Paul Wiegler
Das Haus an der Moldau
Paul Wiegler

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3

Um drei Uhr morgens schlief er im Hotel Europa ein, um zehn Uhr fuhr er, geweckt von einem wüsten Zank in einem Nachbarzimmer, empor. Schräg lag die Sonne auf der Hofwand. Vormittags und nachmittags erkundigte er sich am Schalter des Hauptpostamts in der Heinrichsgasse nach einem Brief seiner Tochter. Beim zweiten Mal wurde er ihm ausgeliefert. Er lautete: »Lieber Papa, ich 17 habe der Mutter mitgeteilt, daß Du Dich mit ihr versöhnen willst. Aber bevor ich Dir schreibe, gehe nicht in die Karlsgasse! Erik ist mit der Großmutter in Grado. Er hat sich erholt und hustet nur wenig. Zu Weihnachten kommt er von Agram nach Prag. Ich bin im Oktober da. Bis ich irgendein Engagement finde, wohne ich bei der Mutter. Übrigens hat sie, als sie das Halsleiden hatte, für immer auf die Oper verzichtet. Sie alterniert im Schauspiel mit der Blahova. Hier hast Du ein neues Bild von mir.« Eine Photographie glitt aus dem Umschlag. Sie zeigte ein nicht mehr ganz junges Antlitz, das Hoffnungslosigkeit nicht verhehlte und dessen Reiz der Gegensatz war der zarten Kopfform, der schmalen Wangen, der feinen Nasenflügel und des frauenhaften Mundes. Großgeschnitten waren die düsteren Augen, deren Brauen zusammenwuchsen. Blond mußte das Haar sein, das geflochten lag, umschlossen von einem Stirnband.

Gegen fünf Uhr betrat Schandera ein weithin sichtbares, vierstöckiges Haus in der Langen Straße. Im obersten Stock war ein Porzellanschild befestigt: Dr. Hynais, Advokat. Der Bürovorstand und drei junge Schreiber saßen in einem Zimmer. Einem Landmann, der eines Erbschaftsbetruges wegen kam, einem pfiffigen Alten, ließen sie ihre Rechtsbelehrung zuteil werden. Auf dem Altstädter Ring ragten, von einem Holzgerüst umpfercht, die Türme und Türmchen der Teinkirche auf und das goldene Marienbild.

Dr. Hynais empfing seinen Klienten mit höflichem, fast freundschaftlichem Gruß. Er war beleibt und hatte einen melierten Bart, den er wohlgefällig strich. »Wir müssen Geduld haben«, sagte er. Dabei griff er nach 18 einem Faszikel mit den Namen Schanderas und Vojnas, das in einem gotischen, von der Statue des Königs Wenzel, des heiligen Ritters, bekrönten Aktenschrank geruht hatte. »Meine Mittel sind bald verbraucht«, warf Schandera ein. »Welchen Rat geben Sie mir?«

Dr. Hynais schlug die zwinkernden Lider zur Stubendecke auf: »Sie persönlich haben die letzte Entscheidung. Fordern Sie die Wiederaufnahme Ihres Prozesses gegen Vojna, so werde ich natürlich mit aller Energie die Sache in Schwung bringen.« Er fuhr sich mit einem Messerchen um die Nägel. »Sie wissen das wie ich, als ein Jurist von vielen Graden. Vor dem Kassationshof würde ich nur nochmals beantragen können, daß der Kommissär Okoun vom Amtsgeheimnis entbunden wird.« Schandera lehnte ab: »Das ist unwahrscheinlich.« »Unwahrscheinlich, denn der Baron Waldburg wird bestätigen, was in der deutschen Ära des Justizministers Perger geschehen ist«, sagte Dr. Hynais. Schon häufte der Bürovorstand neue Aktenstöße um ihn, die er eifrig durchwühlte.

Nach einer Pause klagte er, mit dem Blick die Ecken suchend: »Oder haben Sie jetzt Beweise gegen dieses Individuum, den Sadovsky? Beweise, daß er der ominöse Tersch war? Alles, was über seine Tätigkeit Licht schafft, wäre ein Zeugnis zu Ihren Gunsten. Nur, ich zweifle an einer Sie befriedigenden Rehabilitierung.« Der Advokat sprach mit einer Würde, die sich selbst genoß, von der Sache der Gerechtigkeit, von den Reichsratswahlen und von der Stadtverwaltung, deren Mitglied er war. Dann begleitete er seinen Gast bis zur Tür. Im Vorzimmer wurde, als Schandera herauskam, getuschelt.

Er durchquerte den schon abendlichen Ringplatz. 19 Durch Gassen, die eng wie Schächte waren, strebte er dem Franzenskai zu, ohne Sinn für anderes als für das Pflaster, über das der Oktobersturm die kleinen, eirunden Blätter der Akazien jagte. Leblos war das graue Eckhaus mit der roten Tafel des Nationalrats und den geschlossenen Jalousien. Wie immer folgten bis zur Ferdinandsstraße die Läden sich: das Bilder- und Rahmengeschäft, die Konditorei, der Antiquitätenverkauf. Böhmische Gläser und Becher waren dort, Brokate und Porzellane. Vor dem Café Slavia schlenderten Nejedly, der Schauspieler, runzlig und geckenhaft, und der elegante Journalist Dr. Heidler, der weltmännische Dichter mit dem à la Henri-Quatre gestutzten Bart, vor dem Nationaltheater der Hofrat Melichar, der erstaunt sich umwandte.

