Paul Wiegler
Das Haus an der Moldau
Paul Wiegler

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Sie sagte Schandera von ihrem Besuch am Abend danach, als sie bei einem Steinmetzen in Wolschan die Grabplatte bestellt hatten und durch den Weinberger Riegerpark zurückgingen. Er umfing sie als die Kranke, die sie war. 216 An der Aussicht auf den Hradschin, an den nassen Bänken konnte sie nicht weiter. Er nahm eine rumpelnde Droschke. Zu Hause legte sie sich mit Herzkrampf hin. Dr. Brandeis, den Schandera binnen einer Viertelstunde benachrichtigte, ließ durch Pepka Medikamente holen. Tags darauf bat er Dr. Geyer hinzu. Seine Diagnose war: Herzbräune und besondere Symptome von Präkordialangst.

Noch war die Schwester mit dem Sauerstoffapparat da, als es klingelte. Manja war in Prag, um für einen Monat, den Februar und möglicherweise bis in den März, wie sie schon im Flur atemlos sagte, am Riegerkai zu wohnen. Bestürzt saß sie am Bett der Mutter, die zwischen den schweren Augenlidern hindurch den Blick nicht von ihr ließ. Die Tournee Manjas, so erzählte sie indessen, um nicht stumm zu sein, war erledigt. Die Robertson konzertierte nicht mehr; sie hatte sich mit Tosti, dem bejahrten Star der Scala, zu einer Stagione vereint. Sie sang nun Lucia, Norma, Lakmé, Gilda und Violetta und nur als Zugabe, nach dem Schmuckwalzer aus »Margarete«, nach »Swanee River« und »Kathlen Mavourneen«, das »Non temer amato bene« von Mozart, das in so vielen Sälen großer Städte zu der Violine der Lucerna erklungen war. Ein Agent in Berlin versprach Manja für März oder April neue Angebote.

Sie hatte in Prag nur ihre Freundin Čermák, jetzt die Gattin des Bankdirektors Ottis. Von ihr wurde sie zu einem Rout eingeladen, auf die Bitte der Mutter selbst schlug sie nicht aus. Es waren achtzig Gäste erschienen und mit dem Intendanten und Barhon auch Theaterwelt. Denn der Komponist der nächsten Novität sollte aus der 217 Partitur vorspielen, der Pole Stefan Felinski. Die Warschauer Akademie hatte ihm für den »Irydion«, seine Oper nach Krasinski, ihre goldene Medaille gegeben. Manja fuhr zusammen; so sehr glich er, ein Mann von etwa dreißig, mit seinem Johanneskopf dem Jugendbildnis Herman Bangs. Die Musik war süß und brutal; wenn sie lyrisch verschwamm, ahmte sie die Harmonik der neuen Franzosen nach. Der Abend sonst mit der Prahlerei des Reichtums, der noch mehr auftischte, als bei diesen Gesellschaften in Prag üblich war, ein Souper mit Sekt und teuersten Delikatessen von Lippert, stieß Manja ab. Sie war bestrebt, den Fragen, die ihrem langen Fernsein und kaum der Tochter der Gjalska galten, zu entrinnen. Und dann zu Hause der Schlaflosigkeit, in der sie an Felinski dachte, seinen frauenhaften Mund und sein in die Stirn gekämmtes Haar, aber auch an seine gespreizten, von Zigarettentabak gelben Finger.

