Josef Wenter
Laikan
Josef Wenter

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Schlammleute

Kaum drei Dutzend mehr, nähern die Lachse sich den Ufern des schwäbischen Meeres.

Lange schon fühlen sie den stündlich anschwellenden 123 Zug des Elements, und dieses heimatliche Gefühl erfüllt sie mit neuer Kraft und ungestümem Drang. Schon greift die Strömung in die oberen Schichten, und das ist ihnen Wahrzeichen, daß die Reise bald zwischen Ufern führen wird. Die Schrecken der schwarzen Tiefe würden sie nicht mehr bedrängen; wieder würde die sanfte Bauchflosse über Kies und Tang hinweg ziehen können; Steine und Wellen, Tümpel und Strudel würde es wieder geben; kurz, es würde heimeliger und auch vergnüglicher sein, als das Reisen über bodenlosem Dunkel, in dem riesige schimmernde Leiber plötzlich gespenstisch auftauchen, ohne zischende Furchen zu schneiden, lautlos einbrechen und wieder hinabstürzen in ihre finstere Welt.

Und so geschah es. Laikan, der vorausstürmt, gewahrt als erster den aus der Tiefe mählich anschwellenden Grund. Als der höher steigt und das Wasser etwa noch die Tiefe von drei Männern hat, verhält Laikan und wartet auf die Vettern. Sie alle müssen sich wieder daran gewöhnen, daß das Stehenbleiben Arbeit kostet; und auf einige Zeit nehmen sie die adelige Sitte wieder an, die Köpfe gegen die Strömung zu richten. Dabei gewahren sie fernher kommende Züge von Verwandten und erwarten diese. Bald ist eine große Schar Junglachse versammelt, die die erstaunliche und seltsame Reise durch den Bodensee gemacht und eine erste Ahnung von der Weite und Tiefe des Meeres empfangen haben.

Im Seichtwasser des Rheinausflusses ruhen sie aus, und wenn auch das Meer ruft, so ist es doch vergnüglich, in den lang entbehrten Seichten und Tümpeln ein wenig zu jagen und zu dösen. Hunger haben sie nicht eigentlich, 124 denn der Reisetrieb erfüllt sie ganz. Vielleicht wollen sie zu sich selber kommen und nach der tastenden Fahrt durch die unbewegliche Flut erst wieder ihre Sicherheit gewinnen, das deutliche Jasagen in ihrer Seele vernehmen, daß sie auch auf dem rechten Weg sich befinden.

Laikan dringt weiter in den Fluß vor und überquert ihn öfter, bis er Ufer auf beiden Seiten gewahrt; dann weiß er, daß er sich auf gutem Weg befindet.

Als er eines frühen Abends gegen das Röhricht kommt, wo das Wasser ziemlich seicht ist, trifft er auf Leute, denen er noch nie begegnet ist. Es ist eine träge und langweilige Gesellschaft; Männer und Weiber untereinander, kauern sie über schlammigem Grund, höchstens daß hie und da einer oder die andere einen müden Ruderschlag tun, weil eine Larve vorbeikriecht, oder eine Schnecke an einem Schilfholm turnt, die sie dann mit sehr bedeutenden und lächerlichen Mäulern hinabschlingen; dabei schauen Nachbar und Nachbarin zu und versuchen nie, die Beute wegzufischen; wahrscheinlich sind sie zu faul. Laikan versteht das nicht und betrachtet sie lange.

Sie tragen dunkelgrüne Röcke, fast in der Farbe des Höhlenpanzermannes oder der dunklen Tiefe des Sees draußen; sie sind viel größer als der Junglachs und haben keineswegs die vornehme Gestalt des Edelings. Ihre Mienen sind von einer grundlosen und mühseligen Traurigkeit, obwohl es ihnen sichtbarlich gut geht. Laikan glaubt, daß sie keine stolzen und herrischen Seelen haben. Aber wenn er die Leute im Sommer gesehen hätte, wann sie in behaglichen Reihen stillvergnügt ihre Lebenskreise im besonnten Wasser ziehen, hätte er 125 erkannt, daß sie sanfte Freuden lieben und heiter sind; was freilich keine Eigenschaften adeliger Raubritter sind.

Die Schleien nehmen von dem jungen Lachs gar keine Notiz und sind mit ihrem Leben, das Laikan gar kein Leben dünkt, vollauf beschäftigt.

