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16.

Nun waren wir beide, Mutter und ich, in der öden Wohnung zurückgeblieben. Noch sehe ich meine Mutter das Sterbebett von der Wand weit abrücken und rings herumgehen, lange Zeit wie im Kreise ... Merkwürdigerweise war es uns beiden versagt zu weinen. Im Grunde glaubten wir noch nicht an das, was uns getroffen hatte. Ich mußte mich stets von neuem davon überzeugen, und gerade das bohrte und wühlte so furchtbar in mir, daß es kaum mehr zu ertragen war. Um das Begräbnis, um den Platz auf dem Friedhof brauchten wir uns in dieser tränenlosen Nacht nicht zu kümmern, das heißt, wir durften uns um nichts kümmern, wir waren jeder Aufgabe und jeder Pflicht, jeder Tat, jeder Anstrengung ledig. Wir konnten an uns denken ... Das Hämische in dieser Lage, der Spott, den eine Macht, eine Übermacht mit uns trieb, war ein furchtbares Gift und wir beide fürchteten, meine Mutter so wie ich, daß unser bis jetzt so glückliches Leben bis an sein Ende vergiftet sein würde, sie hatte Angst, daß sie das ungeborene Kind als Krüppel zur Welt bringen, daß sie es schlecht behandeln, daß sie ihm seine Jugend vergällen würde. Und ich? Ich schweige vor mir.

