Josef Wenter
Laikan
Josef Wenter

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Das letzte Kapitel

Die freundliche Küste leitet den Lachs südwärts. Aus seiner Tiefe aufsteigend, gleitet er über sanft abdachende, weiße, weit ins Meer hinaus sich dehnende Sand- und Schlammebenen; fährt in dieser laueren, reicher Äsung trächtigen Welt hin; rudert geruhsam wieder über die jäher abfallenden Ränder in die grüne Schwärze hinaus; taucht hinab; wiederholt diese Fahrten oftmals und atmet gegen die Frühlingswende leichteres, brackiges Wasser, das, weit hinab grau und unsichtig und neuer Witterung voll, ins Meer sinkt.

Wieder ist Wanderzeit auf der Erde und im Wasser und in den Lüften; und die großen Sehnsüchte, die aus so vielfältigen Herzen aller Gotteserschaffenen sich aufmachen, brausen mit den Frühlingsstürmen, mit neuen Gestirnen, mit der auf höherer Bahn herrollenden Sonne, durch die schwermütig glückselige Schöpfung.

Über unermeßliche Sanddünen, über weite und tiefe Mulden, vorüber an rauschendem Röhricht und zwischen unabsehbare Ufer hingestillt, entgürtet der Strom in großer Feierlichkeit und Majestät sich und gleitet die silbernen Knie hinab der geduldigen Mutter, die die Stimme Gottes gehört hat am zweiten Schöpfungstage.

Seit Wochen steuert Laikan im brackigen Wasser und gewöhnt Kiemen und Lunge und das meergestillte Herz an den neuen Atem und Druck. An zwanzigmal hat er den feierlichen Kreis des Jahres umfahren und ist größer noch als Mutter Lachs. Lange ist er bei sich zu Haus und ist kein Raum seines Lebens und Leibes, den seine 302 Seele nicht ausfüllte. Er ist im hohen und gerechten Mannesalter. Ruhig und mächtig rudert er im Schwall des Unsichtigen, das die Tage heranführt und die Nächte, und weiß, gefriedet in die unendliche Reihe seines Geschlechts, von keinem Anfang und von keinem Ende. Einzelgänger ist er, ohne Schwermut noch des Alters und dünner werdenden Lebens.

Wie eh und je läßt er sich vom aufflutenden Meer weit hineintragen in den verrollenden Strom, und die Ebbe saugt ihn wieder hinaus. Silbern gewandet, funkelt er in der Frühlingssonne herrlich auf.

Viele Verwandte queren unrastig das Brackwasser, und als Laikan eines Abends sich aufmacht zur großen Fahrt, folgen ihm erwachsene Männer der Sippe. In zwei Reihen nebeneinander, oft in weiteren Abständen, ziehen die Fischleute hinter dem älteren Vetter her, rheinaufwärts.

Vor Wochen schon sind die hochzeitlichen Frauen aufgebrochen, und kein Schein oder Witterung ihrer Leiber kommt zu den Wanderern. Lange ist das Brackwasser hinter diesen, und noch immer wesen ihre Seelen im Meere und haben noch die Hochzeitsschabracke nicht über den Leib geworfen. Aber mit dem stärker herrollenden Strom, mit dem sich erfüllenden Frühlingsmond gesellt sich zur Wandersehnsucht, mählich aus Seele und Leib aufsteigend, der Ungestüm ihrer Mannheit.

Alles kommt und geht wie eh und je an ihnen vorüber und wie sie es, seit sie um ihr Lehen wissen, gewohnt sind.

Einförmig gehen die Tage im Unsichtigen hin, und weil 303 die Wanderer weder jagen noch pirschen, legen sie weite Strecken zurück. Bei den Rasten zerlöst die Reihe der wandernden Männer sich, sie dösen da und dort in Altwässern und über Seichten und finden sich alsogleich wieder zusammen, wenn der Große aufbricht.

Dann kommt eines Tags im Mai ferner Donner her, und gegen Abend halten die Lachse vor dem Rheinfall. Querend und ausruhend äugen sie aus strudelndem Gischt aufwärts und sehen dann die ersten Frauen der Sippe in tiefen Tümpeln verhalten und andere sich den Wassersturz hinaufschleudern.

Den großen Sturz hat Laikan im Gedächtnis behalten alle Jahre hindurch des Meeres und fremder Ströme. Jetzt ist er in seinem Strom! Die grauen Augen funkeln den Schwall hinan. Dann stürmt er hin, mißt den brausenden Weg, und mit einem gewaltigen Schlag des riesigen Ruders schleudert er sich luftwärts.

