Paul Wiegler
Das Haus an der Moldau
Paul Wiegler

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Es war unmöglich, Erik mit der Eisenbahn nach Duhanitz zu transportieren. Dr. Geyer lieh seinen Wagen, der seine Töchter zum deutschen Industriellenball nach Prag gefahren hatte. Schon hinter dem Sandtor stöhnte Erik, zitternd trotz der Decken, die Schandera und der Kutscher über ihn breiteten. Vor einer Wirtschaft in 176 Veleslavin mußte er ganz auf die Lederpolster des Rücksitzes gelagert werden, da jeder Stoß ihn verwundete. Die Chaussee war öde, der Waldrand, Dorf auf Dorf, das sie passierten. Ein Schneesturm drohte und wanderte nach Osten ab. Die Stadt war zum Land geworden, das Land wurde zur Stadt, mit Schutt und Kohlenstaub. Indessen auch Duhanitz dehnte sich wie entvölkert. Nur ein Gendarm eilte um die Ziegelgebäude der Siedlung vor dem Werksspital, in dessen Tor er verschwand.

Dr. Geyer und Dr. Kafka tauchten in weißen Mänteln auf, und Dr. Geyer schrie, er werde heute keine Zeit mehr haben, denn Schwerverletzte aus dem Anton-Schacht seien in einer halben Stunde zu operieren. »Der junge Mensch kommt nach Zimmer zwölf«, sagte er zu einem Wärter, »die Oberin wird für ihn sorgen.« Dann bat er Schandera, der sich kaum noch von Erik verabschieden konnte, ihm in seine Privaträume auf der den Kliniksälen entgegengesetzten Seite zu folgen, und rief durch das Telefon auf dem Schreibtisch interurban seine Frau an. »Wir werden röntgenisieren«, sprach er während dessen zu Schandera. »Es ist vermutlich die Einschmelzung von Rückgratswirbeln durch die Tuberkulose.« »Ist der Fall schon sehr ernst?« fragte Schandera. »Sehr ernst«, bestätigte Dr. Geyer, »aber man muß für die wenigen Monate, die der Arme noch vor sich hat, seine Schmerzen zu lindern suchen. Schade, daß die Vinzentia nicht mehr bei uns ist, sie hatte den Buben in ihr Herz geschlossen, aber ihr Orden hat sie in das Spital in Witkowitz geschickt.« Schon telefonierte er in Geschwindtempo mit seiner Gattin, er komme morgen nicht nach Prag.

Er zeigte Schandera zwei große Schränke mit 177 Jagdgewehren und Kästen mit Munition: »Sehen Sie, Verehrter, das ist für einen Quacksalber und Gewebszerschneider wie mich noch die einzige Ablenkung. Nur ich fürchte, in dieser Woche wird davon keine Rede mehr sein.« In einer Porzellanvase standen riesige, altgoldene Chrysanthemen; die drückte er Schandera für Ljuba in den Arm. Er ließ ihn durch die Glastür zu einer Terrasse hinaus in einen Garten. Das einzige Grün waren die lederharten Rhododendronsträucher, zu der Häßlichkeit brauner Köpfe geschrumpft ihre Blumen. Rote Lackkugeln, schaukelten sich im Wind die Beeren einer Eberesche, weiß die von Winterjasmin. Von den Ästen sanken die Blätter zusammengerollt auf die nasse Erde, und Schandera sah durch das kahle Gitter die Landstraße in schwarzem Schlick und die Eisengerippe über der Grube.

Er ging durch kalten Regen Duhanitz zu, dem Anton-Schacht. Mit der stummen Menge aus den einstöckigen, meist von oben bis unten geborstenen Hütten der Siedlung Neu-Paris marschierte er bis zum Ort des Unglücks. Auf dem Zechenplatz, um das Haus, in dem sonst die Marken für die Bergleute verteilt wurden, drängten sich ihre Weiber. Viele schluchzten, manche heulten wir irr, einige forderten die Namensliste. Die Sanitätsmannschaft hob Verstümmelte auf Bahren. In der Maschinenhalle lagen zehn Leichen unter grauen Tüchern; die plumpen Schuhe ragten hervor, an ihnen erkannten ihre Frauen sie. Die Geretteten, die aus den Förderkörben und durch das Tor wankten, hatten noch ihre Grubenkittel an. Gespenstisch schwebte, mit Haken hochgezerrt, im Lampenhaus ihr Alltagszeug. Sie erzählten, eine Explosion bei einem Sprengschuß mit Schwarzpulver habe die 178 Spurlatten des Schachts auseinandergerissen. In einem Sumpfquerschlag hatten sie den Donner gehört, heißer Schwaden hatte ihnen die Gesichter verbrannt, an den Röhren der Wasserleitung waren sie bis zur dritten Sohle emporgeklettert. Die in der vierten Sohle arbeiten mußten, waren noch verschüttet. Einige von der Nachtschicht stiegen hinab, um den Brand durch Abhauen der Kohle zu ersticken. Sie riefen sich, als wäre das Entsetzliche nicht geschehen, mit gedämpften Stimmen das Grußwort »Zdař bůh« zu. In der Halle sang über den Leichen der Kaplan von Duhanitz das »Miserere Domine«.

