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10.

Mein Vater schien zu ahnen, daß wir ihm während seiner angeblichen Reise hier begegnet waren. Ich beruhigte ihn durch eine Reihe von Lügen. Er hätte merken müssen, wie schwer sie mir fielen, weil ihnen die Logik, die Notwendigkeit fehlte, aber er wollte ja nur beruhigt sein. Wie zur Belohnung erzählte er mir, im Vertrauen, als Mann dem Mann, von seinen prachtvollen, aber halsbrecherischen Geschäften. Die Zahlen, die er nannte, kamen selbst mir unwahrscheinlich vor. Wenn es nach Gerechtigkeit gegangen wäre, hätte ich auf der Seite meiner Mutter stehen müssen und auf der Seite aller Armen. Aber ich liebte ihn ja. Ich versuchte ihn nicht zu beurteilen. Ich wollte ihn so wie er war. Wenn Gott ihn noch einmal neu hätte schaffen können, hätte er an ihm kein Haar anders wachsen lassen sollen, als es jetzt über seiner hohen leuchtenden Stirn stand. Ohne Worte verstanden wir uns. Ich war glücklich. Ich fühlte, ich war dazu geboren, glücklich mit ihm zu sein, ich brauchte keine Schwester, keine Mutter, keinen Freund und Kameraden, kein anderes Ziel im Leben.

Ich versuchte, ihm zart anzudeuten, wie er ein unliebes Zusammentreffen nächstesmal vermeiden könnte. Er verstand die Andeutungen nicht. Ich schämte mich. Ich war wohl in der Kunst der Lüge zu unbeholfen. Aber er fühlte, daß ich ihm sein Leben erleichtern wollte. Wir saßen am Tisch und spielten eine Schachpartie. Er spielte so zerstreut, daß ich sehr im Vorteil war gegen ihn, vielleicht zwei bis drei Züge vor dem Schachmatt. Plötzlich stand er auf. Er faßte nach meinem Haar, das seit dem Besuch beim Frisör wieder gewaltig nachgewachsen war, und zwirbelte an meinem Hinterkopf ein kleines Zöpfchen heraus, flocht es so fest, daß es mächtig schmerzte, wenn etwas hätte schmerzen können, das von ihm kam. Er tat es ganz zerstreut, mit verlorenem Blick. So liebte ich ihn am meisten. Vielleicht wollte er sich mir anvertrauen. Aber er brachte es nicht über sich. Ich schob die Figuren zur Erde, wie aus Ungeschicklichkeit: »Du bist noch zu jung«, sagte er. »In deinem Alter ist man noch streng. Ich brauche das alles nicht so sehr für mich. Es ist für euch, für eure Zukunft! Vielleicht muß ich wirklich bald wieder verreisen, nach Czernowitz, nach Agram.«

Er hatte ein Kämmchen aus Gold herausgeholt und kämmte mir jetzt das Haar wieder zurecht. Eben trat meine Mutter ein. Das Kämmchen war neu, sie hätte nie etwas derartig Niedliches gekauft! So wenig wie ich. Ich faßte flink danach und ließ es in meiner Tasche verschwinden. Er errötete. So hatte er endlich doch erfaßt, daß ich hinter seine Geheimnisse gekommen war. Er sah mich an. Ich schüttelte den Kopf. Aber gerade dies bewies ihm, daß wir alles wußten. Jetzt trieb es ihn, in seinem bösen Gewissen, auf dieser Reise nach Ungarn zu bestehen, von der wir ihm alle abrieten, denn in diesem Lande sollten die Pocken neuerlich furchtbar hausen. Anders als hier! Aber er, der unlängst eine Reise vorgespiegelt hatte, um mit einer Dame einige Tage allein zu sein, hielt nun krampfhaft an der neuen gefährlichen Reise fest, um uns seine Schuldlosigkeit zu beweisen. Und niemand hatte ihn angeklagt, niemand hatte ja auch nur geklagt! Er mußte mit ihr ungewöhnlich glücklich oder furchtbar unglücklich sein, denn in der letzten Zeit hatten seine Züge, die nun ohne den alles verbergenden Vollbart offen dalagen, etwas höchst Unruhiges, Verzücktes, Verzweifeltes oder Beseligtes bekommen. Er hatte wohl solche Zeiten nie durchlebt – und dachte weniger denn je an die wahre Gefahr. Denn es war vergeblich, daß wir ihn baten, er möge ein Billett für die erste oder zweite Klasse nehmen. Er versprach es zwar. Auf dem Bahnsteig stieg er stolz in die erste Klasse, aber dem Schaffner konnte er statt der grünen Karte nur eine braune vorweisen, und während sich der Zug in Bewegung setzte, sah ich ihn, mit den schweren Gepäckstücken beladen, traurig durch den Verbindungsgang in den überfüllten Wagen dritter Klasse schwanken.