Oh, funkelnder Blitz lebendigsten Lebens! Oh, feierlich der hohen Sonne dargebrachte Huldigung! Oh, demütigstolze Opferung sein selbst vergessenden Geschöpfs, vor der Weisheit und Herrlichkeit und Strenge auch des Schöpfers, auf diesem erhabenen Altar des Lebens und des Todes!

Erinnerung des Meeres und der ersten Fahrt mit dem Nestlingsherzen kommt über den Wanderer im schwäbischen Meer. Die magischen Weiser leiten stumm und sicher von Rand zu Rand. Die folgende Reihe der hochzeitlichen Männer ist kleiner geworden. Der Rheinfall hat manchen abgeschlagen. Andere stürzten zu Tod oder in die Liste des Menschen. Abzweigenden Flüssen folgte 304 dieser und jener, je nachdem ihre Seelen sie riefen, in die Seichten ihrer Nestmulden. Es ist ein kleines Trüpplein von drei, vier Lachsen, die sich den Vorderrhein hinanstemmen. Laikan ist um eine halbe Tagreise den Vettern voran.

Herrlich hat der Hochzeiter sich jetzt geschmückt. Stummen Gesichts – denn seit vielen Wochen hat die große Säge sich nicht mehr aufgetan! – zieht der Lachs seine Straße, und die grauen Augen gehen groß durchs grüne, weiß gischtende Wasser.

Dann begegnen ihm je und je die Jungen und Jüngsten seines Geschlechts, die meerwärts wandern und erschrocken ihre quergebänderten Nestlingsleiber seitwärts schleudern. Aus Seichten und Tümpeln äugen sie scheu nach dem stolz und einzeln herziehenden Ahn. Laikan gewahrt das kleine Geschlecht und beachtet es nicht. Es fährt seine Wege. Weit ist die Fahrt. Vielleicht wird es ins Meer gelangen! O vielleicht!

Höher stemmt der Lachs sich, und es ist leer um ihn im brausenden Fluß. Ein großer Schrecken geht vor dem Gewaltigen her, und einen scheuen Bannkreis zieht das mit ihm wesende Meer und die Unendlichkeit und Unbesieglichkeit des Lebens und die Ahnung und Witterung tausendfältiger Gefahren und tausendfältigen Todes.

Aus der hohen Wölbung des Jahres neigt der Herbst sich in diese erlauchte Landschaft. Laikan ist in die Gegend der Nestmulde gelangt, aus der er – oh, wann? Begab es sich je überhaupt? War man nicht immer im Leben? Hat es denn einmal begonnen? – aus der er ins Leben geschlüpft ist, mit dem frohen Schreck: Ich hin da, ich 305 bin da! – War er da? O vielleicht! Jetzt aber ist er da! Unermeßliche Zeit hat er gelebt. Ströme, Flüsse und das unendliche Meer hat er eingeschlürft. Seele und Leib sind durch eine große Unsichtigkeit in eine grüne und weiß schäumende Klarheit gefahren. Jetzt erst ist Laikan zu Haus und ist ganz bei sich zu Haus; und weithin noch wird das Leben sich dehnen.

Plötzlich verhält er. In einer Seichte, wenige Leibeslängen vor ihm, richtet eine große und geschmückte Frau die Nestmulde zu. Wie oft er es erlebt hat, bestürmt dieses hochzeitliche Geschäft wild und überwältigend wie eh und je die Seele des Mannes. Seit Tagen, da er sie erblickt hat, wie sie ruhig und groß vor ihm her durch den grün wirbelnden Fluß zog, hat er sie nicht mehr aus seinem funkelnden Blick gelassen. Leicht wäre es ihm gewesen, mit einem einzigen Sprung die Geschmückte einzuholen. Das aber ist gegen Gesetz und Brauch. Gesetz und Brauch aber kommen aus der Seele und sind seit Jahrtausenden gültig.

Keinmal hat die Lachsfrau auf der Fahrt sich umgesehen. So ist's Gesetz und Brauch und gültig seit Jahrtausenden. Der magische Wille des hinter ihr herziehenden Mannes ist lange in ihrem Leib mächtig und treibt sie zur Flucht vor ihm. Hätte er den Sprung zu ihr getan, sie hätte ihn abgeschlagen. Laikan kennt dieses seltsame Geschlecht, das will und nicht will, und er achtet genau das Gesetz ihrer Seelen.