Wie er langsam an der Gesellschaft vorbeizieht, gewahrt er einen, der bis an die Kiemen im Schlamm steckt und mit schläfrigen Augen vor sich starrt. Vielleicht ist er krank, denkt Laikan und rudert nahe an den schläfrigen Augen des Burschen vorüber, der ihn gar nicht anschaut. Aber sein Staunen wächst. Denn jetzt liegen da mehrere solcher eingegrabenen Leute, immer mehr, je weiter der Lachs kommt. Geraume Weile schwimmt er über diesem Gräberfeld. Weiter vorne erhebt sich eine übelriechende Moderwolke, und er gewahrt andere an der Arbeit, sich in den Schlamm einzuwühlen.

Neugierig wie alle Geschöpfe Gottes, staunt Laikan über den Aufwand von träger Kraft, mit der diese Kerle Gruben aufwühlen. Dann legen sie sich schnaufend und wälzend hinein und warten behaglich und zufrieden, bis der Schlamm sinkt und ihnen allmählich Kiemen, Schnauze und die müden, sehr sanften Augen zudeckt.

»Was treibt ihr?« fragt er.

»Schlafen!« kommt es nach geraumer Weile aus einem runden weichen Maul, und eine Schlammwolke kommt mit aus dem Maul. Luftblasen perlen aufwärts.

»Wie lange?« Den Lachs graust es.

»Bis das Eis fort ist!« Wieder kommt Schlamm und Luft. »Es ist noch nicht da!« Laikan erschrickt, daß es spät im Jahr ist und daß das Meer noch weit ist. 126

Er bekommt keine Antwort mehr, und es ist eine tiefe Stille über dem Röhricht, in das Hunderte schläfriger Augenpaare glotzen, und wo immer da und dort Schlammwolken aufsteigen und Luftperlen.

Dann raschelt es im Halmenwald, und Laikan hört das Glucksen heimlicher Schritte durch den Sumpf kommen. Kopf vorwärts zieht er langsam aus dem Schilf, neugierig, was da kommen würde. Daß es der Mensch nicht ist, hört er gleich.

Jetzt erscheint über den sacht wehenden Schilfbüscheln in der oberen Welt ein riesiger gebogener Schnabel, der an einem runden, freundlichen und sanften Vogelkopf festsitzt.

Laikan geht vorsichtig rückwärts, denn dem Schnabel traut er nicht, wenn auch die Augen des Vogelmannes nicht eigentlich böse und listig, eher spähend und ein wenig traurig blicken.

Aber der Mann beachtet den Lachs nicht, und Laikan kennt ihm an, daß er es auf die Schlammleute abgesehen hat.

Dann tritt der Reiher aus dem Dickicht und steht in seiner Größe und seinem schönen Kleid, einen Augenblick verhoffend, im seichten Wasser. Laikan staunt, daß dieser Mann aufrecht steht wie der Mensch, und er ist durchaus nicht mehr sicher, ob der nicht vielleicht ein Verwandter des Menschen und ein besonders listiger und gefährlicher Kerl ist.

Daß er die großen Schlammleute nicht verschlingen kann, wird dem Lachs klar, als er sieht, wie der Reiher einen Frosch aufhebt und ihn sehr umständlich 127 hinunterschluckt, wobei er in den Himmel starrt und mit Kopf und Schnabel heftig nickt. Als er dann im Schlamm herum zu stechen beginnt, zieht er sehr tief eine junge Schleie hervor, die eine fast goldene Schabracke trägt, und Laikan wundert sich, daß dieses Geschöpf sich kaum zur Wehr setzt.

Wahrscheinlich hat sie geschlafen und schläft noch, während sie geschluckt wird, denkt Laikan und ist voll Staunen, daß diese Leute ganz tief unterm Schlamm, ohne Wasser, ohne Atem, ohne Himmel und Licht auf den Eisbruch warten. Oh, was es alles gibt!