Sie hatte Zutritt zu den Proben von »Irydion«. Der Komponist stand auf einer Brücke mit Nedoma, dem Opernregisseur. Arbeiter nagelten Gebälk und Leitern für den Cäsarenpalast und den Altar des Mithras. Die Dekorateure breiteten einen Teppich mit gläsernen Juwelen unter einen Pfühl mit Rosen und Veilchen von Organd, auf dem Heliogabal schwelgen sollte, der wollüstige Imperator. Burda, der Bassist des dritten Fachs, die Pasoli, die Dramatische, und Hajn, der neue Heldentenor, nahmen als Eutychian, Elsinoe und Irydion ihre Szene mit den Chören der Sklavinnen, der Äthiopier, der Gladiatoren durch. »Der Wagen aus Elfenbein«, markierte Burda, »harrt der Blondgelockten, hundert Muscheln von Purpur, hundert Kelche von Amethyst.«218 Nedoma zwang ihn, die Phrase zu beschleunigen. »Ihr Griechen und ihr Barbaren«, schmetterte nach hartnäckigem Räuspern der Heldentenor, »meine Brüder, die ich loskaufte aus dem Rachen der Römer, seid mir gehorsam bis zu dem Tage der Beute!« Die Gladiatoren schrien: »Nieder mit Heliogabal! Nieder mit Heliogabal!« Felinski gestikulierte hinüber zu Barhon, für den ein Klavier an die Rampe geschoben worden war: »F, F, nicht Fis!« Von einer Treppe schlenderte Sluka, der Imperator, herab, schon im Kostüm, dem rauschenden Gewand des Mithraspriesters, mit einer diamantenen Sonne auf der Brust, in Perücke und geschminkt. »Sluka«, rief Nedoma, »dein Duett mit der Pasoli!« Die Pasoli lachte. »Gehe nicht!« flötete Heliogabal, »o Nymphe, bei Baals Geheimnissen! Ich bin der Erzpriester, bin Apollo! Meine Buhlerinnen verbannte ich, und du bist wie Marmor, gleißend und kalt.« Die Pasoli hatte einen Hyazinthenkranz. »Welke Blumen«, trällerte sie, »ich werfe euch zu der welken Blüte!« Ein Atrium wurde gebaut. Aber das Personal forderte Mittagspause, die Bühne verödete. Manja hatte die Direktionsloge offen gefunden. Einer der Plüschsessel hinter ihr wurde umgeworfen. Felinski beugte sich zu ihr und faßte ihre flatternden Hände. Er sagte ihr, halb auf polnisch, halb auf deutsch, denn auch er hatte in Wien studiert, daß er sie dort in einer Matinee der Robertson gehört habe. Er müsse sie wiedersehen. Seine Stirn unter dem Fransenhaar schimmerte im Zwielicht des Korridors. Manja nickte ihm zu, als Nedoma, über die Resistenz des Chors fluchend, herbeilief.

Sie zeigte sich am Bett der Mutter seltener und kaum mehr, sobald die Nachtschwester da war. Seltener auch 219 zeigte sich einer der Ärzte. In der vierten Februarwoche mahnte, sichtlich unstet, Dr. Geyer Schandera, er möge Ljuba über die Todesgewißheit hinwegtäuschen; es sei das Letzte, was er für sie tun könne. Die Kranke durfte nicht aufgeschreckt werden. Schandera verbrachte die wenige Zeit, in der er schlief, in Eriks Kabinett. Nur einmal noch mußte er für längere Stunden fort. Der Grabstein war fertig. Verweint sah Manja durch die Scheiben in den Vormittagsnebel über den Georg von Podiebrad-Platz hinaus.

Der Nebel tropfte vom Granit der Erbgrüfte in Wolschan, von weißen Gruppen und der mittleren, den Figuren eines jungen Militärbeamten und seiner Angehörigen, die vor ihm dahingeschieden waren und feierlich ihn an einem Tor empfingen. Schon waren in den äußersten Feldern neue Gräber gehöhlt, und Winterkränze verwesten um gestrige mit zerwaschenen Goldbuchstaben an erdfleckigen Schleifen. Nur »Erik« und das Datum stand auf der polierten Platte; nicht mehr in der namenlosen Tiefe lag er nun. Ein buckliger Mensch in dünnem Mantel näherte sich mit Zelluloidphotographien der Friedhofsreihe für die Trauernden. Schandera kaufte eine davon für Ljuba. Sie wählte ein Geviert, in dem sie selbst ruhen werde, dicht dabei, wo der Boden durch Abtragen von Rasenstücken vorbereitet war.