Er kam nach fünf Tagen zurück, verfallen, Ringe um die Augen, Ruß in den Ohren und in den Augenbrauen. Die Schuhbändel waren offen, er schleppte sie nach. Er war zu müde, sich zu bücken, um sie neu zu knüpfen. Er war wie abwesend. Als ich ihm die Schuhe in Ordnung brachte, merkte er es nicht, so verloren saß er da. Ich wollte ihn fragen, ob er sich nicht krank fühlte. Aber als ich zu sprechen begann, zuckte er zusammen. Wo war er in seinen Gedanken gewesen? Er wollte sich nicht ausruhen. Er müsse sofort ins Geschäft. Es war Sonntagabend. Im Geschäft konnten jetzt weder der Buchhalter noch der Schreiber sein. »Aber Post hat sich angesammelt!« stammelte er. Ich wollte widersprechen. Aber meine Mutter winkte mir zu. Wir ließen ihn gehen. Der Kaffee stand noch in seiner Tasse. Meine Mutter bat mich, ihn auszutrinken. Ich konnte es nicht, er schmeckte trotz vier Stück Zucker sehr bitter. – Ich machte mich an die Arbeit.

In kurzer Zeit sollte die Reifeprüfung stattfinden. Vor dem Schlafengehen turnte ich. Dann lehnte ich mich an das offene Fenster und sah hinaus. Es war mir, als ob er und eine ziemlich kleine Dame im Schatten der Häuser hin und her gingen. Aber selbst meine scharfen Augen konnten es nicht genau erkennen.

Nachts erwachte ich von einem sonderbaren Geräusch. Im dunklen Zimmer schwebte etwas sachte surrend hin und her. Ich setzte mich erschreckt im Bette auf. Es war mein Vater, der sich an den Turngeräten versuchte, leise schwang er vor und zurück. Ich dachte, er würde mich sehen, aber er turnte mit dem Gesicht nach dem anderen Zimmer gewandt. Am nächsten Tag sah er wieder viel besser und heiterer aus. Ich atmete auf. Am Spätnachmittag dieses Tages kam ich von der Schule. Vor der Wohnung des Kinder- und Impfarztes sah ich die beiden unschlüssig dastehen, ihn und sie. Auch jetzt sah er lächelnd und verloren vor sich hin, die Hände auf dem Rücken verschränkt. Er hatte keinen Hut auf. Die kleine Dame trug ihm den Hut, fächelte ihn und sprach von unten zu ihm herauf. Es war sehr heiß, der Asphalt war weich, und die Bäume verloren infolge der Hitze ihre ersten Blätter. Jetzt trat er in das Haus, sie wartete unten. Nach kurzer Zeit kam er zurück, holte sich den Hut und ging nochmals die Treppe zum Arzt empor. Offenbar wollte er sie nicht den Hut halten lassen. Mich durchzuckte ein bitteres und doch wollustvolles Gefühl. (Es konnte nicht anders als süß sein bei allem Gift, da es doch von ihm kam.) Es war die Eifersucht. Ihr war gelungen, was uns, meiner Mutter und mir, stets mißlungen war, ihn zum Impfen in dieser verpesteten Zeit zu – zwingen. Aber ich verbiß mein empörtes Gefühl sehr schnell. Ich ging an ihr vorbei, grüßte sie, indem ich tief den Hut zog. Sie war jung, aber nicht mehr ganz jung. Sie war sehr hübsch, eher niedlich als imposant, schlank und doch voll. Sie dankte nicht. Als ich vorbei war und mich umwandte, sah ich, wie sie die Krempe ihres Florentinerhutes etwas hob, und das dunkle Feuer ihrer großen Augen entging mir nicht. Ich war aber nicht sicher, ob es die gleiche Dame war, mit der wir, meine Mutter und ich, ihn früher einmal vor dem Juwelenladen gesehen hatten, ich wollte nicht darüber nachdenken.


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