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10.

Als ich mich zu dem Platz begab, wo ich mich mit Lily treffen sollte, kam mir der gestrige Abend und das Abendessen, das meine Mutter mit einer gewissen Feierlichkeit vorbereitet hatte, in Erinnerung. Am meisten war mir aufgefallen, daß sie statt der alten guten Lampe eine große Kerze, wie man sie sonst nur in den Kirchen verwendet, in einen silbernen Leuchter gestellt und angezündet hatte. Ich war, müde von dem Ausflug, früher vom Tisch aufgestanden als sie. Sie hatte den Kopf zwischen die Hände gestützt, dann schrak sie empor und fuhr mit den Fingern wie spielend durch die Flamme, die vor ihr auszuweichen schien. Nachher hörte ich sie leise zum Fenster treten. Offenbar muß sie vergessen haben, die Kerze auszulöschen. Als ich morgens das Zimmer betrat, war diese nicht weit vom Ende. Warum dachte ich auf dem Weg zu Lily (oder soll ich sie lieber Fine nennen?) an meine Mutter und nicht an sie?

Je länger ich daran dachte, desto lieber wurde mir der Name Fine, er hatte etwas Jungfräuliches, Unberührtes, Herbes, da sie ihn getragen hatte, bevor sie das Theater, das Handschuhgeschäft und die älteren Männer gekannt hatte.

Sie war früher da als ich. Stotternd schlug ich ihr vor, ich wolle sie besuchen. Aber sie errötete, murmelte etwas von vielen Treppen, die wir zu steigen hätten, von ›Verwandten und Kindern‹; die uns stören würden. Ich war schon im Begriffe, mit ihr in den Park zu gehen, als sie mich am Arm nahm und ohne etwas zu sagen in jenes ärmliche, dicht bewohnte Stadtviertel führte, in dessen Nähe wir unseren Grundbesitz, den ›Friedhof‹ hatten. In einer engen Gasse machte sie Halt. Ich dachte, eine Freundin von ihr wohne da. Sie kramte in ihrem Täschchen, dann trat sie in einen Tabakladen ein und kam mit einem Päckchen zurück. Ich war in einen Hauseingang getreten, um die Photographien eines Vorstadtphotographen anzusehen, als sie schon auf der Straße stand und mich mit einem verlorenen, verzweifelnden Ausdruck in den großen, dunkel umränderten Augen suchte. Ich kam zu ihr, gab ihr den Arm und wollte mit ihr weitergehen, aber sie hielt mich zurück, zeigte mir ein Haus gegenüber dem Photographenfenster und sagte: »Laß mich vorausgehen, komme mir aber gleich nach.«

Es war, wie ein verrostetes, vom Winde geschaukeltes Schild besagte, ein Hotel garni ›Zum güldnen Pferd‹. Ein springendes dickes Pferd, von goldenen Buchstaben umgeben, war auf dem Schild zu sehen. Ich kam ihr also nach. Ich wußte nicht, war es zu früh oder zu spät, auf der Treppe stieß ich mit ihr und einem Kellner in Hemdärmeln zusammen, stieg allein die ziemlich sauberen, nach Kalkanstrich und Hafer riechenden Treppen hinauf, und wartete auf sie in einem hellen Korridor, in dem sich an den Wänden einige ausgestopfte Vögel, Falken und Uhus, befanden. Jetzt eilte sie mir atemlos nach. Sie hatte einen Schlüssel in der Hand und fand ohne Zögern das Zimmer, dessen Nummer auf dem Schlüssel stand. Wir traten ein. Das Zimmer war groß und kahl, es ging auf Ställe hinaus, man sah blechgedeckte Schuppen, kleine Gemüsegärten und Ziehbrunnen und viele hohe Fabrikschornsteine.

In einer Aschenschale auf dem mit einer dunkelgelben Tischdecke geschmückten dreibeinigen Tisch lagen noch zwei Zigarettenreste, und vor dem bereits aufgedeckten Bett, auf dem Bettvorleger aus Ziegenfell sah ich etwas Silbriges glitzern, es war Silberpapier, in welches wohl Bonbons eingewickelt gewesen waren. Lily hatte sich auf das sehr niedrige, abgeschabte Plüschsofa gesetzt und hatte eine Zigarette angeraucht. Als auch sie die Bonbonhüllen bemerkte, lächelte sie kindlich und sah mich an, als wolle sie mich um Verzeihung bitten, daß sie nur an sich gedacht und Zigaretten für sich gekauft, Bonbons für mich aber vergessen hatte. Aber bevor die Zigarette zur Hälfte geraucht war, warf sie sie auf den Boden, wo sie weiterschwelte, und wischte sich zuerst mit dem Handrücken, dann mit einem stark parfümierten Taschentuch die Lippen ab, als fürchte sie, der Tabakgeruch könnte mich stören. Das Fenster war offen, aus den Ställen drang das dumpfe Geräusch der sich in engem Raum träge bewegenden Pferde, wie oft im Sommer, wenn sie gegen ihren Willen in den heißen Ställen sind. Die Zigarette brannte zu unseren Füßen weiter, sie bückte sich, um sie auszulöschen. Plötzlich war sie auf den Boden hinabgesunken, ihre Arme hatte sie um meine Beine geschlungen, als wolle sie mich festhalten, sich auf mich stützen. Sie kniete jetzt, die seidenen, breiten Röcke ausgebreitet um sich, und die fast neuen Sohlen ihrer kleinen Lackschuhe schimmerten hell.

Ich stand vor ihr und hielt ihre beiden Hände. Sie drängte jetzt ihren Kopf, von dem der Hut abgefallen war, zwischen meine Knöchel und dann höher an meine Knie. Ich spürte durch meine leichten Kleidungsstücke hindurch die etwas feuchte aber starke Wärme ihrer Lippen. Ab und zu blickte sie zu mir auf, und in ihren dunklen Augen sah ich Angst und Unruhe, als täte sie etwas Verbotenes zum erstenmal. Ich verstand sie nicht und wußte nicht, was sie zu meinen Füßen wollte. Mich überlief es glühend heiß, am liebsten wäre ich geflohen, es war mir, als hätte sie eine Kerze brennend an meine Knie und an meinen Körper gehalten. Plötzlich entsann ich mich der Kerze von gestern abend. Es war die Totenkerze für ihn, gestern war der Jahrestag seines Todes gewesen, und meine Mutter hatte daran gedacht. Ich hatte ihn vergessen.

Ich zog Lily an den Händen zu mir empor, ich wollte ihren Mund und ihren bloßen Hals, an dem die Adern unter der perlmutternen Haut anschwollen und pulsierten, mit Küssen bedecken, ja mit noch stärkeren, tiefer greifenden, mir noch unbekannten Liebkosungen mich mit ihr vereinigen, als sie sich freimachte und mir, sich vollends aufrichtend und das Haar von den Augen forthebend, sagte, ich solle es ein wenig dunkel machen im Zimmer. Dies verstand ich endlich. Denn ich hatte mir immer vorgestellt, daß sich mir eine Frau erst in der Nacht und bei Dunkelheit hingeben würde. Aber bevor ich beim Fenster angelangt war, war sie mir nachgekommen und hatte meinen Nacken und Hals mit scharfen beißenden Küssen überschwemmt. Dann stieß sie mich von sich, und ich ging taumelnd, wie geblendet, zum Fenster.


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