Wenn der Lachs gewußt hätte, daß da viele Hunderte solcher Fischleute nebeneinander und übereinander liegen, und daß er nur die größten noch munter bei der Selbsteingrabung gesehen hat, die vielleicht aus Trägheit oder Laune dieses Geschäft hinauszögern, solange es gehen mag; und wenn Laikan wüßte, daß nach regenarmen Sommern, wenn der Fluß aus diesen Seichten wegtritt, und um die Weihnacht Schnee den gefrorenen Schlamm bedeckt: daß die schlafenden Schleien dann davon gar nichts merken, sich darum gar nicht kümmern und erst aufwachen, wann der Frühlingsföhn das lauere Wasser wieder über ihre Grabkammern steigen heißt: Schlamm und Schlick wieder zu wölken beginnen und die ausgeschlafenen Leute dann, ob sie wollen oder nicht, wieder ihre Ruder bewegen müssen und aus blanken und stillvergnügten Augen in die neue und doch wohlbekannte Welt glotzen; Schlamm schlucken; wenn es keine zu große Mühe kostet, einer trägen Larve nachtrudeln und allgemach auch sich besinnen, daß es vergnüglich ist, 128 Hochzeiter zu sein: wenn der Edeling das alles wüßte, er zweifelte vielleicht, ob diese Leute, wenn auch sehr entfernte, Verwandte zu ihm sein können, als welche er sie doch erkannt hat, weil sie Ruder haben, Schabracken aus gleichem Gemäch, und in seiner Welt leben. Aber wann die Schleien aus ihren Gräbern aufstehen, dann tummelt Laikan sich an der Schwelle des Meeres, im Brackwasser der Rheinmündung, und er denkt nicht mehr an solche Vetternschaft, die ihm fremder ist als alle Leute fast, die er in seinem kurzen Leben kennengelernt hat.

Wieviel Fremdfremdes im Meere ihm begegnen wird, das, trotzdem es seine Luft atmet, seine Schrecken und seine Freuden auch erlebt; seine Furcht vor denselben Mächten und seine Lust am nämlichen Leben empfindet: das ahnt Laikan nicht.

– – Plötzlich verhofft der Reiher, und jetzt haben seine Augen einen durchdringenden und stolzen Blick, ohne Sanftheit.

Laikan hat die Ruderschläge lange durchs Wasser kommen gehört.

Als das Boot näher kommt, taucht der Reiher in den Halmenwald unter. Als aber jetzt ein großer Haarkerl aus dem Boot springt und laut bellend im Röhricht sein Unwesen treibt, geht der Lachs seewärts.

Er sieht noch, daß der Reiher aufsteht und mit weiten, herrlich gewölbten Schwingen übers Schilf schaukelt, und staunt, daß es so große Vogelleute gibt; den Adler hat er an jenem Abend nicht gesehen.

Als aus dem Boot ein Schuß fällt, ist der Lachs schon so weit davongerudert, daß der Lärm ihn nicht mehr 129 erreicht. Auch das wilde Flattern des Reihers im raschelnden Röhricht hört er nicht mehr; und wann die vielen Enten schreiend über seinen Kopf seewärts stürmen, ist er das gewöhnt und weiß, daß der große Haarkerl, der den toten Reiher jetzt zum Boot schleppt, sie flüchtig gemacht hat.

Der Mensch freut sich über den seltenen Vogel und wundert sich, daß der noch in diesen Gegenden haust. Er weiß es nicht, daß drüben überm See seine Frau, an der er zärtlich hing, erschossen ward.

Als dann die vielen Verwandten aus dem Norden durchreisten und dort kurze Rast hielten, alle mit ihren Frauen und Kindern: da stieg der Einsame eines Abends zu ihnen auf und tat die Richtungskreise mit. Aber in der lärmenden Freude dieser Leute, deren Gedanken gleich den seinen in den Papyruswäldern am Blauen Nil waren, hat ihn der Kummer um seine Frau überfallen, und er ist schweigend und allein über dem Röhricht niedergegangen, wo er mit den Seinen sehr glücklich war. Er weiß nicht, daß seine Frau erschossen ward, denn er befand sich zu jener Stunde auf der anderen Seite des Sees. Nur daß er sie nicht mehr fand, als er heimkam. Seine Jungen holten Otter, Hecht und Bussard; er konnte sie nicht genug behüten. Eines Tages ist er dann ganz allein gewesen; und das hat er lange nicht begriffen.

Als die Sippen unterm schwermütigen Herbsthimmel südwärts gestürmt waren und nach vielen Tagen auch das Klingeln der reisenden Wildgänse verstummt war; als unterm toten Himmel nur mehr der Wind herfuhr 130 und nasses Gewölk: da litt es den Einsamen nicht mehr an diesem Gestade, und er zog über den See. Vielleicht würde er hier seine Frau finden! Dann reisten sie miteinander in die blaue und glänzende Winterwelt! Ihn fror im kalten Novemberregen, und die Stockenten hörten nachts seinen klagenden Ruf.

Es war ein trauriges Herz, das jetzt nicht mehr schlug; und der Mensch müßte seine Freude über den schönen Vogel dämpfen, wenn er ahnte, wie glückselig und wie sehnsüchtig auch er gelebt hatte. Aber der Mensch ahnt nichts mehr! Er ist zufrieden, daß er weiß!

 


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