Josef Wenter
Laikan
Josef Wenter

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Wallfahrer

Um die Weihnachtszeit tummelt Laikan sich wieder in den tiefen, dunkeln und kalten Gegenden des Meeres. 236 Die Welt steht wieder in der alten gewohnten Art in seinen Augen, weil die Blutgerinnsel in den Höhlen sich verlaufen haben. Die große Wunde im Gaumen ist geheilt, und der Schatten des Menschen in seiner Seele ist verblichen.

Viele Vettern sind hier, und Laikan ist nicht mehr ein solcher einzelner wie in den ersten Lebensjahren. Es gefällt ihm jetzt, mit kleinen Schwärmen Gleichaltriger auf Pirsch und Jagd zu fahren oder stundenlang in stillen Mulden und über schwarzer Tiefe zu dösen. Lange hat er es begriffen, daß zehn oder zwanzig Augenpaare besser sehen als eines und daß räuberische Angriffe auf geschlossene Schwärme nicht so leichthin gewagt werden. Auch ist man immer noch so jung, daß man gerne in Spiel und Spaß sich vergnügt. Das aber kann man nur mit seinesgleichen. Fremde Leute verstehen entweder keine oder nur die Späße ihrer Seelen und sind entsetzt oder greifen an, wenn man weiter nichts tut, als Jagd mit ihnen spielt.

Erst wenn Laikan in die höheren Jahre kommen wird, in denen er keine Lust zu Spiel und Spaß mehr haben, in denen er ganz bei sich zu Hause sein wird, und die Sippen ihm nichts mehr zu sagen haben, und es von nirgendher noch Besonderes zu erfahren gibt; wenn seine Seele ihn ganz ausfüllt, und keine Leere mehr ist, die durch Spiel und Geplätscher und Erfahrung ausgefüllt werden müßte: dann erst wird dieser Fischmann wieder ein einzelner werden. Alles, was er dann noch erfährt, wird nur ein Gleiches und ein Gleichnis sein, und die Lebensfurche wird nicht mehr unendlich vornehin gehen, sondern zum 237 Kreise werden, der ihn dann einmal auf die Seite legen wird. Oh, jetzt ist Laikan weit von jedem Kreis und tummelt sein Leben wagemutig und gerade vor sich hin.

Die große Hochebene, über der das Meer zwischen England und Skandinavien sich wölbt, liegt nicht besonders tief. Für Leute mit starken Herzen, festen Kiemen und kräftigen Rudern oder mit Tiefenseelen überhaupt, gibt es tiefere Tiefen, die sehr viel geheimnisvoller sind; aus denen dichte Wasserschwälle langsam und stetig, in jener unüberwindlichen, alles überwindenden Trägheit, die das Wesen des Meeres und alles Ungeheuren ist, aufschwellen. Hier stürzt die Hochebene in abgründige Tiefen hin, und es ist eine viele Fahrtstunden breiter Riß, den ungeheure Basaltwände und zerklüftete Gebirge säumen, und der vom mitternächtigen Rand Europas die skandinavische Küste entlang hinabreicht, bis in die Höhe vielleicht der Nordspitze Schottlands.

Eines Tages geht ein grauer Schein in der Tiefe her, der allmählich lichter wird und silbern schimmert. Weithin wird es heller von dem silbernen Schein, der fast wie Gewölk, hinter dem der Mond steht, hell ist. Jetzt kommt eine unmerkliche Bewegung in das schwere, dichte Wasser, und verworrenes Geplätscher, wie von Millionen Rudern geht ferne her. Höher scheint der silberne Grund zu steigen, und unruhiger wird das Wasser. Dann steigt es herauf und gleicht jetzt einer riesigen Wolke, deren Ränder ins Unsichtige sich verlieren. Witterung von Fischleibern wird immer stärker, und es beginnt zu schaukeln, was doch sonst in solcher Tiefe nicht vorkommt, außer wenn sehr große Leute auf Jagd sind. 238

