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29.

Wir nahmen einen Wagen und fuhren zum Garnisonskommando, das sich unweit der Universität befindet. Man hatte mich als ersten einsteigen lassen, und alle behandelten mich mit schweigendem Respekt. Im Protokollbüro war der Offizier, auf den es ankam, noch nicht anwesend, wir gingen daher fort und nahmen ein Frühstück in einem der Cafés in den ›Arkaden‹. Der zweite Zeuge rief das Garnisonsspital an und wollte Nachricht haben über meinen Freund. Er kam etwas blaß zurück, sagte aber, er habe den Oberstabsarzt nicht sprechen können, man müsse vielleicht in einiger Zeit nochmals anrufen. Mich überlief es kalt. Vielleicht war es aber nur Übermüdung. Ich aß und trank. Ich beherrschte mich. Die Offiziere unterhielten sich über die kommenden Manöver an der galizisch-russischen Grenze, die in Gegenwart des Erzherzog-Thronfolgers Franz Ferdinand und unter seinem Oberkommando stattfinden sollten, sobald er von seiner Inspektionsreise in Bosnien und der Herzegowina zurückgekehrt war, die er jetzt mit seiner Gattin unternommen hatte. Inzwischen wurde es Zeit, in das Kommando zurückzukehren, es hatte acht Uhr geschlagen. Die Offiziere gingen ohne mich in die Kanzlei hinein, der Ranghöchste voran. Ich gestehe, diese Wartezeit war schwer zu ertragen. Ich hatte nicht Angst vor einer Gefängnisstrafe, die mir vielleicht drohte, weil Zweikampf vor dem Gesetze strafbar, ein Verbrechen war. Da aber die ganze Gesellschaft und der Staat das Duell deckten, war ich auf Seite der starken und gewinnenden Partei. Angst hatte ich um Alexandra, die jetzt auf mich in meinem Zimmer wartete, meinen Ring am Finger, und fast ebenso viel Angst hatte ich um Maxis Leben. Wie sollte ich Alexandra vor Augen treten? Aber sie liebte mich doch, sie hatte sich mir in herrlicher Glut hingegeben, und ich mußte glücklich sein, daß ich zurückkam zu ihr und nicht er, um unsere Zukunft aufzubauen. Ich zweifelte nicht mehr an ihr. An mir habe ich nicht gezweifelt.

Endlich wurde ich hineingerufen. Die Offiziere waren dabei, ein Protokoll abzufassen. Es hieß, daß Seine Majestät von allen derartigen Affären höchstpersönlich unterrichtet werden wollte, und daß er dann seine Entscheidungen selber treffe. Die Tatsachen waren klar und banal. Die Stilisierung sei nebensächlich, auch käme es nicht auf ein Komma an, dachte ich. Die Offiziere waren aber nicht dieser Ansicht. Ich sagte, man müsse vor allem abwarten, wie die Operation ausfalle, die man an Maxi vornehme, um die Wunde zu schließen, die Blutung zu stillen, bevor man an das Obersthofmeisteramt den Rapport erstatte. Als ich das Wort Rapport aussprach, ich als einziger Zivilist inmitten der Uniformen, wandten sich die Blicke dieser Männer auf mich, und ich sah in ihnen etwas Unfreundliches. Man schickte mich (in höflicher Form) nochmals hinaus in das Vorzimmer, wo manche Schreibtische angesichts des Sonntages verlassen waren. Ich wartete abermals, diesmal lange, fast eine Stunde. Es wurde ein schöner, etwas schwüler Sommertag, ich dämmerte ein. Plötzlich rüttelte mich eine Ordonnanz diskret an der Schulter, man führte mich in ein andres Zimmer, wo ein General mich und die anderen Herren empfing. Keiner der Herren sprach persönlich mit mir. Wir standen alle. Ich hielt meinen leichten hellen Sommerhut in der Hand. Der General setzte ein altmodisches Pincenez auf und las stockend und mit falscher Betonung ein schlecht stilisiertes, aber im ganzen wahrheitsgetreues Protokoll vor. Die Distanz war mit über fünfzig Schritt angegeben. Es waren zwar nur fünfzig gewesen, nicht einer mehr, da aber der Unparteiische, der die Distanz abgemessen hatte, unmenschlich lange Beine hatte, mochten es wohl soviel wie 55 Schritt bei einem Mann mittlerer Größe gewesen sein. Ich mußte zuerst unterschreiben, dann setzten die zwei Zeugen und schließlich der Unparteiische die Unterschriften darunter; der zweite Zeuge war eben auch gekommen. Ich fragte ihn, als wir die Treppe hinabgingen, wie es mit Maxi stehe. Er sah mich erstaunt an, sagte mir, er dürfe mir keine Auskunft geben (warum?), verabschiedete sich förmlich und schnell, genau wie die anderen. Ich hatte geglaubt, auch meine Zeugen müßten unterschreiben; es war aber nicht der Fall. Vielleicht hatte ihre Aussage nicht den gleichen Wert wie die der Uniformen.

