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12.

Seitdem ich mit meinem Reifezeugnis heimgekommen war, hatte ich gefürchtet, meine Mutter würde mich nun fragen, welche Pläne ich hätte. Ich war mir jetzt nur über eines klar geworden, ich wollte frei sein. Ich wollte mich von ihr trennen, ich wollte nie mehr hierher zurückkommen, um hier, innerhalb meiner Familie und für sie, zu leben. Natürlich machte ich mir Sorgen, wovon ich existieren und wie ich mein geistiges und leibliches Brot erwerben sollte. Es waren gerade diese Fragen, die meine Mutter begriff, und die sie nun endlich, am Abend des Tages mit Lily-Fine mit mir ordnen wollte. Wir hatten alle vier zu Abend gegessen, das heißt, zuerst hatte Postillion, den meine Mutter noch nährte, in ihrem Schlafzimmer die Brust bekommen, dann hatte Marthy für meine Mutter und mich aufgetragen. Sie war jetzt aber nicht mehr zu bewegen, mit uns zu essen. Nicht aus Demut! Im Gegenteil. Bei den Portiersleuten, die ihre Vertrauten waren, hatte sie gesagt, sie sei zu stolz, um von Habenichtsen und ›Schöngeistern‹ – (das letztere sollte ich sein, bei dem sie die Begriffe schön und Geist auf dumme Weise durcheinanderbrachte) – an deren Tisch geduldet zu werden und zu essen, was abfiel und was im Grunde von ihren Sparpfennigen bezahlt sei.

Aber an ihrer Treue war deshalb nicht zu zweifeln, ihre Anhänglichkeit an meine Mutter und meinen Bruder spielte sogar eine Hauptrolle in dem nebelhaften Lebensplan, den ich mir zurechtgemacht hatte. Sie aß also in der Küche, unaufhörlich aufstehend und etwas besorgend, denn Ruhe war ihre Sache nicht. So lief sie an diesem Abend wohl zehnmal an den Herd, wo in einem großen Eimer das Badewasser für mein Brüderchen warm gemacht wurde. Ein Thermometer verabscheute sie von ganzem Herzen. Andererseits wußte sie, daß ihre Hände von der Küchenarbeit so abgehärtet waren, daß sie warm von heiß nicht mehr sicher unterscheiden konnten. Das Wasser mußte aber doch die richtige Temperatur haben, 24 Grad. Und hatte sie. Wie es die alte Magd einrichtete, war ihr Geheimnis.

Das Brüderchen hatte nach den ersten Monaten etwas gekrümmte, an den Gelenken angeschwollene Glieder bekommen. Meine Mutter hielt es für den Beginn der englischen Krankheit. Aber Marthy, die nie ein Kind gehabt hatte, verstand nicht nur die Krankheit, sondern kam auch auf eine Heilmethode, und zwar keine schlechte. Sie deckte den Säugling tagsüber möglichst oft auf, stellte die Wiege in die Sonne, ja selbst im Park setzte sie den Körper Leopolds, unbekümmert um die entrüsteten Blicke der anderen Kindermädchen und einiger älterer Damen, der prallen Sonne aus, so daß unser Postillion jetzt gebräunt war fast wie ein Negerkind. Nur die großen blauen ›verlorenen‹ Augen paßten nicht dazu. Aber die Glieder waren fast ganz gerade geworden. Das sollte aber nicht einzig und allein die Wirkung der Sonnenstrahlen sein, sondern auch die eines etwas grausamen Mittels. Sie zog nämlich dem Kind, dem diese Prozedur anfangs nicht sehr wohl tat, die Beinchen mit aller Kraft gerade, indem sie seine Füßchen in ihre Achselhöhle klemmte und mit beiden Händen an dem Körper zerrte. Meine Mutter hatte es ihr verboten. Ich hatte sie gebeten, es zu unterlassen, sie versprach es. Sie weinte sogar. Sie tat es aber doch und zwar so geschickt, daß das Kind dabei nicht mehr schrie.

