Josef Wenter
Laikan
Josef Wenter

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Der Mensch bricht ein

Es ist um die Weihnachtszeit, und Laikan gelangt, meerwärts wandernd, in die Ausmündung eines Flusses 265 im südlichen Schweden. Nach altem Herkommen verhält er einige Zeit im Brackwasser, ehe er in die offene See hinausrudert. Dann, als die Tage langsam länger werden, zieht der Lachs in der schönen und dämmerigen Ruhe der gewohnten Meerestiefe südwärts und holt Tag und Nacht mit gewaltigem Hunger nach, was er auf der Bergwanderung zu fressen versäumt hat.

Dann ist ihm eines Tages, als gehe ein sanfter Zug des Meeres seitlich, und er treibt eine Weile mit. Aber er ist durch seine Erfahrungen mißtrauisch geworden gegen alles Getriebenwerden; und weil es keinen Sinn hat, tiefenwärts zu gehen, wo der Zug der Strömung stärker wird, taucht Laikan in höhere Bezirke hinauf, und dort hört der Zug mählich auf. Dann ist ihm, als käme der jetzt in verkehrter Richtung her. Weil aber das Wasser nicht mehr so schwer ist und man weniger sich zu stemmen braucht, gefällt ihm das. Die Strömung war mächtig genug, den Wanderer abzuhalten, mit dem schweren, in der Tiefe einfließenden Wasser des Atlantischen Ozeans durchs Kattegatt in die Ostsee zu fließen. Sie hat ihn hinaufgerissen in das dünnere, in den Ozean ausströmende Wasser der Ostsee. Diesen soviel sanfteren Zug überwindet Laikan leicht und folgt seinem magischen Weiser, der ihn südwärts führt.

Es ist nicht mehr so still in den oberen Schichten seiner Welt. Aufgeregte Fischleute kommen scharenweise daher, wie auf der Flucht. Da und dort treiben fremde, ungeheure Dinge, denen man ankennt, daß sie Böses vorhaben, weil sie gewiß vom Menschen kommen und in nichts den Wesen gleichen, die im Meere Recht und Fug 266 haben. Es sind Treibminen, die der Mensch losgelassen hat. Man weicht ihnen in großem Bogen aus und überläßt es neugierigen Leuten, die keine Erfahrung haben oder deren schwerfällige Seelen keine weite Witterung und kein vielfältiges Gesetz in sich haben, mit diesen Unholden sich abzugeben, sie zu umkreisen, zu schnuppern, zu kosten oder gar Spiele darum zu veranstalten.

Es ist die Zeit der großen Heringsfahrten. Oh, was kümmert den aufsteigenden Schwall dieser Leute das Menschengemäch? Es ist einfach nicht da für die Millionen leidenschaftlicher Hochzeiter! In dem gewaltigen Vorstoß dieser Leiber wird die Mine mitgerissen; bis die sich besinnt, daß es gar keines besonderen Anlasses bedarf, um das zu tun, was der Mensch ihr befohlen hat. Oh, sie ist zu genauem Gehorsam erzogen. Und eines Augenblicks, als ihr der Befehl zu kommen scheint, führt sie ihn aus. Dann ist plötzlich ein gewaltiger Tod unter den Hochzeitern und schlägt, losgelassen, mit tausendfacher Wut unter die wandernden Fische. Weithin schlägt er, und dann treiben tagelang Scharen zerfetzter Leiber bäuchlings und silbern durch weite Meeresstrecken. Die Vogelleute haben ein Fest. Aber die Fischleute gehen der schrecklichen, giftigen Witterung weit aus dem Wege, und viele sterben lange später am weithin wirkenden Tod, den der Mensch in ihre Welt geschickt hat.

Als Laikan, der in ruhiger Tiefe hinwandert, längs einer steilen Tuffsteinwand zieht, trifft er einen Bekannten aus dem Rhein. Den hat er auf seiner ersten Meerfahrt in der Schlammsuhle auf der Sandbank nahe dem Brackwasser gesehen. Riesig ist der Kerl geworden und 267 schwärzer fast als das Loch, in das er gerade hineinschlüpft. Noch ist das Ende seines breiten Schwanzes nicht im schwarzen Spalt verschwunden, da schaut schon sein kleiner Kopf einen Stock höher aus einer Tuffröhre heraus. Einen Schlag von diesem Mordskerl möchte der Lachs nicht bekommen. Aber vor dessen kleinem und sanftem Maul hat er so wenig Achtung wie damals. Die schwarzen Augen des Flußaals starren hinter dem Hautdeckel groß und klug, und Laikan kennt ihnen an, daß der Mann bei sich zu Hause ist.