Der März begann. In der Laubstreu der Sofieninsel streckte der schmale Krokus schon seine Lanzen durch das nächtliche, in der Frühe wegschmelzende Eis. Schandera ließ von der Filiale einer Kunstgärtnerei am Karlsplatz jeden Morgen Blumen senden, Gloxynien, Orchideen, lazurne Sterne der Clematis, die weißen Tüten der Kalla, hellrosa Gloire de Lorraine. Sie legte er auf Ljubas 220 Bett. Manchmal sah sie sehr elend aus, mit Gruben in den Schläfen, und manchmal glänzten ihre Augen. Sorgfältig bürstete sie ihr Haar. Sie ließ sich einen Morgenrock bringen, wenn sie Schritte durch das Zimmer machte, dann ihre seit zwei Jahren nicht geänderten Straßentoiletten und eines Tags ihre Theaterkleider; aber rasch streifte sie sie von ihren Kissen. Sie sprach von einer Reise nach Agram und von dem Klosterpensionat in Sarajewo, in dem sie mit den Töchtern anderer Offiziere, Töchtern ärarischer Familien zusammengewesen war, von den schwarzen Tuchlarven der Mohamedanerinnen und der Schwüle des Bazars, vom Korso und dem Konak an der flachen Miljatschka; und wieder von Agram und den Gesangslektionen, die sie bei einem Professor, einem zänkischen Zwerg, gehabt hatte. Durch den Garten in der Erdedijeva hindurch hatte er sie, wenn sie die Möbel abstaubte, ihre Lieder üben gehört und dem Hauptmann Gjalski so lange zugesetzt, bis die Fünfzehnjährige mit den dicken Zöpfen seine Schülerin wurde. Aber schon war sie auch von der Passion für das Schauspiel besessen. Die greise Ristori hatte sie in Triest bewundert und während ihrer Ferien an der Burg in Wien die Wolter als somnambule Lady Macbeth.

Sie hatte einen Traum von einem Spiegel, den eine ihrer Kolleginnen an der Wiener Oper, als sei sie jung und gastiere dort auf Engagement, ihr vorhielt. Erst schien es ihr Antlitz von damals, mit den Brauen, auf deren Wildheit sie stolz gewesen war, und mit Gehängen von Jet an den Ohren. Dann wurde es ihr immer fremder, und dann erlosch es in einem fahlen Grau. Aber aus dem Spiegel selbst oder aus einem Kellergang hinter ihm kam 221 in wachsenden Ringen ein Licht, dessen mörderische Helligkeit sie fürchtete, Tür um Tür tat sich auf, und sie wußte, das Antlitz, dem sie entgegeneilte, werde das einer Toten sein. Sie wollte sich abwenden; jedoch sie vermochte sich nicht zu rühren. Da schwankte das Kellergestein über ihr und sie erwachte.

Eines Abends saß Schandera bei ihr in der zaudernden Märzdunkelheit, in der am Westhimmel oberhalb von Smichow in bläulichem Dreieck noch einzelne Wolken segelten. In diesem Lichtschein, der nicht mehr der enthüllende des Tages war, sprach Ljuba: »Vielleicht begreift ein Mann nie ganz, was ein Weib ist. Wir sind uns wohl begegnet, als ich schon zu vieles erfahren hatte. Ich hätte dich kennenlernen müssen, als ich rein war und noch nicht Frau und Mutter. Aber gibt es denn Reinheit? Ich denke jetzt oft daran, und ich habe keine Antwort auf die Frage, weder für mich noch für Manja, die schon ihr eigenes Leben leben muß. Vielleicht war es Sünde, daß ich von Ferdinand zu dir überging, Sünde der Eitelkeit, der Unwahrhaftigkeit oder Sünde des Bluts, Gott allein wird richten. Du hast geirrt, und was wir gemeinsam verloren haben, das hätte sich nicht wiederherstellen lassen, auch ohne den Tod unseres Erik. Aber du hast selbst am grausamsten gelitten und warst mir in deiner Bedrängnis, in deiner Verdammnis, Gatte und Freund. Einmal sollst du wissen, daß ich andere vor dir, vor euch gekannt habe. Ich habe dir nur gesagt, daß ich mit achtzehn Jahren beinah geheiratet hätte, in Esseg einen Operettensänger, und daß er gestorben ist. Aber er ist nicht gestorben, ich habe später seinen Namen irgendwo gelesen. Er wird mich vergessen haben, oder gar, wenn er 222 sich an mich erinnerte, hat er sich seines Erfolges bei mir gerühmt. Und dann war kurz vor Körner ein Baron in Wien, Jenö Pongracz, der in seinem Dogcart herumkutschierte, beim Blumenkorso im Prater und zum Rennen in Kottingbrunn, und der mich mit seinen Verrücktheiten toll machte, nach einer durchtanzten Redoute. Es war mir dann, als wäre es nie geschehen; und da ich ihn abwehrte, führte er als Baronin nach Nyarad eine Schulreiterin. Kannst du dir noch einbilden, daß ich müde, alte Person schön war? Daß ich Anfechtungen hatte und daß mich nur die Reue über meine Torheit in die Ehe mit Ferdinand trieb? Aber nun bin ich krank, und was ich gefehlt habe, ist für mich eine doppelte Bürde.« Völlig war draußen das Dunkel. Schandera umschloß sie und merkte, wie feucht ihre Schultern waren, ihre Wangen. In der Nacht rief sie: »Glaube mir nichts! Ich habe dich sehr geliebt!« Ihre Tränen flossen in einem Fieber des Widerrufs.

