Paul Wiegler
Das Haus an der Moldau
Paul Wiegler

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Seit Wochen war Erik wieder im Gymnasium. Die Narben an seinem Halse heilten bis auf blaßrote Male. Er litt unter dem Winter und sehnte sich nach der Frühjahrswärme. Sein Umweg an jedem Mittag galt dem Stadtpark. Die Schüler bombardierten sich mit Schneebällen oder tschunderten Kiesel über die Eisfläche des Teichs. 143 Oder sie wiesen dem Kakitz die Zunge, dem Hüter der Anlagen, der seinen Namen davon hatte, daß er unverständlich stammelnd schimpfte, und der, auch wenn er mit seiner Waffe fuchtelte, sehr komisch war. Den auf einem Auge blinden Kranich, das Geschenk des Afrikareisenden Holub, die Schwäne und Enten suchte man vergebens. Doch in einem Käfig an der oberen Allee jammerte das blinde Käuzchen, und in der Finsternis des Vogelhauses neben der Bude des Verzehrungssteuermanns konnte man Adler oder wenigstens Habichte unterscheiden. Und es war schön, vom Sommer zu träumen. Dann würde der Blumenkreis der Beete blühen, das Birkenwäldchen grün und silbrig leuchten, die Sesselfrau ihre Billets aus der Ledertasche ziehen, der Brezelmann und der Mandoletti ihre Vorräte verkaufen. Und die Grotte am Teich, die Insel, der Wasserfall, wären romantisch und zauberhaft.

Aber mehr noch als der Stadtpark und der vergessene Kinskypark lockten Erik und Viktor Eisler in den Nachmittagsstunden, in denen die Helligkeit schon länger dauerte, der Rand der Hradschinstadt, die Alchimistengasse und ihre schiefen Häuschen mit den krummen Treppen und den Kammern, von denen man in den Hirschgraben sah, die Mihulka, die Daliborka, der unterirdische Kerker, der flaschenenge Schacht, der Holzkranz mit den in der Todesluft tropfenden Unschlittkerzen, die Eicheln und Buben der Spielkarten, an denen rostrotes Blut klebte, der Stich mit dem geigenden Ritter Dalibor von Kozojed. Es dunkelte schon, wenn sie über Militärschwimmschule und Kettensteg in die Altstadt um das Klementinum gekommen waren und durch die 144 Seminarska rannten. Sie wagten nicht nach den schmutzberonnenen Fenstern unter den Erkern und den italienischen Balkonen, nach den Lampen, deren Blechspiegel sie blendeten, zu schielen. Denn es war bei den bloßköpfigen Weibern da, die ihre flammenden Schals schleppten oder durch einen Spalt frech auf alle Männer einsprachen, nicht geheuer.

In den Briefen Manjas waren viele Auslassungen, von Silben, Worten und Erlebnissen. Sie werde, schrieb sie, im April von Leipzig fortgehen. Sie habe einige Rollen gehabt, im »Weißen Rößl«, in den »Brüdern von Sankt Bernhard«, im »Privatdozenten«, auch klassisch, die Marie Beaumarchais und die Sorel neben der Jungfrau der Fischl, deren outrierte Kindlichkeit kaum anzusehen sei. Sie selbst habe noch die Turandot gespielt, in einer überladenen Inszenierung, die man sogleich habe absetzen müssen, nach so lotterhaften Proben, daß nichts in Ordnung war, die Kostüme kaum fertig geworden seien und sie sich mitten im chinesischen Thronsaal mit Druckknöpfen geplagt habe. Man wolle ihre Gage sparen, obwohl zwei, drei Kritiker nach dem »Clavigo« ihr Talent bestätigt hätten. »Dann gab man mir die Klara Hühnerwadel, und sie fanden, mit meinen Schreikrämpfen, meinem Seufzen und Stöhnen sei ich zwar nicht schweizerdeutsch, eher eine russische Revolutionärin, Slawin jedenfalls. Aber in alle Überspanntheit sei Wahrheit gemischt, und seit Jahren habe man eine werdende Künstlerin von so eigenartigem Profil nicht besessen. Ein Direktor aus Köln war auf der Durchreise hier und forderte mich auf, in sein Hotel zu kommen. Ich ging in einem geliehenen Pelz hin; er ahnte nicht, daß der Pelz 145 nachher zu meiner Kollegin zurückwanderte. Sie setzten schnell auch den Wedekind ab, und so ist aus dem Engagement nichts geworden. Ich bin gekündigt und gezwungen, durch einen Anwalt zu klagen.« Später teilte sie mit, sie habe sich für die Sommermonate nach Bamberg verpflichtet, weil ihr sonst keine Wahl blieb. Öfters erwähnte sie einen Charakterspieler Hermelin, einen Rumänen, der als Lindekuh von fanatisierender Intelligenz gewesen sei und mit dem sie über einen Sonntag eine Fahrt nach Dresden gemacht habe. Und zuletzt nannte sie diesen Namen nicht mehr.