»Bist du es?« fragt der Lachs.

»Ich war es immer!« sagt der Aal.

»Ich habe dich im Fluß gesehen.«

»Ich dich auch.«

Keineswegs ist es der Aal, den Laikan sah. Und keineswegs ist es der Lachs, den der Aal sah. Und doch sind sie es.

»Es ist lang her«, sagt Laikan.

»Du bist groß geworden.«

»Und du bist noch schwärzer als damals.«

»Bin ich!« – Der Aal aalt sich ein wenig zum Tuffloch heraus und reckt einen gewaltigen Nacken über die jäh abstürzende Felswand. Den Schwanz mit dem flachen Ruder läßt er ruhig im unteren Geschoß liegen. Laikan staunt über die Größe dieses Mannes.

»Wie lebst du?« fragt der Aal.

»Oh, ich lebe«, sagt Laikan.

»Gut also! Wenn wir leben, leben wir gut! So ist es!«

»Ja, so ist es! Ich bin weit herumgefahren in der Welt.« 268

»Macht es dir Freude?« – Der Aal schnappt nach einer vorbeitanzenden Garneele und schlingt sehr umständlich.

»Ich glaube ja. Ich habe es nicht wollen. Es ist so gekommen.«

»Dann ist es gut, wenn es so gekommen ist. Man muß nicht selber wollen. Dann ist es nicht gut.«

»Wie alt bist du?« – Der Lachs zweifelt plötzlich, ob das der Mann ist aus seinem Fluß.

»Ho, wie jung bist du, daß du so fragst?«

»Ich habe viele und große Hochzeiten gehalten«, sagt Laikan und geht vor dem überlegenen Blick des Aals ein wenig nach rückwärts.

»Kenne ich! Hochzeit! Aber solange man denkt, wie alt man ist, lebt man nicht recht. Lebe und frage nicht! Vom Fragen wirst du alt!« – Der Aal starrt ins Unsichtige.

»Wann bist du aus dem Fluß gekommen?«

»Was weiß ich? Ich schlafe in der Zeit der langen Nächte, und wenn ich aufwache, habe ich fast alles vergessen, was vorher war.«

»Ich schlafe nie«, sagt Laikan. »Ich döse nur manchmal. Das Leben ist schön! Es ist schade, zu schlafen!«

»Kannst du das sagen, wenn du nicht weißt, was schlafen ist? Es ist schön um des Einschlafens willen, und noch schöner um des Aufwachens willen. Ja, das kennst du nicht. Man lebt von vorne. Eben, weil das Leben schön ist.«

»Gehst du in den Strom zurück?« – Der Lachs denkt immer an seinen Strom. 269

»Ich? Nein! Nur die Kinder! Aber wenn sie bei mir vorüberkommen, schlucke ich sie.« – Der Aal sperrt die kleine Schnauze auf.

»Kenne ich!« sagt Laikan. »Hab's auch so gemacht. Aber sie schmecken nicht gut.«

»Mir schmecken die meinigen. Sie haben keine Knochen, sind fett, und man sieht ihnen von außen das Herz an, so hell sind sie. Das reizt mir den Gaumen. Jetzt kommen sie bald wieder vorbei. In der oberen Welt kommt die Zeit der Wanderung. Ich merke das an vielem. Die Heringe sind auch vor einigen Tagen vorüber. Aber ich habe nichts von ihnen. Die großen kann ich nicht schlucken und die kleinen sind dürr. Bald nach den Heringen kommen die Aalkinder. Darauf freue ich mich.« – Der Aal windet sich weiter aus dem Schluff und reckt den kleinen Kopf witternd nach allen Seiten. Jetzt ist sein Schwanz verschloffen.

