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18.

Früher war mir immer das Unvollendete eine Qual gewesen. Dieses Mal war es sonderbarerweise eine Art Wonne für mich, an dem Becher noch nicht zu nippen, geschweige denn ihn bis zur Neige auszutrinken. Von dem Kranken, der Karla angeblich so sehnsüchtig von seinem Schmerzenslager erwartete, war nicht mehr die Rede. Sie wäre vielleicht noch eine halbe Stunde über die erste Stunde mit mir zusammengeblieben. Ich hätte, so sagte ich plötzlich, als fiele es mir eben erst ein, eine Vorlesung über Naturphilosophie zu besuchen und ich ging, nachdem wir eine Zusammenkunft für das Ende der Woche (es war Mittwoch) verabredet hatten. Als ich allein war, wurde mit bitter statt stolz zumute. Ich bereute meinen Willensaufwand, mir tat der Verzicht bereits leid, ich fürchtete mich vor den Selbstvorwürfen, der Einsamkeit, der Sehnsucht von vier langen Tagen. Bei näherem Nachdenken stellte es sich natürlich heraus, daß es nur drei waren. Und statt die wenigen Minuten zu bereuen, die ich aus Stolz, um mich ihr überlegen zu zeigen, geopfert hatte, begann ich bald, mich auf das kommende Zusammensein zu freuen. Ich war diesmal fest entschlossen, mit einer Karla etwas anderes zu erleben als mit Lilyfine. Ich wollte nicht der Hase, sondern der Jäger sein. Ich sah bald ein, daß mein instinktiver Entschluß, das Zusammensein vorzeitig abzubrechen, viel richtiger war, als ich geahnt hatte. Ich durfte ihr nie die Möglichkeit geben, mir Nein zu sagen, mich abzulehnen und vor mir zu fliehen. Beim nächstenmal hielt ich mich mit eiserner Willenskraft von jeder Berührung frei. Es wäre ja so leicht gewesen. So begreiflich, so menschlich durfte es aber nicht sein. Ich hatte Handschuhe an, die ich sonst nicht mag. Ich besaß nur ein einziges Paar schwarze, neue Handschuhe und ein Paar alte, wildlederne, weiße, oder vielmehr im Dienst ergraute. Ich nenne die schwarzen Handschuhe neu. Sie waren alt, aber noch nie getragen, denn sie waren zum Leichenbegängnis des Vaters bestimmt gewesen, das ich nicht mitgemacht hatte. Ich hatte dummerweise die schwarzen gewählt, obgleich sie natürlich weder zu meinem hellen Anzug, noch zur Jahreszeit paßten.

Sie fragte nicht danach. Sie hatte ja auch nicht nach dem Grund meines Schmerzenslautes das letztemal gefragt, sie hatte sich nicht einmal nach den Erlebnissen im Dachsteingebirge erkundigt, und ich erwiderte ihre Diskretion durch die meine. Sie ertrug meine Zurückhaltung nicht lange, sie begann wie erwartet bald ihr Herz auszuschütten. Natürlich gab sie sich bei aller Aufrichtigkeit niemals ganz offen.

Sie gestand dies sogar ein. Dies war der höchste Grad von Aufrichtigkeit, den ich von einer Seele, einem Herzen ihrer Art zu erhoffen hatte. Was aber hatte ich sonst zu erhoffen? Durfte ich ihr glauben? Sollte ich ihr trauen? Wir waren wieder in einem Caféhause, (wohin sonst hätten wir gehen können?), wir saßen auf einer Terrasse unter einem rotweiß gestreiften Leinwanddach, um die letzten warmen Herbsttage auszukosten. Indessen, so glühend heiß waren sie nicht, daß Karla (wahrscheinlich ohne es zu wissen) ihren weißen nackten Hals an die kalten Eisenstäbe ihres Stuhles pressen mußte, zum zweitenmal, als wäre es meine Hand, unmerklich dabei erzitternd und plötzlich einen ihrer düsteren dunklen Blicke nach mir werfend. Ich sah ruhig vor mich hin.

Was sie sprach, hatte nichts mit diesem Blick zu tun, es mußte eine andere Seite ihres Daseins sein, vielleicht der Tag im Gegensatz zur Nacht, ich weiß es nicht.

