Josef Wenter
Laikan
Josef Wenter

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Hunger

Er hat sich gewöhnt an die Welt, die ihn umgibt, und die nicht größer ist als die geräumige Nestmulde; und er ist es zufrieden. Er weiß nicht, daß außerhalb eine größere und gefährliche Welt ist. Im heimischen Gewässer kauern, gleich ihm, noch etwa hundert solcher kleiner Geschöpfe auf dem weißen Kies. Alle haben gelbe Dottersäckchen, große Köpfe und graue Augen. Daß sie Geschwister sind, weiß keines von ihnen; daß Männchen und Weiblein versammelt sind, kümmert niemand. Alle haben beharrlich und geruhsam von ihren Dottersäcken gezehrt, schauen aus großen grauen Augen ins Licht und spielen mit dem Leben. Es ist schön und wird immer so sein!

So ist dem Männchen zu Sinn, wenn es die anderen betrachtet. Es ahnt nichts von der gefährlichen Aufgabe, die seiner harrt: zu leben; in einer Welt zu leben, die gegen nichts feindlicher ist, als gegen das Leben, das sie hervorbringt. Es weiß nicht, daß viele Hunderte seiner Geschwister, die Mutter Lachs in die Nestmulde gesetzt hat, gar nicht dazu gelangt waren, den frohen Schreck zu fühlen: ich bin da! Daß Hunderte, noch ehe sie Gestalt 13 hatten, von den Wellen ans Ufer gespült wurden und in der Sonne verwesten; daß aber Hunderte, von der Strömung fortgerissen, in tiefes Wasser sanken und das Leben nicht empfingen; daß der anmutige graue Vogel mit dem schwarzen Kehlfleck und dem langen Schwanz, der im Herbst nahe dem Muldenrand badete, viele Eier weggefischt hatte; daß nahe der Nestmulde ein finsterer und kühner Räuber haust, für den Lachseier ein Leibgericht sind; der Tausende verschluckt hat.

Dann kam eines Tages die Wendung in das Leben des Lachskindes. Das Glück des Daseins ward fraglich, Behaglichkeit und Ruhe wurden selten, die Welt hatte plötzlich eine sehr ernsthafte Ansicht, denn es war an dem: das Bürschchen fühlte Hunger. Und das war sehr seltsam. Was ist nur mit ihm geschehen? Die Nahrung, die sanft und ohne Mühe in seinen Körper eingeströmt war, ist plötzlich nicht mehr da. Der süße Quell ist unmerklich versiegt. Schon seit einigen Tagen sind ihm winzige Geschöpfe aufgefallen, die auf dem weißen Kies herumkriechen oder sich um ein blitzendes Steinchen winden. Auch schwamm hie und da etwas an den grauen Augen vorüber, und er hatte das kleine Maul geöffnet, ohne eigentlich zu wissen warum, und viel zu spät. Wie ist das? Sind diese Geschöpfe immer schon dagewesen, und hat er ihrer nur nicht geachtet? Wahrscheinlich ist es so! Er fühlt sich auf einmal aufgeregt, fast zornig, wenn er die winzigen Geschöpfe betrachtet. Eine unsichere Wut packt ihn, er schlägt mit der Schwanzflosse. Da schießt er auch schon vorwärts; das kleine Maul hat er viel zu weit aufgerissen und den Wasserfloh verschluckt. 14

Die erste Beute – ein Wasserfloh!

Dann kauert er staunend auf der Stelle. Im Leib hat er ein gutes Gefühl, aber die Wut ist immer noch und zittert in der Schwanzflosse. Die grauen Augen haben einen Schein angenommen, der anders ist, als sanftmütiges Betrachten ihn verleiht. Wieder und wieder ist er bereit, pfeilschnell vorzustoßen, und das Herz schwillt ihm hinter den rasch atmenden Kiemen. Jetzt ist er einbezogen in den unentrinnbaren Kreis, in das große Gesetz. Jetzt erst ist er da! Jetzt hat ihn das Leben, das er zu haben meinte. –

Mutter Lachs, die im Meere sich erholt von der gefahrvollen und mühseligen Reise und in kühler, halbdunkler Tiefe, im samtenen Wasser sich vergnügt, denkt zwar nie an ihre Söhne und Töchter. Aber wenn sie über die 15 Niederungen, Seen und Gebirge einen Blick tun könnte in ihre Kinderstube, hoch oben in der Gotthardschlucht, dann hätte sie Freude über die spannlangen Bürschchen und Weibchen, denen die Nestmulde zu klein wird, weil sie alles Eßbare darin verzehrt haben und auf die wenigen Bissen warten müssen, die ihnen die schwache Strömung über den Nestrand hereinbringt. Aber es wäre ebensogut möglich, daß sie ihre Raublust reizten.

Darum ist es besser, daß Mutter Lachs weit draußen im Meere haust und, mit ihren eigenen Angelegenheiten beschäftigt, niemals sich erinnert, daß sie auf den vielen Hochzeitszügen rheinaufwärts ungezählten Söhnen und Töchtern Gelegenheit gab, es mit dem Leben zu versuchen.

Es ist gut, daß Mutter Lachs nur ein kurzes Gedächtnis für derlei hat, so genau sie sonst alle Gefahrstellen des Reiseweges und alle seichten Kiesbänke für Nestmulden in der Erinnerung behält. Denn ihr müßte das Herz brechen, wenn sie erführe, daß von den vielen Hunderttausenden nur recht wenige ins Leben gelangen, und daß von diesen wenigen nur die Glücklichsten das Meer erreichen, das die Heimat und unstillbare Sehnsucht ihres Geschlechts ist; aus dem sie aufsteigen, folgend uraltem Gesetz, gehorchend dunklem Trieb, silberne Straßen wandernd, gewiesen an die hohen Orte ihrer Geburt; dort, festlich geschmückt, leidenschaftliche Hochzeiten haltend, endlich mit den heimkehrenden Wassern hinabfließen, schwer von Erlebnissen, Müdigkeit und Gestilltheit; endigend den Kreis glücklichen Jahres.

O Sinnbild und Zeichen atmender Schöpfung! 16

 


 << zurück weiter >>