Ich kam heim. Es war Mittag vorbei. Mein Zimmer war aufgeräumt, von Alexandra keine Spur. Meine Abschiedsbriefe waren zerrissen, in der Aschenschale auf dem Nachtkästchen befand sich das kleine Kreuz mit der zerrissenen Goldkette. Es klopfte, Wharf trat ein. Er brachte mir einen dicken Brief, den ihm der Portier an mich mitgegeben hatte. Er war etwas verstört, aber seine Gesichtsfarbe eingegerbt und gesund wie immer. Ich las den Brief, es war ein sogenannter konditioneller halboffizieller Lehrauftrag ›für Geschichte und Systematik der Philosophie‹ der kleinen Universität in Czernowitz, der mir für das Wintersemester angeboten wurde. Der Ordentliche Professor der Philosophie fügte dem kurzen Auftrag hinzu, ich würde gut tun, einstweilen in Czernowitz an dem Gymnasium eine Lehramtsstelle als Kandidat anzunehmen, die mich sicherstellen würde, bis ich außerordentlicher Professor würde. Er wolle dafür sorgen, daß ich die ›Supplenz‹ erhalte, das heißt, daß ich in eine bestimmte Lücke des Staatsgymnasiums in Czernowitz hineinschlüpfen könne. Ich zeigte den Brief lächelnd Wharf. Eigentlich weniger, um ihn über meine Laufbahn aufzuklären, als um Zeit zu gewinnen. Ich wollte nichts wissen. Noch nicht. Ich wollte mir indirekt Gewißheit verschaffen. Ich sagte mir, wenn es sehr schlecht stand mit Maxi, würde Wharf den Brief nicht lesen usw. Er las ihn aber, und ich atmete befreit auf. Wenn Maxi nur lebte, war alles gut. Ich hatte doch niemals seinen Tod gewollt! Schließlich hatte er das Schreiben ausgelesen, und ich mußte fragen, da er nicht von selbst beginnen wollte. Er hatte ein Mittagblatt in der Hand, das eine Schlagzeile in großen Lettern trug. Ich wollte sie aber nicht lesen. Er antwortete mir auf meine Frage ausweichend, die Wunde Maxis sei etwas schwerer, als man anfangs geglaubt habe. Daraus schloß ich, daß er zwar in Gefahr sei, aber nicht verloren. »Hat man ihn denn operiert?« fragte ich. »Nein«, sagte er, »nicht operiert.« »Ist es denn nicht nötig gewesen?« fragte ich. Er sah mich offen an, faßte meine Hand und sagte: »Es ist alles vorbei.« Ich sammelte schweigend alle Kraft, bemüht, seinen Blick auszuhalten. »Es ist gar nicht mehr lebens in das Krankenhaus gekommen.« Ich biß die Zähne in die Lippen, dann zwang ich mir ein Lächeln über die Sprachschnitzer Wharfs ab, der ›es‹ statt ›er‹ und ›lebens‹ statt ›lebend‹ sagte. Es wühlte in mir. Er zog mich zu sich heran, seine Zigarette auf eine Aschenschale legend, wie um seine Hände frei zu haben, mich umarmen zu können. Nein. Ich wehrte mich dagegen, da mir Zärtlichkeiten und Sentimentalität zwischen Männern immer ein Greuel gewesen sind. »Das wird noch nicht alles«, sagte er und holte seine Zigarette zurück. Ich starrte ihn an, der Atem stockte mir. Ich glaubte zu ersticken. »Schlage mich!« röchelte ich erstickt, er verstand mich nicht. »Schlage mich in den Rücken!« wiederholte ich, ich wußte (von Kindeszeiten her, wo er mich so geschlagen hatte, einmal nach einem großen Schrecken), daß sich so der Krampf lösen würde, der mir die Brust zuschnürte. Er schlug mit der flachen Hand mir zwischen die Schulterblätter, daß es klatschte. Aber der Krampf löste sich nicht, das Zwerchfell bäumte sich auf, und keine Luft kam. »Stärker, stärker!« röchelte ich, und er schlug. Ich stand jetzt auf, atmete mit Erleichterung ein und aus und trat ans Fenster. »Handelt es sich um sie?« fragte ich. »Ja, es ist eins Unglücksfall passiert. Hier in dem Blatt steht es, aber ich wußte er natürlich früher. Sie hat heute morgen mit der alten Gräfin Streit gehabt...« »Aber die Mutter ist doch gar nicht in Wien?« »Sie muß zurückgekommt sein«, sagte er, »man hat es so erzählt. Nachher ist es auf den Balkon gegangen um die Spatzen zu füttern, wie sie er immer tut, und in ihrer Aufregung hat sie sich zu sehr vorgebeugt und wird leider hinabgestürzt. Es hat vier Stockwerke, du weißt.« Ich konnte ihn nicht noch einmal bitten, mich zu schlagen, ich mußte warten, bis ich aus eigenem etwas Atem und Stimme und das bißchen Kraft fand, das nötig war, aufrecht zu stehen und mit ihm zu sprechen. Es war merkwürdig, jetzt war er bei mir, an dem mir immer am wenigsten gelegen war und von dem ich stets nur etwas gewollt, dem ich nie etwas gegeben hatte, es war ein sportlicher Mann, ein trivialer Kamerad. »Lebt sie?« »Natürlich lebt sie«, sagte er und führte mich zum Bett und drückte mich dort auf die seidene Decke nieder, »sie hatte noch großen Glück gehabt.« »So ist sie unverletzt?« »Nein, das eigentlich nicht. Vier hohe Stockwerke... Das wäre physikalisch unmöglich.« Das Wort physikalisch machte ihm Schwierigkeiten, und ich hätte ihn vor Ungeduld und Wut zerfleischen können, als er es unnötigerweise wiederholte! »Was ist geschehen, sprechen Sie«, sagte ich, vergessend, daß wir doch schon seit Jahren uns du sagten. »Sie ist bei Laibacher in der Klinik, sie lebt bei Bewußtsein, ich habe sie gesehen, das Bein scheint gebrochen. Man hat ihn in Narkose hergerichtet, es war nicht einfach, ich war nochmals dort, es war gegen elf Uhr. Ich habe gewartet, bis sie aus dem Narkose aufgewacht wird. Die Narkose war sehr leicht, und sie kam sogleich wach. Nur sehr blaß. Sie war nicht allein. Sie weiß alles. Ich glaube, sie wußte gut, bevor ich kam. Sie wohnt nicht weit vom Garnisonsspital I, vielleicht ist sie morgend dagewesen. Er ist dort nicht mehr lebens angekommen. Sie hat natürlich jetzt Schmerzen, und sie will Morfium. Ich glaube aber, sie geben es ihm nicht, und lassen sie an der Klingel schellen, sooft es will. Morfium darf man solchen Menschen nicht geben. Das ist alles, was ich weiß. Nein, Gefahren besteht nicht, du kannst ruhig werden.« »Gut! Ich bin ruhig«, sagte ich, »ich bin ruhig, ruhig!« »Kannst du etwas gut essen?« fragte er, »ich bleibe heute bei dir.« »Essen? Nein, ich habe viel zum Frühstück gegessen. Aber bleibe nur, bleibe!« Wir gingen nach unten in den Speisesaal, und er aß. Warum sollte er das nicht? Ich beherrschte mich. Ich stellte keine Frage mehr an ihn. Nachher gingen wir in mein Zimmer. Ich saß am Fenster. Ich erwartete etwas. Es kam nichts.

