Josef Wenter
Laikan
Josef Wenter

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Wie die Tage gehen

Laikan ist lange wieder zurückgeschwommen ins Lautlose und unsäglich Weiche und glaubt, daß er da zu Hause ist. Ja, wo ist er zu Hause? Er weiß es nicht! Nie wird er es wissen! Oh, er ist vom Geschlecht jener Edelinge, die nirgends zu Hause sind, deren Leben Unrast und herrische Sehnsucht ist. Aus dem Grund seiner jungen Seele steigt die Erinnerung an Mutter Lachs. »Ich bin in mir zu Hause!« hatte sie dem Bürschlein gesagt, oben in der Nestmulde. Damals verhielt er beklommen vor dem weisen Gesicht. Jetzt kommt fernher eine Ahnung seiner Heimatlosigkeit und der Wahrheit des Spruchs. Wie vielfältig aber diese Weisheit ist, dessen wird er einmal innewerden, wenn er alt ist. Dann aber wird er schon mitten in dieser Weisheit sein und keines Spruches mehr sich erinnern müssen.

Eines Tages zottelt Laikan satt und zum Dösen gestimmt – ganz satt ist er im Meere noch nie gewesen, dünkt ihn – in halber Höhe eines schwarzen Basaltstockes hin, der aus finsterer Tiefe aufsteigt. Seine Abstürze und Schründe stehen im blauen Wasser, wie Alpengebirge im Sommerhimmel stehen. Zwischen breiten Türmen und scharfen Zacken strömt das schwere und sichtige Wasser in einer leisen Bewegung, die den Junglachs sanft schaukelt. Das gefällt ihm. Er überläßt sich dem feinen Zug des Wassers und gleitet sacht an einer bunten Landschaft hin.

Hier sind keine dunkeln Tangbüsche, hinter denen Unholde versteckt lauern. Lilafarbene und karmesinrote 198 Gewächse gleich großen Palmenfächern wedeln auf hohen Stielen und schaukeln unmerklich fast, wie in einem Wind, der eben aufhörte zu wehen; wie in einem Nachwehen aus irgendwoher, so wehen sie. Große Schwämme, gelblich und grau, violett und ziegelrot, hocken herum, und auf ihnen turnen seltsam geformte Krebse, winzige Krabben, zartknochige Meerspinnen. Purpurne und gelbe, grüne und violette Seesterne liegen ausgebreitet auf dem Gefels oder haben sich um Äste gewunden, recken eine Sternstrahle hinaus und warten. Riesiges Moos hält schöngeformte Becher aufwärts, deren schwarze Schlünde warten. Bleiche und dunkle Steine liegen umher, auf denen winzige Muscheln haften, die mit feinsten Härchen spielen und warten. Es gibt kiesige Buchten und sandige Talmulden zwischen den Felsentürmen. Da liegen, halb eingegraben, große Muscheln, gelbe, getigerte, schwärzliche, rosenrote, rotgraue; die stellen durchsichtige hohe Röhren ins Wasser hinaus und warten. Von den Riffen ragen steinerne Schläuche in seltsamen Windungen, aus deren Schlünden graue und weißgelbe Würmer sich recken und warten. Olivfarbene Gewächse, fast Kakteen gleich, stehen gruppenweise und haben Äste wie Knochenarme, die sich ausrecken und warten. Schwarze Tuffsteinhöhlen gähnen, und wie Laikan vorüberzieht, gewahrt er ein halbes Dutzend flacher Köpfe mit kalten und neugierigen Gesichtern; übereinanderliegend, ineinander verschlungen, recken die Seeaale offene Sägen heraus und warten. Entsetzt fährt der junge Lachs vor einem Knäuel getigerter Muränen davon, die in einer schwärzlichen Mulde liegen und bei jedem Atemzug eine schreckliche 199 Säge öffnen und warten. Dann verhält er vor einem Geschöpf, dessen kleinste Verwandte er schon gekostet hat, und die ihm herrlich schmeckten, trotzdem sie ihm ihre Eingeweide ins Gesicht spien, wenn er zupackte. Aber an diesem großen rostbraunen Kerl, der wahrscheinlich überhaupt kein Kerl ist, weil er keine Augen hat und kein Maul, und weder Zangen noch Flossen: an den traut Laikan sich doch nicht. Wer weiß, wie und was der ausspeit. Die riesige Holothurie steht da, halb gebeugt, wie in großer Schwermut; wie völlig ergeben in etwas Schreckliches steht sie, und dann richtet sie sich schwerfällig und mühselig auf und beugt sich auf die andere Seite und wartet – wartet tagelang, nächtelang, jahrelang. Der Lachs rudert langsam fort.

Wenn Laikans graue Augen über diese große Buntheit gehen: oh, dann ist die ganz anders als der Flußgrund in der Heimat. Dann ist alles in einer steten und unaufhörlichen Bewegung. Alles will etwas und tut etwas, und ist voll leidenschaftlichen Wartens, zu schlingen oder verschlungen zu werden. Ja: Warten! Die große Stille, das halbe und tiefe Dunkel breiten sich aus über einer ungeheuren, wartenden, gespannten, lauernden Lebendigkeit. Die furchtbare Stummheit und Großartigkeit des Lebens und Sterbens in dieser totenstillen Welt macht aus jungen Strompilgern bald reife Leute. Laikan erinnert sich an das gleichgültige und kalte und herrische Gesicht der Mutter Lachs.

