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12.

Maxi war nicht in Wien und fehlte mir. Die Briefe von meinen Lieben las und beantwortete ich mit größerem Eifer als früher. Die Briefe stammten zum größten Teil von Anninka, die sich jetzt nur noch als Schwester Anna unterzeichnete. Meine Mutter schrieb kurz und klar, Marthy einmal lang, einmal knapp, aber immer unklar, die Worte wiederholten sich in Sätzen ohne Anfang und Ende, und die Zahl der Buchstaben in den Worten stimmte nie. Postillion schrieb nicht, aber er zeichnete mit bunten Stiften kühne, aber nicht immer einfach zu deutende Pastelle auf die Briefbogen. Er war bezaubernd schelmisch wie immer, hieß es bei Anna, er war recht hübsch, wenn auch nicht schön, und vor allem prachtvoll gerade gewachsen. (Ich entsann mich lächelnd der Bemühungen Marthys, die ihm die Gliedmaßen unter Ach und Weh gerade gezogen hatte.) Er schien über sein Alter klug, war aber natürlich nicht immer leicht zu erziehen. Fehlte ihm der Vater? Aber eine Anna konnte sicherlich selbst einen Vater wie den unseren fast ersetzen. Auch Marthy war als Erzieherin in praktischen Dingen nicht schlecht, und meine Mutter war unzweifelhaft immer die herrlichste Erzieherin gewesen.

Und doch zeigte das kleine Menschenkind seltsame Eigenschaften. Postillion hatte sich mit den Besuchern des Mittagstisches abgefunden, das heißt, er hatte sich an sie gewöhnt. Er durfte nicht ins Speisezimmer, solange ein Gast da war, es war nicht gut für ein Kind, wenn es von Hand zu Hand ging, wenn jeder ihm schmeichelte und Leckerbissen reichte. Aber wie kam es, daß er sich an den im Korridor aufgehängten Sachen der Gäste zu schaffen machte, der kleine Hallodri? Er brachte es auf mehr oder weniger raffinierte Weise zustande, – (im Anfang riß er die Mäntel herab, später nicht mehr), sich etwas anzueignen, das ihn reizte, zum Beispiel die Knöpfe. Er hatte keine Schere, sie abzuschneiden. Erfinderisch drehte er so lange an ihnen, bis sie abgingen. Erst als fast allen Gästen das gleiche Mißgeschick widerfahren war, kam man darauf. Die Knöpfe waren nicht aufzufinden. Er war also noch raffinierter, als Anna geglaubt hatte, denn er verstand es, seine Beute so trefflich zu verstecken, daß die Erwachsenen sie nicht finden konnten. Die vielen Großen imponierten ihm offenbar nicht. Er konnte ihnen alles abschmeicheln, was er wollte. Wenn Marthy ihm mit Schlägen drohte, (meine Mutter hatte gesagt, ich hätte sie dazu gebracht, niemals ein Kind zu strafen!), sagte er, die Händchen hinter dem Rücken verschränkend und das Kinn emporreckend: »Rührt ihn ja nicht an, er beißt!« Oder er seufzte: »Ach Gott, ach Gott, was tun?« Aber bereitwillig versprach er Besserung und wiederholte nach einer gewissen Zeit den alten Fehler nicht, nur kam er leider auf neue Streiche. So trieb er sich in der Küche umher und half der Köchin, nämlich Anna. Sie ließ sich von ihm ab und zu etwas reichen. Als sie aber bemerkte, daß er aus eigenem mitkochte, ein Händchen Salz ins Kompott, eine kleine Menge Zucker in die Suppe warf, vertrieb sie ihn aus dem Paradies, – und plötzlich war der kleine Knirps trotzdem da, scheinheilig mit einem alten Geduldspiel beschäftigt. Er hatte eine Vorliebe für Feuer wie fast alle Kinder, und sein Hauptspaß war es, den Gästen im Vorzimmer mit einem brennenden Hölzchen für die Zigarette aufzuwarten. Als ihn Mutter, Anna und Marthy im Verein abmahnten und ihm drohten, sagte er, den Kopf schüttelnd, so daß die Locken flogen: »Sagt mir nichts, Kinder! Ich vergesse ja doch alles!«

Spärlich waren die Nachrichten über meine Mutter. Ich hatte fast den Eindruck, daß die Briefschreiber überein gekommen waren, daß ich möglichst viel über Postillion und möglichst wenig über meine Mutter erfahren sollte. Ich fragte sie. Sie antwortete endlich, etwas zärtlicher als sonst, daß sie ihren Frieden gefunden habe in einer schweren sozialen Arbeit, die der Welt vonnöten sei; sie sei trotz aller Mühe gesund und werde mir bald ›so Gott will‹ neue und gute Nachrichten zu senden haben. Ich erwartete also einen langen Brief von ihr, aber er ließ auf sich warten.