Jetzt taucht es an den Felsen aufwärts und erfüllt unübersehbar das Meer. Die Heringe haben ihre tieftiefen Wohnungen im kalten Dunkel verlassen, haben nach uraltem Brauch sich zusammengetan und treten die Hochzeitsfahrt an. Das tun sie zweimal im Jahr. Im späten Sommer einmal und jetzt im späten Frühling. Eigentlich haben sie sich verspätet. Aber es hat alles seine Gründe. Viele Winter und Sommer hindurch haben sie ihre Hochzeitsfahrt weiter nördlich angetreten. Jedesmal ist ihnen der Mensch in ihr Fest geraten. Oh, sie sind es gewöhnt, den Menschen mit allen seinen hartherzigen Eigenschaften und Geräten unter sich fahren zu sehen. Sie achten nicht darauf, nehmen sich nicht Zeit, ihn zu fürchten. Ihm auszuweichen, dazu ist im Meer zuwenig Platz. Sie glauben es wenigstens, denn ihrer sind so unermeßlich viele, daß jeder Ausweichende an ein Dutzend Verwandte stößt, die ihrerseits festgekeilt in andere Verwandte sind. Und auch: wohin käme man, wenn man dem Menschen auswiche? Er ist überall. Das aber haben sie dem Menschen sehr übelgenommen, daß er ihre herrlichen und jahrelang gewohnten Hochzeitsplätze vermenscht hat. Das vertragen diese Tiefseer nicht, die doch – oh, mit welcher Inbrunst! – an ihren Geburtsorten hängen, und nur in ihnen auch für ihre Nachkommen sorgen wollen. Aber der Mensch, der die Seelen dieser Geschöpfe gar nicht kennt, sie auch nur um ihrer Leiber willen beachtet, und sich keinen Deut um ihre Sehnsüchte kümmert: der Mensch hat ihnen die geliebte tangbewaldete Küste verdorben. Er hat sie für sich hergerichtet und läßt überdem beizende Wässer ins Meer hinaus. 239

Da haben die Heringe in der langen Nacht ihres unterseeischen Jahres, jeder einzelne für sich und dann die alten Führer des Zuges noch besonders, beschlossen, die gewohnten Orte ihrer Geburt und Hochzeit zu verlassen und es weiter südlich oder vielleicht nördlich zu versuchen, ob die Küste dort weniger unfreundlich ist. Mögen die Leute der Sippe, die keine Lust auf Hochzeiten haben – oh, es gibt solche, und immer, wann die Hochzeitslust, die Leiber dieser Millionen zu beunruhigen und zu schmücken beginnt, dann scheiden sich von ihnen die anderen, die dazu nicht aufgelegt sind –, mögen diese Leute, die keine Leidenschaften kennen und vom Leben nicht geschüttelt werden, mögen sie in die alten Gegenden wallfahren. Man versteht sie nicht, und man hält sie nicht. In der schwarzen Tiefe trennen die Jungfernfische sich von den mannbaren und hochzeitlichen und steigen, von unbestimmteren und doch heftigen Sehnsüchten aufgestört, in die Geburtsorte auf. Dort treiben sie es wie die Hochzeiter. Aber sie helfen keiner Nachkommenschaft ins Leben, und wahrscheinlich ist es nur ein uralter Brauch, der in ihren Seelen lebendig bleibt und sie ohne Leidenschaft leidenschaftliche Spiele und Sprünge und Wanderungen tun heißt. Und der Mensch treibt es unter ihnen gleich wie unter den Hochzeitern.

Höher steigt die unabsehbare lichte Wolke, und unendliches Geplätscher kommt näher, wie Laikan es von den Gründlingen kennt. Es wird lebendig und gefährlich in dieser Zone. Große Räuber hat der Lärm, die Witterung und Wallung herangelockt. Die kümmern sich um den Lachs nicht. Ihre Festzeit, auf die sie jährlich warten, 240 beginnt. Sie dauert kaum eine Woche, aber diese Woche nutzen sie gründlich und schrecklich.

Schief emportauchend, vorwärts und aufwärts sich schiebend, strebt der Schwarm ins obere Wasser, und ein einziges, blitzendes, silbernes, wimmelndes, zappelndes, stoßendes, ruderndes, springendes, unendlich lebendiges Leben erfüllt, weithin ins Unsichtige verdämmernd, die grau erhellte Tiefe.

 


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