Sie machte gern ihren Dienst, sie pflegte ungewöhnlich gut, man suchte sie schon lange, bevor sie frei war. Es waren fast immer Reiche, Hochgestellte, Adelige, die sie einer dem anderen weiterempfahlen, sich um ihre Pflege bemühten und ihre Dienste mit ziemlich viel Geld bezahlten. Die Universitätsprofessoren kannten sie als Schwester Karla, ohne je ihren Familiennamen zu nennen. Sie vertrauten ihrer Gewissenhaftigkeit die Aussichtsreichsten – und die dem Tode am sichersten Geweihten an. Die ersteren, damit Karla die Heilung beschleunige, wobei eine gute Pflege ebenso wichtig war wie eine geniale Operation. Die letzteren gab man aber in ihre Hände, damit sie ihnen den Tod verhülle, das Sterben leicht mache.

Die Kranken wußten natürlich nicht, in welche Gruppe sie gehörten, und es schien, als ob die gelehrten Hofräte es auch nicht immer zuverlässig vorauszusagen vermochten.

Obwohl sie es nicht zugab, mußte eine Art furchtbaren Stolzes darin liegen für die Marmormalerstochter, daß sie die Großen, die Unnahbaren, die Generäle, Barone und Herzöge, die Millionäre klein, hilflos, schwach vor sich sah als arme Kreaturen in ihren langen weißen Nachthemden. (Auch dies war eine Art Uniform, so wie sie eine trug in ihrer Pflegerinnentracht.) Sie mußte, als junges, unberührtes Geschöpf, ihren Bedürfnissen niederster Art Hilfe leisten. Sie mußte sie anstelle einer Mutter und wahrscheinlich zuverlässiger, als eine solche es in ihrer Aufregung und Angst gekonnt hätte, füttern, trinken lassen, des Morgens aufwecken und waschen, abends einschläfern, nachdem sie sie frisch gebettet hatte, sie mußte ihnen zu dem Notwendigen zureden, mußte sie in aller Güte behandeln, – und vielleicht betete sie, die eine treue Katholikin war, mit den glaubensschwachen oder den fremdgläubigen oder den Atheisten, um ihnen auch diesen Dienst zu erweisen.

Vor allem hatte sie sich zweierlei vorgenommen: niemals den Kranken, mochten sie noch so sehr darum flehen, die ganze Wahrheit zu sagen, weder sie mit zuverlässiger Heilung übermütig zu machen, noch sie mit Aussicht auf Leiden und den unerbittlichen Tod zu erschrecken. Und ferner, niemals zu sentimental, zu mitfühlend, zu mitleidig mit irgend einem Menschen zu sein. Herzlich? Ja! Weichherzig? Nein! Und niemals vertraulich werden, alles anhören, nichts antworten, möglichst wenig von sich sprechen.

War das ein Schutz ihrer eigenen Natur? War es anders nicht möglich, war es die einzige Art zu leben für eine Karla, wenn sie gezwungen war, mit den Leiden, Qualen und furchtbaren Bitternissen der hilflosen menschlichen Kreatur ihr Brot zu erwerben? Auch das wußte ich nicht. Es schien, als ob ihre häuslichen Verhältnisse nicht gerade rosig seien. Ich fragte nicht. Sie fragte ja auch nicht nach meiner Mutter, nach Marthy, nach dem Postillion, nach Anninka. So schwiegen wir einander an, und waren so glücklich wie nur möglich. Vielleicht erwartete sie diesmal einen kühnen Schritt von mir. An Mut hätte es mir nicht gefehlt. Aber ich begehrte sie zu sehr! Es durchströmte mich kein lindes, kosendes, kein vergötterndes, keusches Begehren, sondern es riß tief innen an mir, drohte alles zu zerstören, und ich sah sie nicht an, um ihr meine furchtbare Verwirrung nicht zu zeigen.

Um so zutraulicher wurde sie. Sie fragte endlich! Sie wollte wissen, ob ich – ihr Alter erraten könne. Ich nannte eine dumme, meiner Meinung nach sehr hohe Zahl, 26, glaube ich. Aber ihr Gesicht strahlte so, daß ich sofort einsah, ich hatte sie jünger eingeschätzt, als sie war. Sie wollte nun – (welch kindisches Spiel zweier Menschen, die sich das Wichtigste verschweigen!) – das meine schätzen. Sie nannte 27, und ich nickte, aber so übertrieben, daß sie hätte erkennen müssen, wie sehr sie sich geirrt hatte. Aber sie wollte sich ja irren. Je öfter wir darüber sprachen, desto mehr glich sich der Altersunterschied zwischen uns aus.

Also war es leicht, ihr eine Freude zu machen, denn diese ihre Freude jetzt war größer als unlängst bei dem Geschenk der schönen, aber duftlosen Prachtnelken.


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