Die Bestattung hatte der frühere Gehilfe meines Vaters, der jetzige Inhaber unseres Geschäftes übernommen. Er hatte vor der Tür des Hauses gewartet, (wie uns kurz darauf unsere treue Magd Marthy durch das Loch in der Tür erzählte), er wollte den Toten geleiten, er wollte alles auf sich nehmen, er wollte, was im Augenblick das Schwerste und Notwendigste war, meine Schwester in der Klosterschule aufsuchen und sie schonend auf alles vorbereiten, denn wir anderen sollten noch zwei Wochen die verseuchte Wohnung nicht verlassen. Nach dem kurzen Besuche Marthys an der Tür versanken wir wieder in Schweigen, Hinstarren, Grübeln. Hätte ich nur glauben können! Hätte ich nur mit einem winzigen Atom meines Wesens daran glauben können, daß die Seele meines Vaters, – (und was hatte ich geliebt, wenn nicht seine Seele?) noch weiterlebte. Aber ich konnte es nicht. Unsterblich! Elf Buchstaben hatte das magische Wort – und es fing mit U an. Nach den Lehren meiner Religion war diese Seele sofort nach dem Absterben ins Fegefeuer gewandert. Ich sollte also glauben, daß er zu allen Leiden, die seine Seele und sein Körper hier in diesem Zimmer ertragen hatten, noch zu neuen und zwar viel fürchterlicheren Leiden ›dort unten‹ auserkoren war, bis er zur Erlösung irgendwo oben gelangte. Ich glaubte es nicht. Es war mir nicht ›evident‹, wie es philosophisch hieß, es überzeugte, es beruhigte mich nicht, es tröstete mich daher auch nicht. Also ganz verloren? Zerronnen, in der Luft aufgegangen wie sein letztes Wort, jenes rätselhafte Uuuu, oder bestimmt, unter seinen von Karbolsäure schwappenden Tüchern in einem hölzernen oder metallenen Sarg zu verfaulen? Dies wäre mir bei jedem anderen Menschen evident, natürlich, gottgewollt erschienen, als das übliche Menschenlos, der alte Lauf der Welt, ja ich stellte mir mein Schicksal nach meinem eigenen Hinsterben nicht anders vor, aber für ihn ... ihm glich eben nichts in meinem Herzen. Wir beide, Mutter und ich, kamen nun zu gleicher Zeit auf den gleichen Gedanken, Ordnung zu machen. Sie hatte das Bett abgedeckt, die Matratzen auf die Kante gestellt, die Leinentücher in einen Bottich mit scharfer Lauge getan, einige kleinere Wäschestücke zu verbrennen gesucht ... Ich machte Ordnung in seinem Nachtkästchen. Hier fand ich eine Streichholzschachtel, die ich schon zum Fenster herauswerfen wollte, als ich merkte, wie schwer und gewichtig sie war, ich öffnete sie, nicht ohne Mühe, denn sie war vollgestopft mit allen seinen Ringen, die er noch am letzten Abend von seinen Fingern abgezogen hatte, wo er sie trotz der Schwellung und Entzündung infolge der Pocken solange anbehalten hatte. Hier begann das unselige Rätselraten, das jedes Hinscheiden begleitet, das uns nicht mehr zur Ruhe kommen läßt. Hatte er seinen Tod vorhergesehen und wollte er nicht, daß die kostbaren Ringe ihm in die schwarze Erde mitgegeben wurden? Wollte er, daß meine Mutter oder ich diese Ringe später tragen sollten, oder sollten wir sie zu Geld machen, wenn unsere Lage einmal schwierig werden sollte? Der Arzt hatte einmal einen bewundernden Blick auf einen bläulich schimmernden, großen Solitär geworfen. War dieser Ring bestimmt zu einem Geschenk für ihn, als Dank für seinen Zuspruch, für seine gut gemeinte, wenn auch vergebliche Hilfe? ... So grübelten meine Mutter und ich unter der Lampe, an die jetzt, in später, schwüler Nachtstunde, als es träge, träge gegen Morgen ging, ein paar dumme Falter mit dicken pelzigen Flügeln anstießen. Die Ringe wanderten aus einer Hand in die andere. Wir hatten einander nichts zu sagen. Wir taten etwas Unsinniges, wir probierten nämlich die Ringe einer dem anderen an, aber keinem paßten sie und schließlich blieben sie auf dem Tisch liegen, auf den von der heißen Lampe herab die verbrannten Körper der Nachtfalter hinabfielen ... Ich ging in mein Zimmer, meine Mutter in den Salon. Ich wälzte mich in qualvoller Unruhe umher. Plötzlich ertönte ein dumpfer Knall, der Schuß einer Pistole. Ich sprang auf, stürzte in das Zimmer, zu meiner Mutter, und sie, in schlotterndem Nachtkleid, die Haare in zerrauften schwarzen aufgerollten Locken auf den Schultern, prallte mit mir zusammen. Der Schuß? Der Selbstmord, den jeder vom anderen gefürchtet hatte? Mein Vater hatte einen Revolver besessen, vielleicht hatte er ihn in der Befürchtung bei sich getragen, der Mann seiner Geliebten könne ihn einmal tätlich angreifen. Wir wußten schon lange, daß er eine Waffe besaß, ahnten aber damals noch nicht, wozu ... Und wußte ich es denn jetzt? Sie lag jetzt, in einen bunten Seidenfoulard eingewickelt, ruhig in der Schublade des Schreibtisches. Der Knall aber rührte von der Sektflasche her, aus der mein armer Vater noch am letzten Abend ein paar Tropfen getrunken hatte. In der Hitze der Nacht hatte der Druck den Stöpsel herausgetrieben ... War auch dies kein Hohn, kein hämischer Zug des weltbeherrschenden Verderbers, des Satans? So war es eben ein kleines physikalisches Experiment, eine winzige Probe der Naturkräfte und ihres Effektes auf verstörte Gemüter ... Ein Gutes hatte es: meine Mutter, zusammenbrechend, warf sich schluchzend in meine Arme. Ich nahm sie auf. Ich redete ihr zu. Ich tröstete sie. Gut tröstete ich sie. Ich war unglücklicher als sie. Ich hatte alles verloren. Sie nur ihren Mann. Aber gerade das gab mir die Kraft, sie aufzurichten, gerade das mußte ihr wohltun, daß jemand in diesem Zimmer war, der noch unglücklicher war als sie, und der sich nicht vorstellen konnte, wie weiterleben.


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