Josef Wenter
Laikan
Josef Wenter

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Flußaufwärts

Die kleinen Trüpplein der jungen Lachse sind noch unschlüssig und halten sich im offenen Meere. Gegen die 218 Abendstunden nur kommen sie zögernd an das Süßwasser heran, atmen es ein, steuern ein wenig in ihm herum und tauchen dann wieder ins Unsichtige. Sie haben Zeit. Es gefällt ihnen im nahrhaften Meere gut, und keine Leidenschaft treibt sie flußwärts; höchstens die Wanderlust, die im Frühling über ihre Seelen Gewalt hat. Aber sie sind erst vor wenigen Wochen ins Meer gekommen und haben sich noch lange nicht genug erholt und gesättigt.

Die fast Dreijährigen, welche im Herbst vor zwei Jahren aus ihren Nestmulden davonzogen, und mit denen Laikan sich herumtreibt, haben sich nahe an die Ausmündung des Gebirgsflusses gemacht und atmen seit Tagen die grünen, eiskalten Schmelzwasser.

Laikan gewahrt da Verwandte, deren Köpfe nicht so schlank und spitz aussehen, und auch die Sägen sind weniger scharf. Als ein solch sanft und hochmütig blickendes Geschöpf plötzlich einen Sprung tut, sich über ein paar große Steine hinüberschwingt und gegen die andringenden Wellen des ausmündenden Flusses sich stemmt: da springen ihm drei, vier Vettern aus dem Trüpplein nach.

Wie ist das? Jagt man hier noch? Nein! Und man jagt auch nicht Verwandte im süßen Wasser, und schon gar nicht, wenn die fast gleich groß sind wie man selbst, und es also gar keinen Sinn hätte, sie am Schwanz zu packen. Also? Wie ist das?

Wieder kommt ein sanftes Geschöpf an ihm vorbei. Ohne ihn anzublicken, hochmütig, geradeaus; und stemmt sich in den Fluß hinein.

Da überfällt Laikan der zitternde Schreck, den er im 219 Meer einen Augenblick gefühlt hat. Was es ist, weiß er nicht. Sehr groß kommt er sich plötzlich vor, und dann ist ihm, als wäre er nichtig wie ein Gründling, die er immer verachtet hat. Fast hat er ein Gefühl, als ob seine Schwimmblase ihn gleich zersprengen würde, und die Kiemenseide ist röter als sonst. Seine Flossenstrahlen sind gesträubt, und das Ruder starrt wie ein Schwert. Aus grauen, blitzenden Augen funkelt er der Sanften nach, die in Gebraus und Gegischt verschwunden ist. Dann weiß er es plötzlich: sie ist eine Frau seiner Sippe. Da tut er einen kühnen und hohen Sprung, klatscht in einen Strudel des gischtigen Bergflusses und sieht die Frau seines Geschlechts ruhig gegen den Schwall sich aufwärts stemmen. In Entfernung zieht der junge Lachs hinter ihr her, bedacht, sie nicht aus den Augen zu lassen, vergessend auf Hunger, Jagd und Pirsch, vergessend sein Selbst und geschwellt von Stolz und herrischer Lebendigkeit.

Die Reise ist beschwerlich. Die Lachsfrau verhält halbe Tage lang in den weißen Strudeln, die hinter Felstrümmern sich drehen. Dort ruht sie von der großen Anstrengung aus. Wenn die Schmelzwasser zu gewaltsam einherstürzen, stemmt sie sich mit dem schönen Ruder gegen einen Stein. Kommt ihr ein Wurm oder eine Larve oder sonst ein Geschöpf vor die Säge, dann schluckt sie es. Aber zur Jagd ist sie nicht aufgelegt. Ihre Seele ist im Bann des großen Vorhabens, das sie auf die Reise zwingt.

Laikan verhält ein Stück unterhalb in einem Tümpel. Manchmal kommt die Witterung zu ihm, dann schüttelt 220 ihn plötzliche Leidenschaft, und er tut einen Sprung nach vorwärts. Wenn er aber die rastende Frau gewahrt, kehrt er wieder um. Die Leidenschaft seiner noch jungen Seele ist eine Art von Neugier, und er weiß eigentlich nicht, was es mit ihm für eine Bewandtnis hat. Bald ist er stolz auf sich, bald ist er stolz auf die Lachsfrau vorne im gischtenden Strudel und glaubt, daß er ihr gehorchen müsse. Aber was sie von ihm wollen könne, weiß er nicht. Und was er von ihr will, weiß er erst recht nicht.

