte, und in dem die Destinn, ihre ungebärdige Rivalin von einst, noch bezauberte, wandelte sie um. Die Destinn sang Lieder von Hugo Wolf und jauchzte die Arie der Aida »Als Sieger kehre heim«. Die Gjalska entsann sich, als ein lallendes Weinen ins Taschentuch ihr die Seele gelöst hatte, ihrer Opernvergangenheit. Sie hatte für kurze Zeit Begier nach Musik. Die Tragödie mied sie wie eine Schmach. Aber bei den Opernvorstellungen der Woche, nicht des Sonntags, war sie im Schatten einer Proszeniumsloge mit der Randova zu sehen, ganz verhüllt, auch wenn die Bühne sich geöffnet hatte; und jede ihrer Partien sang sie noch einmal in ihrem belasteten Geiste mit. In den Konzertsälen erschien sie, wenn die ersten Nummern schon ausgeführt wurden, und stritt mit den Türstehern, die ihr den Einlaß weigern wollten. Dann folgte sie in einem Winkel des Rudolfinums, hinter einem Pfeiler der Produktenbörse, auf einem unbezahlten Stuhl dem Gesangsprogramm; und ihre gefurchten Mienen verklärte die Melodie.

Die Schwester Terezie begleitete sie um der Messen für Erik willen in die Sakristei von Sankt Adalbert und 212 nahm sie mit nach Sankt Benedikt am Hradschinplatz, der Kirche ihres Klosters. Unersättlich wurde Ljuba, die Heiligen und ihre Altäre zu verehren. Sie hatte Kirchen, die sie bevorzugte, weil sie weniger bekannt oder Gotteshäuser für das untere Volk waren: Sankt Jakob am Teinhof, in der Gasse der Planwagen, mit dem verachteten Jesus über dem niedrigen Eingang, Sankt Peter am Porschitsch, in dessen Turm Jan Černy ein Magazin hatte und Fässer polterten. Doch auch Maria-Schnee, die Kleinseitner Kirche der Englischen Fräulein, die Thomaskirche mit dem Bilde des Augustinus und des Kindes, das mit einem Löffel das Meer ausschöpft, die Klosterkapellen der Borromäerinnen droben am Hradschin, gegenüber dem Lobkowitzschen Garten, und der mit dem Tod vermählten, büßenden Barnabitinnen. Die Ursulinenkirche in der Ferdinandsstraße war dann täglich ihr Aufenthalt. Sie liebte den winterkahlen Baum vor der Nepomukstatue, den großen Kruzifixus am zweiten Portal, den Altar mit der Himmelfahrt Mariä. Ein Jesuitenpater aus Feldkirch predigte deutsch und lateinisch und pries die Gebenedeite. »Gegrüßet seist du, Maria, Mutter der Schmerzen, gebenedeiet sei die Frucht deines Leibes, Jesus«, murmelten die Andächtigen. Es war der Hymnus der Mutterschaft, der Ljuba wie sieben Schwerter zerriß. Sie beichtete, als es dunkel geworden war, in einer der verschnörkelten Holzzellen. Ein Vikar, den der Küster geholt hatte, sperrte mit rostigem Schlüsselbund den Beichtschrank auf und lieh der Stammelnden zerstreut sein Ohr, in dem stachlige Härchen wuchsen.

An die Ursulinenkirche grenzte der Handschuhladen eines ehemaligen Stadtverordneten, der unangreifbare 213 Macht im Rathaus gehabt hatte, bis sein Name durch einen Prozeß um billigste Geschenke in die Gerichtschronik der Zeitungen überging; jetzt lebte er in seinem Gewölbe, eisgrau und verdrossen. Ein Haus weiter war billige Kunst zu verkaufen, christliche nach Reni und Murillo und tschechische nach Manes. Und dann kam das Eckgebäude an der Theatergasse, die Schaufenster mit den Büsten Mozarts und Smetanas, dem radierten Porträt von Dvořak, den Goldschnittpartituren und den Operettennoten; das Schild, das Ljuba fast übersah, meldete: »M. U. Dr. Körner.« Sie kämpfte mit sich. Es war fünf Uhr. Jetzt mußte er, wie schon damals, außerhalb seiner dienstlichen Praxis Sprechstunden haben. Sie stieg die Treppen hinan. Von einer Bedienerin wurde sie in das Wartezimmer geführt. Ein Herr mit Shawl und Galoschen duckte sich unter den Vorhang zum Ordinationszimmer und kaute im Gehen eine Mentholpastille. »Ich bitte«, sagte drinnen ein militärischer Bariton. Da waren wieder der Kupferstich nach Rembrandts Anatomie des Professors Nikolaus Pietersz Tulp und der riesige Brabanter Schrank; und vor Ljuba das Antlitz ihres ersten Mannes.