Am Tylplatz trat Schandera dem alten Hause zwischen Smetanagasse und Theatergasse, in dem er mit den Seinen gewohnt hatte, gegenüber. Die graue Front war wie einst. Da, wo die Lampe winkte, war sein Arbeitszimmer gewesen, dort das Zimmer Manjas, dort hatte Erik seine Kindheit zugebracht, froh, noch nicht geschwächt von Krankheit. Er hob den Klopfer des Tores auf, er las unsicher die erhellten Namen der Mieter, er war versucht, im dritten Stock, am Ende eines mit Syenitplatten belegten Flurs, seine eigene Tür zu öffnen. Jemand näherte sich. Eine Dienstmagd mit einer Wasserkanne rannte an ihm vorbei die Treppe hinab. Nun war es wie in einer Katakombe.

Unter der Franzensbrücke plätscherten Ruder. In den Bäumen der Schützeninsel flatterten die weißroten Wimpel eines Festes ohne Publikum. Ein Ringelspiel stand unter einem Zelt mit Hirschen, Schwänen und 20 dickgeschweiften, sich bäumenden Rossen als Fahrtieren; ein lebendiges Pferd rieb sich an dem Leierkasten, nach dessen Gedudel es sonst die Kreisbahn abging. Über der Chotekgasse geisterten die elektrischen Kugellampen des Petřinparks, hoch und höher, als seien da oben die Promenaden eines Badeorts im Gebirg. In die Straße hinein lag, mit dem alten, schwarzgelben Tor und dem vergitterten Brunnen, die Terrasse der Aujezdkaserne.

Glimmende Laternen führten an neuen Zinshäusern entlang nach der Vorstadt Smichow, zum Platz am Kinskypark. An der Slavataschen Neptunsfontäne, die ein paar verkümmerte Bosketts bewachte, hielt ein Ausrufer von Sutschukwurst und türkischem Honig. Die Transporte stauten sich, weil hier die Mautgrenze war. Die Kutscher fluchten, als Schandera zwischen den Pferden weiterging. Er starrte eine Viertelstunde auf die Menschen, die von der Karlsgasse herabkamen, und auf das Laub, das am Boden wirbelte. Dann saß er, durch den Musselinvorhang hinausblickend, in einer kleinen Konditorstube.

Um neun kehrte er über die Franzensbrücke zum Nationaltheater zurück. Im Vestibül waren nur noch einige Billethändler. Man gab nicht die »Brandenburger in Böhmen«, die morgens angezeigt worden waren, sondern, wie Schandera zusammenzuckend feststellte, den »Tod der Mutter der Jugoviće«, in der Hauptrolle Frau Ljuba Gjalska. Er nahm eine Karte für die einzige Loge, die noch frei war, die siebente Parterreloge links. Ein redseliger Diener schob ihn in die Tür. Bald gewöhnte Schandera sich an das Halbdunkel. Fast niemand saß in den Rängen, nur auf den Sperrsitzen und in den beiden 21 Galerien hörten die Abonnenten dieses Mittwochs zu. Winzige Flämmchen beleuchteten die Gemälde des Plafonds, die vergoldeten und geflügelten Weibchen, die Medaillons des Proszeniums, die vergoldeten Säulen.

Auf der Bühne war schwelende Nacht. Dann wallte langsam das Rampenlicht empor, man sah die Gruppen der Statistinnen in altslawischen Kleidern, ein Ährenfeld, Knechte mit Waffen, und im Hintergrund deklamierte eine Stimme ein getragenes Totenlied. Jetzt hoben sich Umrisse hervor, eine groß dastehende Frauenfigur, die ihre Arme in schwarze Schleier hüllte, jetzt ihre von einer harten, leidvollen Maske überspannten Züge. In der Stimme waren Schäden, ihre Höhe hatte seit ihrer Aïda den Glanz eingebüßt; doch ein starker Wille loderte in ihr und in den nächtigen Augen, deren Brauen zusammenwuchsen. Jetzt veränderte sich die Haltung des großen, zur Schwere neigenden Körpers, die mattschimmernde, gewölbte Brust, ihre tiefe, senkrechte Falte wurde frei. Der Körper ließ sich herab zu Rovensky, dem in seiner strohigen Perücke lächerlichen Heldenspieler, dessen Leiche durch das Ährenfeld gebracht worden war. Es schien, als ob er den Statisten etwas zuflüsterte. Von den neun Söhnen des Bogdan Jug sprach die Stimme der Frau, von neun Speeren, neun Rossen, neun Löwen, neun Falken, vom unermeßlichen, tränenlosen Gram eines Heldenvolkes. Tränenlos waren die von Kohlenstrichen und altroter Schminke umrandeten Augen Ljubas, Manjas Augen. Schandera brütete vor sich hin, in einem Traum der Fremdheit, des Verlangens, der sinnlichen Gemeinschaft von ehedem.

Der weißbärtige Kritiker des Statthaltereiblattes 22 verließ mit schreienden Sohlen seinen Orchestersitz. Eine geputzte Abonnentin schenkte ihrer Nachbarin Kuglerbonbons und knisterte mit Papier. Dann sank die Frau auf der Bühne wie sterbend zu Boden, über die Leiche Rovenskys. Priester leiteten eine kirchliche Prozession, mit funkelndem byzantinischem Ornat behangen.

Schandera riß die Logentür auf. Sein Blick war trüb, sein Mund verzerrt.

 


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