Da gewahrt er zwei Verwandte, die ein wenig größer sind als er, hinter ihr herrudern. Ganz einträchtig rudern die und blicken geradeaus nach der vor ihnen Herziehenden. Da ist plötzlich ein neues Gefühl in seiner Seele. Es ist fast so, wie wenn einem ein anderer den Gründling, den man schon am Schwanz gepackt hat, aus der Säge reißt. Aber viel stärker ist dieses Gefühl, und es hat den ganzen Leib, nicht nur Säge und Magen. Laikan prescht zwischen die zwei Junglachse. Die fahren auseinander und stürzen im nächsten Augenblick auf den Eifersüchtigen. Es gibt harte Stöße in die Flanken, und als Laikan in die obere Welt hinaufschnellen will, um die zwei zu überspringen, erwischt ihn der eine an der Bauchflosse. Der Sprung wird unsicher, und Laikan schlägt auf einen Stein, der scharf über dem Wasser steht, und klatscht dann in weißen Gischt.

Die harte Landung hat ihm das Rückgrat geprellt. Er fühlt dumpfen Schmerz und ist nicht mehr so behend. Springen kann er nicht, das merkt er gleich. Ein paarmal dreht ihn der Strudel, und dann treibt er ein Stück abwärts. Der Schwall schwemmt ihn unters Ufer, und er 221 gerät über die Nestmulde der Äschen. Die kennen das und beißen den Nesträuber ergrimmt aus der Seichte. Als er wieder bei sich ist, blutet er auch an der Flanke und hat die sanfte und hochmütige Frau seiner Sippe vergessen.

Nach uraltem Herkommen verbirgt der kranke Junglachs sich im Dunkel, hinter moosigem Gestein, wo das Wasser still gurgelt. Er gewahrt nicht die vielen wandernden Frauen seiner Sippe, die mit dem steigenden Jahr in immer größerer Zahl den Fluß herauf sich stemmen. Er sieht nicht die noch zahlreicheren Männer, die in kleinen Trüpplein den Lachsfrauen folgen, einträchtig und beharrlich, und erst in Nähe der Nestmulden eifersüchtige Turniere abhalten werden. Laikan pflegt der Ruhe und hat wieder zu fressen begonnen; denn weil sein Herz, das wahrscheinlich noch zu jung war, keine Leidenschaft mehr fühlt, ruft sein Magen, den er im Meere so gehätschelt hat, wieder laut. Die Schmelzwasser bringen ihm wohlbekannte Bissen reichlich herab. Wieder schnappt er nach allem, was in Strudeln und Tümpeln sich dreht. Allgemach stellen sich die fliegenden Kerfe ein, und es zickzackt über seiner Welt wie einst im heimatlichen Vorderrhein. Laikan springt vergnügt; er kann wieder springen und ärgert sich nur, wenn Schwalben oder Segler ihm die Motten vor der Säge wegfangen. Aber auch ein beuteloser Sprung ist schön und freut ihn.

Je höher Laikan den Fluß hinanrudert, um so mehr beginnt der dem jungen Rhein zu gleichen. Der junge Lachs vergißt allmählich, daß er nicht in seiner Heimat ist. Erst wenn er wieder meerwärts wandert, wird ihm die Fremde 222 bewußt werden, und er wird sich vornehmen, solange die Welt abzusuchen, bis er seinen Strom wiederfindet.

Mählich rücken die Ufer des Bergflusses zusammen, und der Sturz des Wassers ist nur in harter Arbeit zu überwinden. Am besten ist es, von Tümpel zu Tümpel blitzschnell zu schießen und wieder im Tieferen zu verhalten. Oder man pirscht sich am Ufer aufwärts, wo die reißenden Wasser die Ränder ausgehöhlt haben und breitere Fahrrinnen sind. Manchmal stützt man sich mit den Brustflossen an einem kantigen Zacken und tastet nach hinten um einen Halt. Findet man ihn, dann schleudert man sich vorwärts. Das Brausen und Dröhnen wird täglich stärker und macht das Leben zu einer aufgeregten Freude und stolzen Spannung.

Schon sind die hohen Sommertage vorüber, und die Nächte werden rasch länger in diesen Breiten. Die Liebesfeste der Lachse haben lange ihren Anfang genommen, und der Nachzügler begegnet schon jüngeren Leuten, die meerwärts ziehen. Die Älteren sind höher hinauf und kommen erst mit den Herbstregen.

Laikan schwimmt an Uferseichten vorüber, in denen er kleine, verlassene Nestmulden erkennt. Mit dünnem Sand haben die Mütter ihr Gelege bedeckt und sind davongezogen.

