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19.

Der illustrierte Artikel Wharfs war über Erwarten weit gedrungen. Wharf erzählte stolz, selbst der Graf W. (der sich übrigens schon einen Ruf als Flugzeugerfinder gemacht hatte) hätte ihn beim Flachrennen in der Freudenau auf diesen Artikel hin angesprochen und hätte ihn, nachdem er sich schon verabschiedet hatte, nach mir gefragt. Es hieß, daß er eine schöne, aber gelähmte Tochter habe. Wharf glaubte, ich solle ihn oder die Tochter gelegentlich aufsuchen, er wollte mir sogar die Adresse geben.

Bei aller meiner Begierde nach Karla erschütterte mich diese Nachricht (schön aber gelähmt) aufs tiefste. Ich hatte in der letzten Zeit soviel auch für das Lehramt gearbeitet, daß ich meinen festen Kinderschlaf wieder gefunden hatte. Jetzt kam die frühere Unruhe wieder. Es regte sich etwas in mir mit einer sanften aber unwiderstehlichen Gewalt, was ich längst hinter mich gebracht zu haben glaubte. Warum konnte ich hier lieben, ohne zu begehren?

Aber es ging vorüber, weil ich es wollte, und weil es vorübergehen mußte, als aussichtslose, nach rückwärts gewandte Liebe. Schon das erste Wiedersehn mit Karla nach dieser Nachricht Wharfs – und das Bild von A. (was war es eigentlich mehr als eine verschwimmende Kindheitserinnerung?) trat wieder zurück, an die Seite meines Vaters freilich, zu den ›Dahingeschiedenen‹, wie er die Toten immer genannt hatte.

Und doch, tat ich alles, um Karla zu gewinnen? Schauderte ich nicht zurück, sie auch nur in Gedanken ›mein Weib‹, ›meine reizende Gattin‹, ›meine liebe gute Frau‹ zu nennen, oder einfach ›meine Alte‹, wie man im Volk die braven Frauen nennt? Ich wollte nicht wissen, wie sie mich nannte, in welcher Weise sie an mich dachte, wenn ich abwesend war. Oft schien es mir, als fürchte sie mich, als werde sie leicht schwindlig in meiner Gegenwart, ja, als bereue sie, ihrem ersten herzlichen Antrieb nach dem Lesen von Wharfs Räubergeschichte gefolgt zu sein, mir ihre Pflege angeboten zu haben, nachdem sie es über sich gebracht hatte, mir sechs Monate fern zu bleiben. Jeder war sich selbst der Nächste.

Ich verlangte nichts von ihr. Ich tat ihr nichts. Ich suchte keine Gelegenheit, sie in der Dämmerung oder nachts zu treffen, ihr einen Kuß zu rauben, ihr eine mehr oder weniger unschuldige Liebkosung abzuschmeicheln.

Ich mußte so handeln, es war meine Natur, und ebenso war es meine Natur, ihr meinen Reichtum zu verschweigen, mein Alter, meine Pläne, meine Arbeit, meine Großjährigkeit, meine vollständige Unabhängigkeit von jedermann.

Ich brauchte nicht zu lügen. Im Gegenteil! Als ich es einmal in einer Aufwallung des heißesten, leidenschaftlichsten Entzückens an ihrer Schönheit über mich brachte, ihr die Wahrheit zum Teil zu gestehen, hielt sie dies alles – (glücklicherweise! mußte ich mir nachher sagen) – für Lüge. Was konnte ich Besseres wünschen?

Etwas Ähnliches widerfuhr mir mit meiner Mutter. Ich hatte Angst gehabt, auch sie könne den vielgerühmten Artikel zu Gesicht bekommen haben, und nachträglich ein wenig schmerzhaftes Herzklopfen wegen der Todesgefahr ihres tollkühnen Sohnes empfinden. Ich schrieb ihr also, sie solle den Aufsatz, der gegen meinen Willen und ohne mein Vorwissen verfaßt sei, nicht ernst nehmen. Alle die Aufnahmen seien in einem Freilichtatelier des Photographen im Dorf Goisern entstanden, der bekannt sei für diese gestellten Aufnahmen. Die Felsen seien Pappe, der Schnee weißer Anstrich und die Aussicht eine alte Theaterkulisse. Alles also Kunst und Theater und nichts Natur und Not.