Jetzt schnellt er in großem Schrecken rückwärts. Über eine Felsplatte stelzt ein riesiger Panzerkerl, wohl zwanzigmal größer als die Geharnischten in Bach und Strom. 200 Wie der an den senkrechten Absturz der Felswand gerät, läßt er sich sinken; tief, tief, daß Laikan den blauen Harnisch, dessen Ränder mondblaß sind, und die Gelenke weiß wie Meeresbrandung, bald in Finsternis vergehen sieht. Wahrscheinlich hat der Hummer am Fuß des Felsens, im großen Dunkel seine Schlüfte und ist irgendeiner davonfahrenden Beute nachgejagt.

Wie er hinabsinkt, macht er andere Gepanzerte flüchtig, die keine Zangen haben, aber ebenso riesig und wild und rostrot einherschießen und aus großen schwarzblauen Augen stieren. Auf scharfen Gesteinszacken, über steinernen Büschen machen die fest, starren und recken ungeheure Fühlhörner aus; unermüdlich sägen und feilen ihre schrecklichen Kiefer. Obwohl die Langusten keine Zangen haben und also in großer Angst vor dem Hummer leben, entweicht Laikan weit aus ihrem Bereich.

Eines Tages jagte er hinter einer behenden Schar kleinster Sprotten her, die ihm herrlich schmeckten. Die Flüchtigen haben ihn immer weiter in die hohe See hinausgelotst. Als dann große Räuber einbrachen und die Schar versprengten, fand Laikan, der in die Tiefe geflüchtet war, sich plötzlich in fremder Landschaft.

Wie er müde wieder auftaucht, gerät er in lichten, weißgrauen Meerforst und rudert so hin. Er sucht einen überhängenden Ast, unter dem er dösen, und von wo aus er nach drei Seiten ausbrechen kann, falls das nötig wäre. Er findet bald einen tiefhängenden großen Zweig, der vielästig sich auseinanderspannt, fast wie einer winterlichen Birke, und den kleinen Burschen gut verstecken wird, hinter dünnem Gefaser. 201

Als er in dieses Versteck steuert, findet er es bewohnt. Es döst schon einer dort. Einen Augenblick stutzt Laikan, und auch der andere stutzt. Aber gleich kennen die zwei einander an, daß sie sich nicht zu fürchten brauchen. Der Lachs hat diese Leute oft gesehen. Immer sind sie in Trupps beisammen, und anfänglich ist er in großem Schrecken vor dieser Sippe davongefahren; bis er merkte, daß sie ihn nicht beachteten. Dann schlich er einmal der Schar nach, um zu sehen, was sie essen. Denn alle Gefahren im Leben kommen von den verschiedenen Lüsten der anderen; das hat Laikan lange begriffen. Diese Leute aber haben nur Lust auf Muscheln und Schnecken. Als der Lachs das beobachtet hatte, fürchtete er sich nicht mehr und trieb sich zuzeiten gerne mit dieser Sippe umher. Die Brassen ihrerseits ließen den kleinen Junker gewähren. Sie fürchten nur seine großen und räuberischen Verwandten. Aber der kleine Kerl machte ihren sanftmütigen Seelen gar keinen Eindruck.

Auch dieser wunderschön gewandeten Brassenfrau macht der hereinsteuernde Junglachs wenig Eindruck. Sie richtet ihre schönen großen Augen, die schwarz und sanft sind, auf Laikan und betrachtet ihn ruhig, ohne zu staunen, ohne zu fürchten. Ihr Gesicht mit der langen und steilen Stirn und den zu beiden Seiten weit ausfächernden veilchenblauen Brustflossen hat einen sanften und traurigen Ausdruck.

Als die Goldbrasse ihn aufmerksam und ruhig anschaut, ist nur ihr langer Kopf sichtbar. Aber als sie sich dann wegwendet und ins Weite schaut, da staunt Laikan über den mondgroßen flachen Leib, hinter dem wohl ein 202 halbes Dutzend solch kleiner Burschen wie er einer ist, sich verstecken könnte. Und die herrliche Schabracke dieser Frau! Wie die goldenen Bänder auf dem dunkelsilbernen Leib auffunkeln, wenn sie ihre schweren und weichen Schwenkungen im gebrochenen Helldunkel dieser Welt tut!

Die Goldbrasse schaut schläfrig vor sich hin. Laikan umschwimmt sie einmal und verhält dann in der Nähe. Sie rührt sich nicht. Dann döst auch der Lachs. Es ist friedlich unter dem schirmenden Dach und ein grünes Halbdunkel, weil in der oberen Welt ein heller Sommertag scheint. Hier und da dringt der Hall einer brechenden Woge herunter, und manchmal kommt es wie ein Zittern durchs Wasser her; wahrscheinlich gab's da in der Nähe Kampf und Tod. Die beiden Friedlichen stört es nicht. Gegen Abend schaukelt die Goldbrasse aus dem Versteck. Auch Laikan ist hungrig. Er zieht hinter der großen Frau her, schießt manchmal voraus, biegt in Seitenrichtungen; dann kehrt er wieder in ihre Nähe zurück. Das Fremdfremde an ihr macht ihn, der auch noch fremd ist, heimisch. So kreuzen die beiden durch viele Wochen im Meere und erleben manches.

 


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