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14.

Was war zu tun? Ein Käfer, den ein stupider Einfall der Natur auf den Rücken hat fallen lassen, krabbelt sich vergeblich stundenlang im Staube ab, und die Natur hilft ihm nicht, der nächste Vogel pickt ihn munter auf, und mit Gesang, das ist Natur, Schicksal, Sinn des Lebens, und es ist mit ihm vorbei.

Ich mußte einen Plan ausdenken, ich mußte denken, so scharf und intensiv wie je. Wharf war gesund, stark, schwindelfrei. Er hätte es am leichtesten gehabt, Karl seinen Arm zu reichen. Aber gesetzt selbst, er hätte das getan, was mir infolge des eingeschnürten Arms völlig unmöglich war, was hätte es genützt? Karl lag mit dem Kopf nach unten da, am letzten Rande der Böschung, dort wo der wirkliche Abgrund begann. Karl hätte Wharfs Arm gar nicht fassen können, denn er bedurfte seiner Hände, um sich in den Schnee anzuklammern. Er hatte selbst sein Kinn fest in den Schnee hineingepreßt, und der schwere Rucksack, mit allem möglichen Unsinn angefüllt, war über ihn hinweggeglitten, und hing bereits frei hinab in die Tiefe, er würgte ihn am Halse, zog ihn hinunter.

Ich hätte also Wharf unnötig in Gefahr gebracht und mich doch nicht aus der Gefahr gerettet. Wir mußten alle drei gerettet sein oder alle drei zugrunde gehen.

Was noch? Um Hilfe rufen? Karl konnte es nicht, aber wir zwei konnten es. Ich kannte die alpinen Hilfesignale genau. Innerhalb einer Minute sechsmal ein sichtbares oder hörbares Zeichen geben, also sechsmal in der Minute aus Leibeskräften schreien oder mit einem hellen Tuche winken. Nach diesen Hilferufen eine Minute warten. Pause. Dann wieder beginnen.

Nun war aber die Aussicht, man würde uns rechtzeitig zu Hilfe kommen, nicht gar zu groß. Es lag viel Neuschnee, es waren nicht viele Touristen auf dem Weg, und die nächste menschliche Behausung war weit! Wharf hatte mit dem Photographieren eben aufgehört, sei es, daß er seine Filme alle aufgebraucht hatte, sei es, daß er auf den Gedanken gekommen war, der gute Karl könne ihm noch die Tücke antun, ihn und mich zu sich hinabzuziehen. Ich hatte ihm keine guten Ratschläge zu geben, keine Vorwürfe zu machen. Ich sah ihn ruhig an, schweigend, wenngleich ich an seinen aufgerissenen Augen, an seinem noch blasseren Teint erkannte, der gute Josuah wußte jetzt, in welcher Gefahr er sich befand. Nun hätte er sich am leichtesten allein retten können, er brauchte bloß das Seil zu durchschneiden. Sein linker Arm war ja nicht um das Seil gewickelt wie der meine, er konnte sich frei bewegen.

War ihm dies zuzutrauen? Alles! Wie jedem. Ich durfte nicht seine Menschlichkeit ins Treffen führen, sondern ihn überraschend überlisten. Aber wie? Ich schrie ihm zu, er möge mir sein Messer zuwerfen. Ahnungslos tat er es, es fiel ganz in meine Nähe hin, ich stieß es achtlos mit dem Knie in die Tiefe. Der Schmerz in meinem Arm steigerte sich zum Rasendwerden bei der kleinen Bewegung, die ich mit dem Bein gemacht hatte.

Endlich schoß mir der erste praktische technische Entschluß durch den Kopf. Ich mußte, der scheußlichen Schmerzen ungeachtet, das Seil ein wenig freimachen, indem ich es mit Hilfe des Eispickels von einem Felsblock losriß, um den es sich gewickelt hatte, auf diese Art einen kleinen Umweg machend. Erspart wurden dadurch höchstens ein paar Zentimeter, und selbst diese wären sofort verloren gegangen, wenn man das Seil nicht sofort nachher fixiert hätte. Wie es aber festhalten? Es einfach nachzulassen hätte niemandem genützt, Karl wäre nur etwas tiefer gerutscht, vielleicht hätte ihn die Panik der Todesangst ergriffen, das war das Fürchterlichste für uns alle.

Es war dem Nihilisten hoch anzurechnen, daß er sich auch in der Todesangst verhältnismäßig ruhig verhielt. Ich stand also auf, machte das Seil in gebückter Haltung frei und fixierte es sodann mit dem Fuß, ich trat mit den Zacken der Steigeisen darauf. So kam mir der Vorteil zugute. Ich fühlte augenblicklich den Schmerz ein wenig nachlassen, es war fast, als sei er schon ganz verschwunden. So gut tut die geringste Hoffnung. Jetzt konnte ich die drei Schlingen auf dem Arm nach der Hand hin, wo der Umfang des Armes dünner wird, etwas hinabschieben, und bald konnte die linke Hand, tütenförmig zusammengezwängt, durch die drei Höllenschlingen hindurchschlüpfen. Wie herrlich, unbeschreiblich, unsagbar freudig mir zumute war, beschreibe ich nicht. Ich konnte den Arm, den ich bist jetzt an die Brust hatte pressen müssen, frei bewegen! Frei! Mein Ärmel war voller Blut, die drei Seilwindungen, die das Übel angerichtet hatten, waren ebenfalls dunkel, schlüpfrig, aber was tat es, ich stand aufrecht da, Herr meiner selbst, ich stand über allem und mußte es. Jetzt war alles andere leicht, – das heißt leichter. Denn es blieb noch furchtbar schwierig, kam aber doch allmählich in den Bereich des Möglichen.

Vielleicht sonnte ich mich einen Bruchteil einer Sekunde zu lange im Glück und in der Überlegenheit. Karl, den die Rucksackriemen am Halse einschnürten, wollte sich von ihnen losmachen, er bäumte sich auf, er warf den Kopf hin und her, aber das Gegenteil dessen, was er wünschte (und wer hätte ihn nicht begriffen!) erfolgte, der Rucksack hängte sich noch lastender an seinen langen dünnen Hals, und seine Hände kamen ins Rutschen, fast sah es aus, als schwimme er im Schnee und sei im Versinken! Aber ich war da, ich zog an seinem Seil, mit beiden Händen diesmal, ich stemmte mich fester auf den steinigen Boden, es sollte vorläufig nur eine moralische Hilfe sein und besagen: habe Geduld, großer Denker und Verneiner, verzage nicht, wir halten fest an dir. Diese Wirkung hatte es denn auch, er fügte sich, er blieb ruhig wie vorher. Ich nicht ganz so. Mir pochte das Herz wild in der Brust, als wäre es mein Feind. Die Anstrengung in dieser Höhe hatte mich viel Kraft gekostet. Die Stille hier war unsagbar. Lähmend, todesernst! Kein Käfer schnurrte, kein Wagenrad knarrte, kein Beil tönte im klingenden Tannenholz, kein Wasser rieselte silbrig hell, keine Kuhglocke klang hinauf.

Nur die eisige Luft zog in unheimlich hohem Gesang über uns hin; und blendend bis zum Erblinden schwoll das bläuliche Gletscherlicht an.


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