Einmal stürzt er einer Lachsfrau nach, die er bachabwärts kommen sieht. Wie sie über einen Stein sich schnellt und im Tümpel dahinter verhält, prescht Laikan hinein und stellt sich vor sie hin. Sie ist um Kopfeslänge größer als er und schön gewandet. Er kommt sich in seiner Jugendschabracke sehr klein vor und starrt sie verlangend an. 223

Aber sie beachtet den blitzenden Werber gar nicht. Aus hochmütigen, grauen Augen schaut sie ins Unbestimmte, und weil er sie zu umkreisen beginnt, wird er ihr lästig. Sie fließt mit einem kleinen Ruderschlag aus dem Tümpel und gleitet in der reißenden Strömung abwärts.

Einer Frau bachabwärts folgen, ist gegen das geheime Gesetz der Seele. Das spürt Laikan sogleich, und weil die Lachsfrau um den Stein verschwunden ist, denkt er nicht mehr an sie. Unrast aber treibt ihn bergabwärts. Renken und Äschen, meistens paarweise, ziehen an ihm vorüber oder haben hier ihren ständigen Aufenthalt. Die staunen dem Junglachs nach, der aufwärts steigt, wenn die Sippen schon talwärts wandern.

Eine gewaltige Stromschnelle sperrt den Reiseweg. Ein paar Tage verhält Laikan. Er muß über die Schnelle! Jenseits derselben wartet es auf ihn. Was wartet? Das weiß er nicht. Aber es wartet und ruft; ganz anders natürlich als das Meer ruft. Aber man muß gehorchen, muß seinem Gesetz gehorchen: so hat es Mutter Lachs gesagt.

Ein paarmal tut Laikan den schönen und kühnen Sprung, und wie er landet, ist er auf einem Felsvorsprung und vom Schwall übergischtet. Aber er findet keinen Halt und wird jäh hinabgeschleudert. Jetzt ist sein Trotz gereizt, und der jenseitige Ruf kommt mit einer Drohung und Gewalt über seine Seele, die von dem Gedröhn und Gesaus in höchster Spannung ist. Auf Leben und Tod! heißt dieser Ruf. Und Laikan folgt ihm, kühn und verbissen.

Der Nachzügler hat keine Lehrmeister vor sich. Wäre 224 er mit den Trupps der Jungmänner heraufgekommen, dann hätte er gewahrt, daß die es den älteren Leuten abschauen, wie man solche lebensgefährlichen Kunststücke bewältigt.

Aber es ist dem stolzen Burschen einmal beschieden, daß ihm nichts leicht werde. Vielleicht ist er zu hohen Jahren berufen und muß seine Klugheit ohne Lehrmeister stählen, um tauglich zu sein, ein langes Leben auf dieser gefahrenträchtigen Welt zu leben. Seine weite Fahrt über das Nordmeer dankt er wahrscheinlich solchem erziehenden Gestirn.

Mehrere Tage und Nächte kreuzt Laikan im donnernden Strudel unterm Fall, und seine Sinne suchen zu erkennen, wo der Sprung gelingen könnte. Gelingen muß er!

Oh, welch ein Anblick, wenn im buntvergischtenden Schaum droben die Leiber der talwärts wandernden Lachse erscheinen, sich vom stürzenden Schwall mit einem gewaltigen Sprung losschnellen und, aufblitzend im Geleucht der Sonne oder auch des Monds, durch die Luft sich schleudern und in sicherem Wurf in den sprühenden Gischt klatschen! Oh, welches Beginnen! Welches Vollenden!

Dann hat Laikan den Weg gefunden. An dem Seitenarm, wo der Gischt geringer ist, wagt er den Ansprung und landet auf einer Platte, die vom Wasser umbraust ihm so viel Platz läßt, daß er nicht heruntergefegt wird. Seinem starken Ruder gibt sie Widerstand, sich noch einmal abzuschnellen. Er landet, und wieder stößt er sich von der höheren Platte ab, und noch einmal und noch 225 einmal. Oh, Sicherheit des gottgeschaffenen Lebendigen! Und kein einziges Mal verfehlt er die Platten, über die Gischt und Gebraus stieben, daß die grauen Augen nichts sehen und in dem wilden Schwall das Leben fast ausbricht über die Ränder des Leibes. Und noch einmal schnellt der Schweratmende und von höchster Spannung wie tödlich Lebendige. Dann kommt, breit und reißend, der volle Strom flach und schäumend her, und Laikan wirbelt blitzend in seine bergende Tiefe, tut dort ein paar sausende, pfeilgeschwinde Züge aufwärts und geht dann in einem gurgelnden Tümpel auf Grund, um zu veratmen. Hinter ihm braust die Stromschnelle, und nur eine Tagreise vor ihm donnert der Wasserfall, den noch keiner der stolzen Sippe überwunden hat.

 


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