Im Herbst brachte die Roubiček zu Ljuba ein Buch über Sauerwein, über seinen Niedergang und sein Ende, mit der Korrespondenz zwischen ihm und ihr und mit erpresserischen Schreiben der Debarba. »Ich will ihn der Welt zeigen, wie er war«, erklärte sie. Dann eilte sie zu dem Verleger ihres Modeblatts, der die Broschüre durch vierfarbene Streifbänder als Sensation hergerichtet hatte. Nicht nur die Debarba hatte den Maler ausgebeutet und beschuldigte ihn obendrein des Geizes. Da war eines seiner Modelle in Pola, eine andere Geliebte, die Laura, eine Buffetdame im Café Miramar. Diese Laura war sogar von der Debarba beherbergt worden, in der Altstadt von Triest, an der Piazetta di Riccardo, gegenüber dem römischen Triumphbogen. Sie hatte plötzlich ein silbernes Bracelet, nicht von Sauerwein, und einen Ring mit einer Mohrenfratze und einem Turban, eine Erinnerung wohl an einen Seekadetten; denn die Mohrenringe trage niemand als die Offiziere der Kriegsmarine. Bei der Debarba war die Laura gestorben, nachdem sie umhergeschlichen war, ohne einen Bissen zu essen. Gehirntyphus, sagte das 146 ärztliche Zertifikat, aber die Debarba eiferte, die Laura habe im Einverständnis mit Sauerwein sich von einer Schwangerschaft helfen wollen. Auf dem Friedhof an der Straße nach Zaule, im Zypressenwald, war sie eingescharrt. Die Debarba verlangte Geld für Betten, Wäsche, Beerdigung und religiöse Zeremonien und immer wieder Geld für sich, mit Einschüchterungen durch Anzeige beim Procuratore und unabwendbaren Skandal.

Am Palmsonntag war im Nationaltheater eine Volksvorstellung, die schon nachmittags begann, die »Hippodamia« in zwei Teilen. Die Gjalska trat nach einer größeren Pause auf. Das Ableben der Blahova hatte, da sie allein das Fach nicht innehaben sollte, den Gast aus Pilsen an der Prager Bühne seßhaft gemacht, gegen den sie damals sich wehrte, die bäurisch gedrungene, rothaarige Tempska. Jedoch die Hippodamia hielt Ljuba fest, obwohl sie wiederum kränkelte. Sie legte sich schon um ein Uhr in ihrer Garderobe nieder, empfangen von den lästigen Erkundigungen der dicken Silaba. Draußen bauten sie die Burg des Königs Oinomaos, die praktikablen Mauern. Die Klingelzeichen, entfernter und näher, antworteten einander. Die Gjalska war bereit, hinter der im Zugwind pendelnden Dekoration, die Finger so starr an den vergoldeten Spangen des griechischen Gewandes, daß ein Ornament ihr den Daumen ritzte. Trompeten, von drei unpünktlichen Musikern geblasen, meldeten den Beginn des Spiels, das Sonntagspublikum drüben, jenseits der Rampe, hörte auf zu husten und mit den Programmen zu knistern, der Vorhang ging auf. Beran mit einer hellbraunen Perücke, durch die er jugendlich wirken wollte, kroch als Pelops mit Jolos, seinem Diener, 147 dem schwerhörigen Kolar, durch staubige, trockene Sträucher, die Feigen von Pisa. Oinomaos, der in jüdischen Witzen unerschöpfliche Polak, fuhr in seinem Streitwagen von Holz und Messingblech zu den Wettspielen an, Statisten pflanzten auf Pfähle die roh geschnitzten Häupter der Freier. Jetzt mußte Ljuba hinaus, indes der Beleuchter Abendrot sendete, und einen der Klötze küssen.