Am Morgen war sie still, wie unbeteiligt. Auch auf die Erkundigungen von Dr. Brandeis reagierte sie kaum. Es wurde geläutet. Die Aschenmänner verlangten ihr Geld, dieselben, denen Erik, als er klein war, fröhlich nachgeäfft hatte, weil sie so grob gesagt hatten: »Misme ti popeláři«, und weil sie so rußig waren wie die Bettelbuben zu Neujahr, die mit ihren Töpfen und Kesseln scheppernden Dreikönige Kaspar, Melchior und Balthasar. Der Gasmann kontrollierte den Monatsverbrauch. Bei der verwitweten Dame hinter der Zwischenwand waren wieder Gäste. Unten bei dem Kaiserlichen Rat Gregr glättete Prokupek den Parkettboden. Über das Pflaster des Kais lärmten Wagen. Die Sonne war matt; 223 und schon senkte sie sich. Nur noch ein rötlicher Saum umrandete den Mühlenturm am Strom. Schandera zog die Gardine des Schlafzimmers zu. Ljubas Gedanken wanderten irgendwo umher. Ihr Puls klopfte nur bisweilen. Kalter Schweiß bedeckte ihre Füße, ihr Gesicht, ihre Hände. Eng wurden ihre Pupillen, und als Schandera eine Kerze anzündete, erwiderten sie nicht auf den Lichteinfall. Sie stammelte: »Wo ist Ferdinand, wo ist Erik?« Pepka flog die Stiegen hinab zu Prokupek und schrie: »Schnell zum Herrn Stabsarzt, unsere gnädige Frau stirbt!«

Schandera reichte ihr Wasser, Kaffee, Wein, sie bewegte die Lippen nur schwach, nicht um zu trinken, sondern wie in unwilliger Klage. Und dann stand Körner neben Schandera, erschüttert, doch mit dem Ernst der letzten Pflicht. Noch Minuten lang ein Rasseln, ein Röcheln, dann brachen Ljubas Augen, sie schluckte wie ein Kind, und alles war vorbei. Schandera taumelte. Die Nachtschwester trat ein und bog den Kopf der Toten zurück. »Sie hat den Moment nicht gespürt«, sagte Dr. Körner zu Schandera, »die Natur hat ihn ihr verschleiert und die Lebenszentren nach und nach gelähmt. Sterben ist ein sachtes Erlöschen der Lebensinnervation. Sterben ist Euthanasie. Bedauern Sie sie nicht.« Er entfernte sich. Dann kam auf Zehenspitzen Manja. Die Schwester empfahl sich nach leisen Hantierungen. Manja ging bis Mitternacht nebenan von Fenster zu Fenster.

Auf einen Korbsessel ließ Schandera sich bei Ljuba nieder; und seine Zwiesprache mit ihr, ohne Zeugen, war endlos. 224

 


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