Dann gelangte sie zur weißen Sandbank, in die sie seit vielen Jahren ihre Nestmulde höhlt. Von anderer Magie wird ihr Wesen jetzt überwältigt. Vergessen ist der 306 verfolgende Mann. Sorge um Nachkommenschaft und Geschlecht übermächtigt die Mütterliche ganz. Wie sie mit gewaltigem Ruder eine menschengroße Mulde zurichtet, ist sie nicht mehr sie selbst; ist von eh und je gewesen; seit Jahrtausenden in großem Gehorsam untertan dem Willen ihres Geschlechts, das am Abend des fünften Schöpfungstages aufgerufen ward durch die Stimme Gottes.

Hoch atmend steht Laikan eine Leibeslänge unter der Sandbank. Seine grauen Augen funkeln durchs dünne Wasser. Er ist ein blitzendes riesiges Schwert, gezückt und ausgereckt zu sausendem Stoß.

Sie beachtet ihn nicht.

Weiter rückwärts, hinter einem drehenden Strudel verhalten die drei jüngeren Lachse, die leidenschaftlich und geduldig und sehr ungewiß, ob sie der Frau nahen werden, die Fahrt hinter den zwei Gewaltigen her getan haben.

Dann ist die große Mulde fertiggebaut und liegt schimmernd in der weißen Seichte. Die mütterliche Frau dreht bei und ruht überm Kies. Ihr graues Auge geht durchs Wasser und heftet sich auf den hochatmenden Mann.

»Bist du wieder gekommen?« sagt sie.

»Ich bin wieder gekommen.«

»Mein Nest ist auf dem gleichen Platz. Erinnerst du dich?«

»Ja, das tue ich«, sagt Laikan, der jetzt an Mutter Lachs und ihre große Nestmulde sich erinnert.

»Oh, du hast es nicht vergessen!« – Ihre Ruder streichelt den Muldenrand. 307

»Ich war seit meiner ersten Meerfahrt nicht mehr da. Lang ist das her«, sagt er dann.

»Oh, aber ich kenne dich alle Jahre her«, sagt die Frau.

»Ich dich auch!«

»Du warst es immer, der mir nachgefahren ist!«

»Immer bin ich dir nachgefahren«, sagt Laikan.

»Dein Leben lang bist du im Strom hinter mir gewesen«, sagt sie.

»Mein Leben lang bin ich hinter dir gewesen«, sagt Laikan.

»Das ist schön und gut von dir!«

»Es ist schön!« sagt Laikan.

Die hochzeitliche Frau hebt sich auf und beginnt zu schaukeln. Entzückt taumelt sie über der weißen Mulde.

»Komm her zu mir!«

Da rauscht das dünne Wasser auf. Einen mächtigen Satz tut Laikan, schnellt halb durch die Luft und prescht auffunkelnd in das gischtende Wasser neben die kreisende Frau. Oh, großer Gehorsam der bebenden Seelen und Leiber! –

Oh, allgegenwärtiger, höhnischer Tod!

Durch den morgendlichen Fluß fährt er blitzend und schlägt in Laikans dröhnendes Herz. Die Kugel des Menschen hat ihn getötet, und er stirbt den schnellen und berauschten Tod, den Mutter Lachs, nicht weit von dieser Seichte, vor zwanzig Herbstzeiten starb.

Als der Mensch den Lachs aus dem Wasser zieht, zuckt der mächtige Leib in letzten Lebensschauern; und wie die Sonnenlanzen über den Silbernen herschießen, funkelt 308 der Menschenring an der ersten Strahle der mächtigen Rückenflosse gleißend auf. Staunen faßt den Menschen, und Erinnerung an den Tag überfällt ihn, wie er, ein Kind noch, es mit ansah, als dem kleinen, verzweifelt sich wehrenden Fisch der Ring um die erste Strahle der Rückenflosse gelegt ward.

Weithin gehen die Gedanken des Menschen und fahren mit Laikans langem Leben: durch Ströme und Meere, durch Not und Gefahr, durch die Schrecken der Tiefe und die große Lust und Herrlichkeit des Erdendaseins; und feierlich müssen sie es zu Ende bedenken: wie dieses edle Tier, gehorsam seinem Gesetz, die Heimat seiner Ahnen und seiner Geburt aufgesucht hat; und daß nirgendwo gerechter der Tod es erschlagen konnte, als in der erlauchten Landschaft seines Herkommens und mitten im entzückten Rausch seines hohen Lebensfestes.

 


 


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