Merkwürdigerweise nahm meine Mutter auf diese Erklärung niemals Bezug, sie schwieg. Es schien mir übrigens, als ob ihre Briefe jetzt seltener kämen, daß die Zeilen weiter auseinanderstünden auf der Seite, und die Worte weiter auf der Zeile. Aber was konnte ich Besseres wünschen, wiederhole ich, ich hatte ja alles und alles seit Jahr und Tag nur darauf angelegt, sie von mir unabhängig zu machen, so wie ich selbst frei geworden war von der Familie, Vater, Mutter, Bruder, Schwester. Vielleicht dachte ich immer noch etwas zu viel an sie, ich erinnerte mich aller Züge, alles stand mir mit unverlöschbaren Farben vor Augen, denn mein Gedächtnis war und blieb so gut wie untrüglich – und wurde mir dadurch manchmal eine Last. Warum mußte ich mich so genau des Vergangenen erinnern? Manchmal wünschte ich, auch für mich selber solle gelten, was für so viele gilt: Vergangen. Vergessen.

Ich will die vielen, an sich belanglosen Kleinigkeiten nicht erwähnen, bei denen mein allzu treues Gedächtnis mir bewies, daß Karla sich nicht immer haargenau an die Wahrheit hielt. Aber auch dies hatte seine guten Seiten. Ich glaubte dadurch ein Recht zu haben, meine eigenen Wege zu gehen, still, aber nicht ohne festes Ziel.

Sie jagte mir nach, das heißt der Ehe mit mir, denn für sie war und blieb die Ehe die einzige Verbindung zwischen den Geschlechtern, die Dauer und Wert hatte, und ich... Sie gab natürlich zu, daß etwas an mir sie mit unwiderstehlicher Gewalt anzog, ob mit oder ohne Ehering. Aber dies sollte mein geistiges Leben, nichts anderes als meine Gedankenwelt sein, sagte sie an einem Tage, und als ich ihr am nächsten Tage vorschlug, sie solle meine Seminararbeit durchlesen oder ich wolle ihr einen Aufsatz über die großen Katholiken Augustinus und Pascal vorlesen, lehnte sie unter allen möglichen Vorwänden ab. Es bedurfte dieses Beweises ihrer Unaufrichtigkeit gar nicht. Ich wußte ja seit langem, daß sie mein Studium nur als Vorbereitung zum Broterwerb auffaßte. Was freie Forschung war, schien ihr höchst überflüssig. Alle ›gescheiten‹ Gedanken seien längst ›erfunden‹, meinte sie, und ich sah, sie hätte sich gern mit einem höchst mittelmäßigen Kopf abgefunden, vorausgesetzt, daß die Hände dieses Menschen so stark und geschickt waren, für sie und die vielen, vielen Kinder, die sie (wie einst ihre arme Mutter) unbedingt haben wollte, dereinst Bett, Tisch und Dach zu zimmern mit allem, was dazu gehört und was darauf zu stehen und darin zu liegen hat, in einem gut bürgerlichen Hauswesen.

Warum sollte ich dies nicht verstehen? Aber weshalb gab sie es niemals zu und rühmte mein ›rares geniales Geisteslicht‹ in so übertriebenen Ausdrücken, daß ich sie nur belächeln konnte, denn ich glaubte, frei zu sein von der dümmsten Eitelkeit. Gerade ihr Lob machte mich mißtrauisch, nicht allein ihr gegenüber, sondern auch viel mehr noch mir selbst gegenüber. Weshalb sagte sie nicht, was bei jeder Frau verständlich war, und gar bei ihr, die nach einer schweren Kindheit einen noch schwereren Beruf ergriffen hatte? Auch hier beim Berufsleben war manchmal Lüge von Wahrheit nicht zu unterscheiden, und wenn sie manchmal von Mitleid und christlichem Erbarmen für die Kranken, die ›armen Hascher‹, die nach der Gesundheit vergebens trachteten, überfloß, so zürnte sie ihnen doch, wenn sie oder die Erben nach der Heilung oder dem Tode nicht das geben wollten, worauf sie gerechnet hatte, oder wenn der nicht immer vorhersehbare Gang der Krankheit es ihr unmöglich machte, sich mit mir auch nur auf die Dauer von zehn Minuten in der Woche zu treffen.

Ich schonte sie, vielleicht nicht aus Erbarmen, nicht aus christlichem Mitleid, aber ich tat es. Ich war mir stets bewußt, daß sie mit mir unbarmherzig brechen würde, sobald sie eine Gefahr für ihre Unberührtheit ahnte. Denn sie war unfähig, gegen meine Leidenschaft und zugleich gegen ihre innerste Natur (eine ihrer Naturen?) anzukämpfen. Auch hier sah ich für mich noch keinen Grund zur Verzweiflung. Geduld! Geduld! Das sagte sie ihren Kranken, das sagte ich mir. Einer von uns beiden mußte den Kopf oben behalten. Berechnung? Verführung? Notwendigkeit, nichts weiter. Geduld ist die von der Menschenseele begriffene Notwendigkeit. Man kann sie erlernen. Ich hatte sie erlernt. Er nicht.


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