Um diese Zeit besann ich mich, daß einer der Lehrer meines Vaters, der Professor der orthopädischen Chirurgie, Hermann Laibacher, in Wien lebte und lehrte. Ich erinnerte mich auch der Andeutung Alexandras von einer ›Spezialbehandlung‹. Vielleicht sollten wir beide nicht verzweifeln an einem guten Ausgang, bevor nicht alles versucht worden war. Ich konnte handeln, mich hatte das Leben nicht gebrochen, nicht verbittert, ich konnte etwas Kühnes wagen, mein bißchen Energie und meinen praktischen Sinn, mein Lebenstalent und Geld anwenden. Ich schrieb an den Professor. Als er nicht antwortete, rief ich an, bekam ihn aber nie an den Apparat. Ich setzte mich mit dem Oberarzt in Verbindung. Ohne Erfolg. Ich ließ der altjüngferlichen Dienstperson, die den Dienst des Sprechzimmers zu versehen hatte, ein großes Geldgeschenk und ein schüchternes Lächeln zukommen. Endlich stand ich vor dem alten, sehr zarten, knabenhaft schlanken Mann. Er sagte, er hätte nie einen Brief von meiner Hand erhalten. Meines Vaters, dessen ich sodann Erwähnung tat, entsann er sich sofort. Für Alexandras Fall, den ich nur laienhaft schildern konnte, (daß er auf ein Erbübel zurückgehe, hatte er aber sofort erraten), interessierte er sich sehr und hielt ihn nicht für aussichtslos. Er gab mir eine Nummer der Wiener Medizinischen Wochenschrift , worin eine ausführliche Arbeit über solche Fälle stand. Er brauchte die Nummer sofort, das heißt am nächsten Tag. Ich verbrachte die Nacht damit, sie wortwörtlich abzuschreiben. Die Zeitschrift gab ich um sieben Uhr bei Laibacher ab, bevor dieser in die Klinik ging, wo er zu operieren pflegte. Ich eilte zu Alexandra. Sie bereitete sich für die Kommunion vor, war nicht zu sprechen. Ich ließ die Abschrift zurück in den Händen des alten Dieners, der mir jetzt besser gesonnen war als am Anfang. Mit der größten Überwindung hielt ich mich ab, noch an diesem oder am nächsten Tage hinzugehen. Nach vier Tagen erschien ich. Alexandra war wie immer. Von dem Aufsatz kein Wort. Ich sah, wie sie die Stirn runzelte bei der ersten Anspielung. Aber ich sagte mir, es müsse sein. Sie ließ mich ausreden, dann zog sie mich wie oft, wenn sie sich durch die Mutter beobachtet fühlte, in das kahle, fast nur mit altem Gerumpel (Reitsätteln, Maschinenmodellen, Papiere über Papiere) möblierte Arbeitskabinett des Grafen und sagte mir, meinen Blick vermeidend und mit übertriebenem Hinken im Zimmer umhergehend, sie habe mit ihrer Mutter und Hochwürden alles besprochen. Die Operation sei gefährlich. Es sei Jesu Wille nicht, daß man die Last abschüttle, womit er eine elende sündige Kreatur gesegnet. Nicht bei den Wundertaten habe Christus so sehr seine Göttlichkeit bewährt, als vielmehr am Kreuz, in Demut bestehe die Nachfolge Christi, aber nicht in Rückenmarksoperationen. Ich hielt alles, was sie jetzt sagte und tat, für Theater und Verstellung, sagte aber nichts davon. Sie tat dann, als wolle sie mich trösten! Sie riet mir, ich solle meinem guten Stern folgen, aber sie ihrem Schicksal überlassen. Meine Brüderlichkeit rührte sie bis zu Tränen. (Es war aber eher etwas Teuflisches in ihrem gar zu durchsichtigen grünblauen Blick!) Wenn sie einen Menschen lieben könnte, sagte sie stehenbleibend, ganz nahe an mir, so daß ihr Atem meinen Hals streifte, – (ich war viel größer als sie), dann würde sie sich diesem irdischen Bräutigam opfern, sich ihm zuliebe, um ihm eine christliche Gattin zu sein, auf die chirurgische Schlachtbank schleifen lassen – mit Lebensgefahr! (Einer von den vierunddreißig Fällen, die angeführt waren, hatte die Operation nicht überstanden.) Ich konnte dies nicht mehr ertragen. Ich zwang mich zu einem höflichen Abschied von ihr und ihrer Mutter. Glücklicherweise war Max an diesem Tage gekommen.


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