Schandera ging, immer mit der prunkenden Garbe seiner Chrysanthemen, durch das Regengerinnsel den Weg zum Bahnhof. Das Büffetmädchen im Wartesaal, in dem er nichts nahm als eine Tasse Tee, wickelte ihm die Blüten mit groben Fingern in Papier ein. Er vergaß sie, denn schon wälzte der Zug von Komotau her sich in die Station. Er saß in einem offenen Kupee, im Mund die salzige Bitterkeit des Todes. Durch das Gepäcknetz sah er einen Mann, der drei Bänke weiter aufrecht am Fenster stand. Es war die Haltung, der dicke Kopf, der Bart des Professors Sauerwein. Er fuhr mit einem Toten, und er wußte es auch dann noch, als er nicht mehr zweifeln konnte, daß von links die Nase des Passagiers ganz anders war als die löwenähnliche des Malers. Der Tod war in Duhanitz. Der Tod hatte Erik, der noch lebte, gezeichnet. Der Zug glitt durch die Hetzinsel, durch die Häuserkarrees von Karolinenthal. Im Petroleumschein der Zimmer waren Tische für das Nachtmahl von Familien hergerichtet. Ein Kind spielte mit einem Schubkarren. Eines hatte in einer dunklen Gasse beim Bäcker Brot geholt, von dem 179 es Schlammspritzer wischte. Auf einem Gang schmälten zerraufte Gevatterinnen. Liebespaare verzichteten auf die Heuchelei des Vorhangs. Doch alle hatten sie hohle Augen. Der Tod war in der Welt.

Gegenüber der Hibernergasse, neben dem Pulverturm, flammte das vollendete Repräsentationshaus in den Abend; die Fresken von Mucha strahlten mit der Buntheit süßlicher Chromolithographien. Hinauf in den Smetanasaal stiegen über die Marmortreppe Konzertbesucher. Schandera begab sich aus dem Café, dessen Überfülle ihn abschreckte, in das Restaurant. Er wählte sich einen Platz in der Ecke bei der Garderobe. Jedoch ein Herr, auf den er nicht geachtet hatte, sprach ihn an; es war der Dr. Hynais. Noch verbindlicher als bisher, noch unsicherer und lauernder. Er fragte Schandera, für wie lange Zeit sein Anstellungsvertrag bei der Grundbank noch gelte; und so, daß es Schandera inmitten seiner fliehenden Gedanken überraschte. Der Advokat deutete auf eine Korruptionsbeschuldigung hin, gegen deren Urheber er vorgehen werde. Denn sie treffe indirekt den Stadtrat Kronbauer. Man wage es, ihn in seinem Schwiegersohn anzugreifen, dem Direktor Tuma von der Gasgesellschaft. »Wir werden klagen«, machte Dr. Hynais kund und zwinkerte. Es schien, als fürchte er Schandera noch immer, und als erleichtere ihn dessen Passivität.

Im Behagen der Sättigung, umwölkt von dem weißen Burgunder, den er auch in Schanderas Glas goß, wurde er vertraulich. Es handle sich um die Lieferungen an die Gemeinde, um das Monopol der Gaszentrale und um Manöver der Konkurrenz. Aber sie sei sehr unklug in ihren Verleumdungen; er habe sie gewarnt. Auch sei der 180 Stadtrat Kronbauer bei allen Differenzen, die jene beklagenswerte und vergessene Affäre hinterlassen habe, nie ein Feind Schanderas gewesen. »Wollen Sie nicht mein Gast im Grabenkeller sein?« Ein Kolporteur bot eine Spätabendzeitung an. Dr. Hynais kaufte sie und las die Überschrift: »Sensationelle Entlarvung der Tuma-Bande.« Er brach ab und erklärte, er müsse sofort zu dem Stadtrat. Schon schlüpfte er in seinen Otterpelz, schon geleitete ihn der Zahlkellner mit lauten Komplimenten nach der Diele.

Schandera nahm die Zeitung und durchflog sie. Es waren Dokumente gegen Tuma, der mit der älteren Tochter Kronbauers verheiratet war und vor dem ein Juwelengeschäft gehabt hatte, und den Franzosen Benoit als Direktoren der Gasgesellschaft, gegen unbedeutende Stadtverordnete und gegen den Leiter des Preßbüros, den Inhaber eines Parkettsitzes in Nationaltheater, den dichtenden Weltmann mit den Henri-Quatre. Schandera entsann sich des ersten oder zweiten Tages nach seiner Rückkehr, des Korsos am Quai, des Lächelns von Nejedly. Plötzlich war er bei Ljuba, bei Erik. Und all dieser Dreck zerstob für ihn im feurigen Orkan des großen, vernichtenden Unheils, das in Monaten, so hatte der Mann dort in Duhanitz gesagt, über ihn, über seinen Knaben dahinbrausen sollte. 181

 


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