»Hörst du das?« – Laikan steht wie ein Schwert, gezückt und sprungbereit.

»Natürlich! Bleib da! Dreh bei! An die Wand her! Der Kerl hat ein Ruder, gegen das wir allesamt nicht ankommen.« – Der Aal windet sich rückwärts, daß nur noch die Schnauze aus dem Loch schaut.

Da dröhnt es heran; schwärzlich und langgestreckt, mit glühenden, riesigen Augen. So zischende und peitschende Furche tut nicht einmal der Hai, und der hat wahrlich ein Mordsruder. Dieser Kerl schäumt vor Wut, und tiefe Strudel gurgeln hinter ihm her. Das Geleucht seiner Augen fährt durch die nächtige Welt und über die schwarzen Wände und bricht in die Schlüfte ein. Die stumpfen 270 Augen lauernder Tiere funkeln auf in seinem Widerschein, und geblendet kauern diese Finsteren sich tiefer in ihre Höhlen, gegen die jetzt – oh, nie Erlebtes in solcher Tiefe! – starke Wellen schlagen. Ein schreckliches Dehnen und Sichwinden, Verkrümmen und Hinstrecken begibt sich auf Augenblicke in den Tuffschlüften. Dann ist der Riese vorüber, und seine Strudel drehen ins Unsichtige hinaus.

»Was war das?« Laikan schaukelt noch im hinkrümmenden Wasser.

»Der Mensch!« sagt der Aal und kommt mit seinem Hals aus dem Schluff. »Oft kommt er da vorüber. Ich kenne ihn. Ich habe Würmer aus seiner Hand gefressen. Lang ist das her. In einem Menschenwasser. Nahe beim Strom. Es war langweilig dort. In der Nacht bin ich aus dem Wasser gestiegen und bin durch eine fremde Welt in den Strom gewandert. Als es hell wurde, habe ich den Strom gerochen, und dann hat er gerauscht. Ich war zufrieden, als ich in meine Welt planschte. Aber ich weiß es nicht gewiß, ob das derselbe Mensch ist. Sie schauen alle gleich aus, die Menschen.«

»Der Mensch!« Tief staunt der Lachs, daß der Mensch in seine Welt, so weit in seine Welt herunterkommt.

»Ja!« sagt der Aal. »Wenn er vorüberschwimmt, kann man ihn nicht gut sehen. Aber auf meinen Wanderungen bin ich ihm begegnet, wie er langsam mit seinem Haus herabgetaucht ist. Das ist dann auf einmal still dagelegen. Ich fürchte mich vor gar nichts, und ich will alles wissen, was mir ins Leben gerät. Ich bin hingerudert. Da habe ich den Menschen gesehen. Er hat auf mich geschaut. 271 Wie die Panzerkerle aus den Muschelhäusern hat er geglotzt. Würmer hat er mir nicht gegeben. Im Meer brauche ich keine Würmer. Ich habe genug zu essen.«

»Der Mensch kann zu uns kommen!« Laikan staunt, staunt. So viel hat er nicht geglaubt vom Menschen, den er doch recht gut zu kennen meint. –»Was will er von uns?« fragt er.

»Weiß nicht. Vielleicht nichts. Neugierig ist er, wie wir leben und wo wir leben. Vielleicht meint er auch gar nicht uns. Man weiß nie, was ein anderer meint. Nicht einmal von den Fischleuten weiß man es. Wie soll man es vom Menschen wissen?«

»Es ist gut, daß er fort ist«, sagt Laikan. 272

»Ja, das ist gut. Er gehört nicht daher, der Mensch. Er soll bei sich bleiben, der Mensch. Wir wollen Ruhe haben in unserer Welt vor dem Menschen.«

Der Aal hat sich aus dem Schluff gewunden, und Laikan ist entsetzt über den riesigen Mann, der in schönen, breiten Windungen schief aufwärts taucht.

»Ich wandere ein wenig mir dir«

»Ich wandere ein wenig mit dir«, sagt der Aal. »Ich habe eine Witterung. Von weither.«

Laikan wirft sich aufwärts. Dann schwimmen die beiden, so verschieden gestalteten und so anders beseelten Leute ins Unsichtige hinaus und halten sich in dämmeriger Tiefe.

 


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