Josef Wenter
Laikan
Josef Wenter

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An der Schwelle des Meeres

Der Eisgang im sterbenden Strom ist still geworden. Über den ruhig und groß Veratmenden gehen die Frühlingswinde aus Marschen und Meeren.

Die Lachse sind aus dem Seitenarm fortgezogen und wandern langsam und oft verhaltend, nicht mehr in schöner Ordnung, ihre Straße.

Stundenweise kommt fremdes Wasser her und wird dann wieder süß und altgewohnt. Wann es einbricht, verhalten die Pilger und atmen beklommen. Uraltes Wissen sagt ihnen, daß sie sich gewöhnen müssen. Aber sie sind froh, wenn die Luft ihres bisherigen Lebens 171 wieder um sie ist. Wochenlang spielt das Herankommende mit ihnen, und sie fassen es noch nicht als den großen Ernst.

Neu ist vieles, und Leute sind um die Wege, die den Lachsen großes Staunen bereiten. Glück und Unglück hat hier wieder anderes Ansehen, und die Freuden des Daseins und seine Gefahren werden vielfältiger.

Was für ein fremdfremder Anblick es war, als Laikan die Wasserläufer erblickte!

Er weiß, daß die Vogelleute fliegen; er weiß, daß sie schwimmen und tauchen. Aber daß es da behende Burschen gibt, die einfach über seine Welt hinweglaufen, das ist neu.

Einer aus dieser Sippe trat dabei in die offene Tür einer sehr großen Muschel. Die graue Frau verstand aber keinen Spaß; sie kennt diese dreisten Leute gut und hat keine Lust, aufgefressen zu werden. Sie schlägt die Tür zu. Aber der Schwimmfuß des Vogelmannes ist nicht rechtzeitig herausgefahren. Sein Geschrei lockt nur die Sturmmöwen, die ihm den Schädel spalten und sich um seinen Leib balgen; indessen unter Wasser eine Schar größerer und kleinerer Fischleute ihn benagt. Das ist ein grausames Sterben, ohne Barmherzigkeit. Die graue Frau hat, entsetzt von solchem Getöse, ihr stilles Haus nach vielen Tagen erst wieder aufgemacht und den abgeklemmten Schwimmfuß hinausbefördert, der ihr durch sein Todeszucken manche Wunde zugefügt hat. Aber sie erholt sich bald von Schrecken und Schmerz. –

Daß an manchen Stunden des Tages und auch der Nacht das Element fremd wurde, daß es schwer zu atmen 172 war und mit seltsamem Druck und Wesen durch die Kiemen ging: das haben die Lachse seit einigen Wochen erlebt.

Wann dies geschah und sie das Gefühl hatten, daß da etwas sich näherte, vom Grund her aufschwoll und ihren Rudern sich entgegenstemmte: dann sind sie anfangs mißtrauisch und furchtsam umgekehrt.

Kam aber dann die Tages- oder Nachtstunde, in der das fast Feindselige sich zurückzog, hinausschwoll ins geheimnisvoll Unsichtige, und die süße Luft wieder um sie her war: dann folgten sie zögernd und überwältigt auch der Lockung des vor ihnen Hinschwindenden.

So spielt das nahe vor ihnen ins Unendliche hineingebreitete Meer mit seinen schüchternen Kindern und schickt ihnen die wunderbare und seltsame und so neue Lockung von Ebbe und Flut und seine sanfte und unwiderstehliche und stolze Gewalt, der sie sich nicht entziehen können.

Die schöne Reihe der Wanderer ist lange zerlöst. In zerstreuten Trupps schwärmen sie im Brackwasser umher und kennen einander kaum mehr und beachten einander nicht mehr, weil das Kommende sie ganz erfüllt. Nur die kleinen Gruppen, die nach geheimen Seelenordnungen zusammenhalten, sind noch vereint und treiben es nach den Wallungen ihrer Seelen.

In dem Trüpplein, dessen Spitze Laikan noch immer hält, fanden die Stärksten und Tapfersten, die Hochgeborensten und Kühnsten, die Klügsten und Vielerfahrenen sich zusammen. Die haben es lange begriffen, daß die Tiefe des sterbenden Stroms immer zuerst anschwillt, 173 wann in ihr das Meer seine hohen Atemzüge tut; und immer öfter und immer länger sind sie in diesem Atem verharrt und haben es kaum gewahrt, daß das Meer sanft und mit strenger Liebe sie einatmet.

Dann begibt es sich in einer klaren Nacht, daß der Ungestüm des Meeres wie eine große und feierliche Drohung sich erhebt und über den hingestreckten Leib des verröchelnden Stroms sich wirft. Hoch bäumt der Ausatmende sich; und aufbrüllend in der Lust so großartigen Verscheidens, sinkt er in die unendlich aufgetanen Arme und gleitet den Schoß hinab der Mutter, die die Stimme Gottes gehört hat am zweiten Schöpfungstag und in großem Gehorsam Seine Werke tut seit jenem Tag.

Die rückwärts donnernde Flut reißt unwiderstehlich alles Getier mit sich, das in den Rändern des versinkenden Stromes west.

Als Laikan aus dem schrecklichen Gegischt und Gebraus zu sich selbst und zu seinen Rudern findet, ist er allein, und unter ihm starrt schwarzgrüne Finsternis. Der Geängstigte und ziellos hin Rudernde fühlt sich getragen von einem Element, das streng und weich, gewaltig und sanft und fremdfremder Witterung voll ist.

Jetzt ist er in die Verheißung gelangt, die, geheimnisvoll und magisch sie verlockend, auf dem Grund seiner Pilgerseele gelebt hat in den langen Monaten der großen und gefährlichen Wallfahrt; in die jahrtausendalten und herrlichen Wohnungen seines Geschlechts, aus welchen seine Ahnen aufgestiegen sind, Jahrtausende hindurch; aus denen Mutter Lachs hinaufgewandert ist an die Wiege des herrscherlich verstorbenen Stroms und ihrem 174 Sohn gesagt hat: »Vielleicht wirst du das Meer atmen, kleiner Bursch!«

Jetzt atmet Laikan das Meer. Es hat ihn geholt; es hat ihn gerufen und an sich gerissen. Was wird er erleben in ihm?

Hohe Lebensfahrt, kleiner Lachs! 175

 


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