Gegen fünf Uhr sah ich auf der Straße eine Art Straßenauflauf, das war wenigstens eine Abwechslung. Zeitungsträger mit Stößen von einzelnen Blättern liefen an den Mauern entlang, verkauften die Blätter, warfen sie aber auch gratis hin, warteten die Bezahlung nicht ab. Ich sah mich nach Wharf um, er war bereits unten, ich sah ihn einem Zeitungshändler nachrennen und ihm ein Blatt, eines der letzten, aus der Hand reißen. Zwei Minuten später war er bei mir. »Der Thronfolger wird ermordet beim Serajewo. Ich muß nach England. Ich muß...« Was mußte er nicht alles? Es war der große Tag eines Journalisten. Aber welch ein Charakter! Ohne daß ich ihn ausdrücklich darum bat, blieb er den ganzen Tag bei mir, er schlief auf dem Sofa, alle paar Stunden weckte ich ihn, bat ihn, Laibachers Klinik anzurufen. Geduldig und treu (treuer, als ich es verdient hatte) tat er mir den Willen. Es hatte sich bei ihr etwas Fieber eingestellt, und man hatte den Gipsverband aufschneiden müssen, den man vormittags angelegt. Ich gedachte des Traumes, in welchem mein Vater ihr den Gipsverband aufschnitt und uns beide verletzte. Man hatte es ihr jetzt aber an schmerzstillenden Mitteln nicht fehlen lassen, und als er um zwölf Uhr anrief, hieß es, daß sie fest schlafe. Gut.


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