Ich hatte bemerkt, daß sie sich des Irispuders, der einst meinem Vater gehört hatte, bemächtigt hatte, um das Kind nach dem Bade einzupudern. Auch hier sagte ich nein. Aber sie tat es dennoch, und meine Mutter, der ich alles erzählte, wollte oder konnte meinen Widerstand, meine Empörung, nicht begreifen, sie fand es praktisch, denn auf diese Weise kam der teure Puder zu Ehren, denn wer sonst hätte ihn bei uns verwenden sollen?

Ich war es, der sie nicht verstand. Ich verstand sie ebensowenig, wenn sie aus irgendeinem Widerstand gegen die Weltordnung und aus Trotz gegen den himmlischen Vater, an den sie felsenfest glaubte, die Taufe des Kindes hinausschob oder unterließ. Dieser Umstand war im Haus bekannt, und selbst im Park tuschelten die Leute von dem ›Heidenkind‹, das nackt und braun umhergetragen würde und das man nicht taufen wolle.

Etwas Heidnisches lag vielleicht auch in dem Totendienst, den sie gestern mit der großen dicken Kerze vorgenommen hatte, denn in katholischem Land kennt man zwar bezahlte Totenmessen, die zu den Jahrestagen ministriert, gelesen werden, und man läßt eine oder viele Kerzen anzünden zum ewigen Gedächtnis des armen Sünders und zur demütigen Fürbitte bei der hl. Jungfrau, aber diese Kerzen brennen nicht in einem Speisezimmer, selbst wenn dieses zur Erhöhung der Feierlichkeit die guten alten Samtmöbel ohne die nüchternen Staubhüllen zeigt, sondern am Altar.

Meine Mutter gab nun das Kind Marthy, die in ihrer alten, mit Pferdchen und gekreuzten Peitschen bedruckten, blauen Wachstuchschürze an der Tür erschien, zurück, dann schälte sie mir einige Birnen, die ersten in diesem Jahr, die aber noch so hart und körnig waren, daß das Messer in ihnen knirschte.

Nun begann sie, wie um meinen Rat zu hören, über Anninka zu klagen, meine Schwester, über die aus dem Konvikt nicht die günstigsten Nachrichten kamen. Anninka war zwar eine gute Schülerin, ihre Schönheit entwickelte sich – (in einer Umgebung, wo sie fast sündhaft wirkte) – in der letzten Zeit zum Erstaunen, aber sie zeigte eine Eigenschaft, welche sie zum friedlichen Zusammenleben in einer ›Regel‹ zur dauernden und opferwillig geübten Demut im Klosterkonvikt nicht sehr geeignet machte. Sie war nämlich, wie es hieß, herrschsüchtig über die Maßen, hatte tyrannisch alle ihre Zimmerkolleginnen zu ihren Sklavinnen gemacht, so daß sie ihr, und nicht der Schwester Aufseherin gehorchten. Als man Anninka in einen anderen Saal unter viel größere Kinder gebracht hatte, wiederholte sich diese sonderbare Unterwerfung. Anninka schien sich, obgleich sie es bescheiden abstritt, ihrer Macht über die jungen Geschöpfe bewußt zu werden, sie numerierte sie, je nach der Gnade, die sie in ihren Augen gefunden hatten, und die Eifersuchtsszenen zwischen den halbwüchsigen Geschöpfen um Anninkas Gunst wurden so leidenschaftlich, daß die ehrwürdige Oberin meine Mutter hatte zu sich rufen lassen.

Man konnte Anninka keine Schuld nachweisen, sie hatte die Klosterschülerinnen weder zu etwas Unrechtem angeleitet, noch irgend etwas Verbotenes mit ihnen vorgenommen, sie sagte, ihr sei die Anhimmelei sogar lästig, und sie sei damit einverstanden, wenn man sie unter die ganz Kleinen versetze, wenigstens über Nacht. Die Oberin hatte dies meiner Mutter mitgeteilt.


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