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18.

[Kapitelnummer von 19. auf 18. geändert. Re.]

Der Tag der späten Leichenfeier rückte näher, die Verwandten von beiden Seiten kündigten sich an, und für einen Nachmittag Anfang September bestellte meine Mutter einige Wagen, um zum Friedhof hinauszufahren, und entwarf die Ordnung: Ich, an ihrer linken Seite, im ersten Wagen auf dem Rücksitz, auf den Vorderplätzen meine Schwester und ein naher Verwandter meiner Mutter, ein hoher Konsulatsbeamter. Der Großvater, abweisend und alt, kam nicht. Als die Verwandten, alle in Schwarz, bei uns versammelt waren und ebenso der Schustermeister, sein Nachfolger, seine früheren Angestellten (ohne Peters allerdings), seine vielen Freunde, und als sie mir und der ganz verschüchterten, verweinten Anninka der Reihe nach die Hand drückten, war es mir, als könne auch ich endlich weinen, die Tränen waren mir ganz nahe, aber mein Schmerz verwandelte sich in bitterste Wut, als, mit Absicht verspätet, meine Mutter aus ihrem Zimmer kam, in einem alten hellen Kleid statt in dem neuen schwarzen, das sie doch eigens für die Trauerfeier sich hatte machen lassen. So wollte sie allen kundtun, was nur zwischen ihr und ihm hätte bleiben müssen. Allen erzählte sie, (während unten die vielen Pferde wie im Takt schon ungeduldig auf das Pflaster klopften), daß mein Vater einer von den unbelehrbaren Impfgegnern gewesen sei, daß er sich seinen Tod selbst habe zuschreiben müssen, ja, daß der Tod vielleicht eine gerechte Sühne gewesen sei für etwas, das sie lieber verschweige, weil es unter ihrer und ihrer Kinder Würde sei! Sie wollte fest und ruhig erscheinen. Ich glaube, es gelang ihr nicht. Aber die Verwandten, selbst die von ihrer Seite, die ihre Ehe mit dem jungen hübschen Schuhmachermeister seinerzeit nicht gebilligt hatten, wandten sich beschämt und entsetzt ab. Sie wollte diese Wirkung ihrer Worte nicht sehen, sondern ging mit starrem Lächeln, das Tablett mit Weingläsern über ihrem hohen Leibe, mit Marthy von einem Trauergast zum anderen. Auch der Arzt, der Notar, der Geistliche und noch eine Menge alter Freunde meines Vaters waren gekommen. Sie drängten einander im engen Raum, sprachen laut, tranken ruhig und unterhielten sich von allem, nur nicht von ihm. Meine Tränen, oder meine Sehnsucht zu weinen war längst versiegt. Ich weigerte mich nur, bescheiden und leise, aber fest entschlossen, an ihrer Seite vor das Grab des von mir am meisten geliebten Menschen zu treten, ich blieb allein in der Wohnung zurück. Ich wußte, daß nachher bei dem Verwandten meiner Mutter in seinem Hotelzimmer ein Familienrat abgehalten werden sollte, bei dem man über die Zukunft von uns allen, über meinen Beruf, mein Studium, unsere Vermögensverhältnisse beraten wollte. Ich blieb ihm fern. Ich wollte lieber jede, auch eine mir ungünstige Entscheidung auf mich nehmen, als daß ich dabei war, wenn vielleicht in Gegenwart fremder Leute über meinen armen Vater und seine Handlungen geurteilt wurde. Meine Mutter zwang mich zu nichts. Sie kam spät heim, meine Schwester und die treue Marthy hatte sie schon früher heimgesandt. Ihre Augen glänzten, ihr Atem roch diskret nach Wein. »Sieh mich nur an«, rief sie mir mit ihrer spöttischen Stimme zu, »ein Schwipserl, kann ich es nicht auch?« Dieser höhnische Zuruf bezog sich auf eine Stelle in einem der Liebesbriefe, in welchem eine Dame meinem Vater vorwarf, er habe sie in einem etwas unfreiwilligen, kleinen Rausch, einem ›Schwipserl‹, gewonnen. Mir verzerrte sich der Mund, ich konnte nicht antworten, ich schwieg und ging. Meine Mutter kam mir ins Schlafzimmer nach, sie zog mir den Kopf aus den Kissen, sie setzte sich auf den Bettrand; aber jetzt schwieg sie endlich. Nach langer Zeit sagte sie mit ihrer alten, mir vertrauten Stimme: »Verstehst du mich denn nicht? Liebst du mich denn nicht?« Ich nickte schwach. »Steht es nicht in allen Büchern, daß einem Sohn die Mutterliebe über alles geht?« fuhr sie fort. »Du hast mich doch, ich liebe dich viel mehr als ihn, und du mich auch!« Ich konnte ihr darauf keine Antwort geben. »Du sollst, darauf haben wir uns geeinigt, deine Prüfung am Gymnasium im Herbst ablegen«, sagte sie. »Für dich habe ich mit etwas Geld vorgesorgt. Von seinem Geld? Nein. Es ist nichts mehr da. Alles liegt in Trümmern. Aber daran denke jetzt nicht. Ich bin ja da. Ich will alles Erdenkliche für meine Kinder« (so waren wir nun wirklich nur mehr die ihren!) »tun. Ich habe bei mir beschlossen, meinen alten Beruf aufzunehmen, ich werde wieder Lehrerin, sobald das Kind zur Welt ist, hoffentlich bald! So werde ich wieder Lebenszweck haben und froh werden.« Ich schüttelte den Kopf. »Was soll aber aus dir werden? Sieh mich an! Was willst du werden?« fragte sie. »Ich weiß es nicht«, antwortete ich. »Man kann aber nicht so dahintrödeln und nur das Vergangene beseufzen, du mußt dich im Lebenskampf stellen, das ist keinem erspart. Du bist jung! Wäre ich doch auch noch jung! Aber ich lebe doch noch!« »Das alles weiß ich«, sagte ich. Sie wollte weiter von meinem Beruf, von meinen Plänen sprechen, da bemerkte sie auf der Platte des Nachtkästchens seine goldene Uhr, die auf einem Samtkissen lag und sorgfältig täglich von mir aufgezogen wurde. Sie nahm sie etwas unvorsichtig hoch, und ließ sie an der Kette ungeschickt an ihr Ohr baumeln, hin und her. Das konnte ich nicht ertragen. Es war mir, als ob sie an ihm rühre und so nahm ich ihr die Uhr wieder fort und legte sie unter mein Kissen.