Sie hatte ihre erste Szene mit Beran, der sie dazwischen nach allem Möglichen fragte und ihr gestand, daß er Bauchgrimmen habe, sie überredete Vanka, den Wagenlenker Myrtillos in der rutschenden Mähne, gemeinsam mit ihr beim Rennen Oinomaos, ihren Vater, zum Tod zu bringen; und schon starb der König mit einem Fluch, der so unverschämt parodistisch war, daß sie alle aus Furcht vor den guten Ohren des Sonntagspublikums erstarrten. Berge, ein Meer mit Bissen in der Tünche, eine Höhle. Lachend offenbarte Hippodamia dem zurückschauernden Pelops das Mordgeheimnis, er stürzte Vanka auf einen Sack mit Streu, ins Meer, er schwankte zu der Höhle und lag in Ljubas Armen. Sie merkte, daß sie den so oft mit tönender Wucht gesprochenen Text nicht beherrschte. Sie hatte die Idee, jetzt, bevor die »Versöhnung des Tantalos« mit den nochmals vier Akten ihren Anfang nahm, um Erik und Schandera zu schicken, die auf dem Rangbalkon saßen. Aber sie borgte sich nur von der alten Lhotova das Soufflierbuch und memorierte im Lärm um sie her.

In verdoppelter Hast ging es weiter. Nun schleuderte Hippodamia Axioche, die verschnupfte Zeithammer, im Palast des Königs Tantalos von der Treppe. Nun waren da 148 ein Altar, ein Dreifuß, Olivenzweige, und sie hatte ihren Dialog mit Pelops, der vor ihr, der tollen Katze und Tigerin, erbebte, die Worte, die Ljuba teuer waren, und an denen sie sich aufraffte: »In meinem Herzen aber glüht ein Funke und brennt und brennt und lodert immerzu, bis er das Herz in Asche hat verwandelt.« Sie ergriff eine Magnesiumfackel, sie senkte gegen die Zeithammer den Dolch, Berans entzündete Blicke hafteten auf Smutny, dem asthmatischen Seher, der die Toten beschwor, nicht den vom Argwohn des Pelops umwitterten, lebenden Myrtillos. Ljuba hob ihre Hände, ihr Gewand löste sich an der Schulter, ihre linke Brust glitt heraus, und sie stimmte, halb singend, das Gebet zu der in Wolken verhüllten, heiligen Nemesis an: »Denn gnadenlos ist die Gerechtigkeit.«

Zweimal wiederholte sie es, dreimal. Sie wußte nicht mehr, was hier folgte. Sie betrachtete über den flackernden Wall des elektrischen Lichts hinweg die unruhigen Menschenreihen. Die Souffleuse zischte: »Die Esse der Blitze sprüht in deinen Brauen, zermalmend stampft dein Fuß.« Deport, der Regisseur mit dem Harnisch des Thyest, winkte in der ersten Gasse. Ljuba, in einer ihr selbst rätselhaften Gleichgültigkeit, bewegte sich nicht. Dann fiel sie mit einem röchelnden Aufatmen, das wie ein Schnarchen klang, ihre Schläfe gegen eine Palaststufe schlagend, nieder. Drei Statisten trugen sie hinter die Bühne, auf die Chaiselongue, die, mit Ziegenfellen drapiert, für das Sterben des Königs von Argos dienen sollte. Deport benachrichtigte sofort das Sonntagspublikum, die »Versöhnung des Tantalos« werde nicht beendet werden; aber in einer Stunde werde »Hippodamias Tod« die 149 Trilogie abschließen und Frau Tempska werde Hippodamia sein. Die Gjalska, in das geleerte Konversationszimmer geschafft, schluchzte und wimmerte.

Schandera und Erik waren gerufen worden. Der stellvertretende Theaterarzt Dr. Machaty, in einer Tarokpartie im Café Slavia gestört, zuckte die Achseln, es seien Symptome einer geistigen Trübung. Dann erklärte er: »Blutstockung, Versagen des Gedächtnisses.« Der Intendant erschien und sicherte, während Beran, dem die Kinnlade herabhing, den Kopf Ljubas streichelte, einen Urlaub von Monaten für die Gjalska zu.

 


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