Er war nicht betroffen, sondern half ihr ruhig auf ein Sofa. »Ich weiß«, sagte er, als sie mit unbeherrschtem Schluchzen niederbrach, »ihr, Schandera und du, habt Schlimmes überstanden. Euer Sohn war hier oben, ein Jahr vor dem Ende, an dem Sonntag, als er die Hämoptysis hatte, ich habe ihn im Fiaker bei euch abgeliefert. Er war ein schöner, sanfter Bub und sicherlich begabt. Es ist ein Trost, daß er nicht noch Ärgeres erleiden mußte. Darf ich an sein Grab kommen?« Sie antwortete: »Ich 214 folge ihm nach, ich fühle es.« Er hob ihr den dichten Trauerschleier vom Gesicht: »Arme Ljuba! Du hast noch Manja, du hast deinen Gatten. Manja hat eine Zukunft.« Sie habe ihm ihren doppelten Berufswechsel mitgeteilt. Für die Bühne eigne sie sich nicht; als Cellistin oder Violinistin, die sie sei, könne sie ihre Anlagen besser entfalten. Sie sei ein Kind zwischen zwei Rassen, verletzbar, sensibel. »Wird sie nicht heiraten?«

Er fragte nach Schandera und bedauerte ihn wegen seines politischen Debakels, sie, Ljuba, weil sie ganz, und wohl mit Unrecht, nach so viel Ruhm zurückgetreten sei. Er habe sie in Prag nur noch im Schauspiel, als Godiva gesehen; welchen Spezialisten sie denn, bevor sie die Oper verließ, konsultiert habe? Aber sich selbst erwähnte er nicht, bis sie unter neuem Aufruhr ihres verwirrten Gemüts ihn dazu zwang. Er sei jetzt als Stabsarzt in Majorsrang Lehrer an der Kadettenschule auf der Marienschanze und habe Hunderte von Zöglingen unter sich. Gestern habe er die Klasse ertappt, als einer, ein Italiener aus dem Friaul, von einem Vorarlberger mit den Fäusten gewürgt worden sei. Sie hätten ihn belogen, er habe sie nicht gemeldet. »Was hat unsereiner als den Kragen mit den Sternen, den Säbel, Pferde, den Wald im Manöver und die Jungen, die doch der gleichen Disziplin unterworfen sind wie wir, die Alten? So geht es von Garnison zu Garnison, wenn nicht Krieg wird. Vor drei Jahren, in Josefstadt, war das Korps marschbereit. Drunten am Balkan brennt es wieder; bis die Pulverkammer einmal auffliegt.«

Er war, als sie geschieden waren, nach Cattaro transferiert worden, der Stadt unter dem Vermač. In den Forts der Klüfte, von denen man nach dem Lovčen zielte und zu denen Maulesel Kanonenrohre, Lafetten und Proviant hinaufschleppten, nächtigte er mit Offizieren und Mannschaften. Das entvölkerte Cattaro, um die klotzigen Türme des heiligen Tryphon, an der Mole mit dem venezianischen Löwentor und dem Café Dojmi, das Exil der gespenstischen Gassen, in die niemals die Sonne sich stahl, und ein Mulatschag im Kasino waren schon Wien für sie. Die Frau war aus seinem Leben verschwunden; denn Frauen waren die Geschöpfe dort oder die später nicht. Ljuba beschuldigte sich, ihn freudlos gemacht zu haben. Er sagte: »Das mußte wohl so sein. Aber Steffi, deine Schwägerin, paßt zu mir, sie ist Witwe und hat schon in Josefstadt für mich gewirtschaftet.«

Eine Tür knarrte; ein schwarzer Teckel schlich sich herein und beschnoberte die Fremde. Körner streichelte ihn, das Tier leckte ihm die Schuhe. Ljuba weinte: »Wenn ich dich bitten werde, wirst du mir helfen?« Er antwortete: »Wenn ein Mensch dem andern helfen kann.« Der Professor Nikolaus Pietersz Tulp zerlegte, im Halbdunkel lächelnd, mit der Schere die Muskeln des Leichnams. Der schwarze Teckel sprang um Ljuba herum. Draußen stotterte die Bedienerin: »Küß die Hände, gnädigste Frau.«

 


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