Sie rückte ab, verschränkte die Hände im Schoß und sagte, mehr für sich als für mich: »So hat mir dieser Dieb auch meinen Sohn gestohlen!« Dann, als begreife sie das Ungeheuerliche, verbesserte sie sich: »Nicht Dieb, aber Unmensch! Oder nur Mensch, aber zu sehr Mensch. Nicht schlecht! Nur zu sinnlich und schwach!« Das war also die Note, die sie ihm in ihrer Schule gab! Sie strich an ihrem hohen Leib herab, dessen Linien in dem hellblauen Seidenkleid besonders stark hervortraten, und sagte dann aufstehend: »Ich habe immer gedacht, daß ich meine Pflicht getan habe, voll und ganz, wie es heißt, ist denn das nicht genug?« (Das war die Note, die sie sich selbst gab.) »Hat er sich denn nicht an dir versündigt? Was sind wir alle ihm gewesen? Wo steht dein Name in allen den Briefen?« Ich antwortete nicht, sondern stand auf und ging in das Nebenzimmer, wo meine Schwester, noch in ihrem schwarzen Kleide, auf das ihre hellblonden Locken fielen, mit ihrer zu großen blauen Schürze bei einer Handarbeit sehr bedrückt dasaß, und neben ihr Marthy, die jetzt fast immer bei uns war. Auch ich nahm meine Arbeit vor.

Mitte September trat ich zu der Prüfung an, meine Professoren hielten sie für eine Formsache, da ich vorher dank meines Gedächtnisses und meiner leichten und klaren Auffassung einer der besseren Schüler gewesen war. Jetzt aber versagte ich vollständig und trotz ihrem Wohlwollen, (alle wußten ja von unserem Unglück) bestand ich die Prüfung nicht. Dummerweise stolperte ich in der Mathematik über den binomischen Lehrsatz, eine leichte Frage, aber ich versagte genau so in allen anderen Fächern. Ich berichtete es abends meiner Mutter, sie war ebenso entsetzt und ebenso ratlos wie ich. Ihre Ratschläge: Nimm doch deinen Willen zusammen, raffe dich auf! waren für mich nichts als Worte gewesen. »Das alles ist er! Siehst du es endlich ein?« sagte sie und blickte mich von unten herauf an.

Ich liebte ihn mehr als je zuvor, abgöttisch. Er beherrschte mich, er verfolgte mich, oft mit süßen und alles erlösenden, und oft mit unerträglich bitterem Zauber, – je nach den Erinnerungen – bei Tag und bei Nacht ... Ich antwortete jetzt meiner Mutter unbillig und scharf, sie versuchte mich zu strafen, konnte aber nichts ausrichten. Meine Schwester erschrak bei diesem Kampf und bekam Weinkrämpfe, wir konnten sie nicht beruhigen. Meine Mutter hörte nicht auf mit ihrem Tun und Leiden so wenig wie ich. Anninka wollte nicht mehr bei uns bleiben und wollte in die Klosterschule zurück. Zu allem anderen kündigte Marthy uns endlich den Dienst auf, sie wollte ihren Schatz heiraten, trotz den Warnungen meiner Mutter.


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