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20.

Ich mußte mich jetzt mit Wien in Verbindung setzen. Wen sollte ich zuerst anrufen? Den Professor Laibacher? Das Sanatorium? Vielleicht gar Karla, deren Namen als verheiratete Frau ich kannte und die mir einen letzten Liebesdienst vielleicht nicht abschlagen würde? Aber wozu das Vergangene noch einmal aufrühren?

Ich hatte Freunde in Wien, einen ganzen und zwei halbe, nämlich Maxi, Karl und Wharf. An Maxi denken, hieß sich für ihn entscheiden. Er war derjenige Mensch, der mir am meisten vertraute und dem ich am meisten vertraute. Er wußte alles von mir (meine Vermögensverhältnisse ausgenommen), er war frei von unnützer Neugierde (Wharf), frei von trüben Leidenschaften und Instinkten (Karl), er hatte mir bis jetzt nichts als Gutes und vor allem nur Angenehmes erwiesen. Im letzten Augenblick, als ich dem Beamten am Schalter schon die Nummer des Cercle hippique geben wollte, wo um diese Zeit Maxi fast immer zu treffen war, (es war noch nicht zehn Uhr abends), stieg doch etwas Mißtrauen in mir auf. Sah ich den lieben braungebrannten Jungen mit der wüsten Habichtsnase in der Berglandschaft des toten Gebirges, wie er vor der von mir geschossenen Gemse kniete, als wäre es die seine?

Ich schämte mich. Ich sage offen, meines gelungenen Feldzuges gegen meine Mutter als Volksrednerin und Hungerkünstlerin schämte ich mich so wenig, wie sich ein Chirurg, ein Laibacher, der Wunde schämt, die er in einem kranken Körper gesetzt hat, um ihn zu retten. Es mußte sein. Das Leben stand auf dem Spiel. Die Einwilligung meiner Mutter zu einer gütlichen Lösung des Konfliktes, in welchen sie alle möglichen Umstände hineingeführt hatten, war nicht zu erreichen. Mochten andere über mich aburteilen, ich fiel mir nicht in den Rücken. Ich traute mir, ich sagte Ja und Amen zu mir. Aber warum schämte ich mich des Mißtrauens meinem besten Freunde gegenüber? Regte sich, meinem Willen und Entschluß zu Trotz, eine Besitzgier im Blute, wie ich sie auf dem von der Abendsonne erhitzten Kalkgestein des toten Gebirges angesichts des noch zuckenden, fleischwarmen Wildes empfunden hatte?

Ich trat zum Schalter zurück und gab die Nummer des Clubs an. Man meldete sich dort innerhalb weniger Minuten, ich ließ Maxi an den Apparat rufen, sagte ihm ganz kurz, was hier vorgefallen war, und dankte ihm, daß er mich zu der Reise bestimmt hatte. Als er mir antworten wollte, (wahrscheinlich, um mir Glück zu wünschen, daß ich dadurch auch Alexandra entgangen war), fiel ich ihm ins Wort und bat ihn um einen großen Freundesdienst. Er solle ohne Zögern in das Sanatorium fahren, sich erkundigen, wie die Operation ausgefallen war. Er solle mit Geld dem Pflegepersonal gegenüber nicht sparen, aber kein Geld für Blumen ausgeben, da Alexandra sie nicht liebte. Falls Alexandra noch nicht schläft, die Mutter herausrufen lassen und sie fragen, ob Alexandra ihn als meinen Freund empfangen könne auf einen Augenblick. Wenn sie schläft oder sehr leidet, (wie krampfte sich mir das Herz zusammen bei diesem Gedanken!), sollte er aber morgen so früh wie möglich wiederkommen. Wenn irgend möglich, sich persönlich sofort davon überzeugen, ob die Klingel in ihrem Zimmer funktioniert und ob die wachehaltende Schwester beim ersten Signal zu ihr kommt. Auf jeden Fall mir spätestens morgen früh telegraphisch Nachricht geben. Sollte Gefahr im Verzuge sein, aber noch heute nacht.

Er hörte geduldig alles an, ließ sich den Namen wiederholen, und sogar vorbuchstabieren, indem er über die Möglichkeit einer Verwechslung scherzte. Wenn ein anderer, und sei es selbst meine Mutter, sich in diesem Augenblick solch einen unschuldigen Scherz erlaubt hätte, wäre ich vor Wut krank geworden. Meinem Freunde sah ich es nach, ja ich fand, es sei ein gutes Vorzeichen, daß er an keinen tristen Ausgang dachte. Ich kehrte heim. Von Schlaf war in dieser Nacht so wenig die Rede wie in der letzten, aber ich hatte doch das Gefühl, das Schwerste sei vorüber.

Am nächsten Tage erwartete ich meine Mutter schon am Morgen zurück. Sie kam nicht. Im Hause herrschte beklommene Stille. Mein kleiner Bruder, der doch entfernt nicht alles von dem verstand, was vorgefallen war, bot mir mit trübseligem Gesicht eine kleine Schachtel an mit der Bitte, ich solle sie der Mutter ins Gefängnis bringen. Es waren die den Mittagstischbesuchern geraubten Knöpfe. Ich sagte zu.

Ich ging zum Präsidium, wagte aber nicht, meine Mutter zu besuchen. Ich erfuhr durch meinen Bekannten, daß ein sensationeller Bericht in dem katholischen Blatt erschienen sei. Die sozialistischen Blätter hätten davon Nachricht erhalten, man wisse nicht wie, aber es schien, als ob die Erregung unter der Arbeiterschaft abflaue. Der Hofrat hätte dem Ministerium in Wien die provisorische Freilassung meiner Mutter vorgeschlagen, aber es sei noch keine Antwort aus Wien gekommen.

Ich hätte jetzt um alles in der Welt daheim sein wollen, um das Telegramm Maxis zu bekommen, und meine Pläne dementsprechend einzurichten, ich mußte aber das Befreiungswerk beenden. Hier konnte mir sicherlich der brave Wharf nützen. Ich fuhr zum Hauptpostamt, rief ihn an, gab ihm großmütig alle Einzelheiten, deren Verbreitung ohnedies nicht aufzuhalten war, und bat ihn, unverzüglich beim Minister zu intervenieren. Dann kehrte ich in das Präsidium zurück, der Arzt mußte inzwischen dagewesen sein. Ich erfuhr, daß man ihr Kampferinjektionen (unseligen Angedenkens von meinem Vater her!) gemacht hatte, daß ihre Schwäche zunehme, aber nicht in bedrohlicher Weise. Sie liege da, Schmerzen scheine sie nicht zu empfinden, Anteil an der Umgebung nähme sie nicht, gewaltsame Versuche, sie zu ernähren, hätten kein Ergebnis gehabt, und man unterlasse sie, um sie nicht noch mehr zu schwächen. Ich hatte auf der Zunge zu fragen, ob sie die Blätter schon gelesen habe. Aber ich bezwang mich. Es änderte nichts. Die Schachtel mit Postillions Knöpfen warf ich fort. Auch dies hätte sie nicht wankend gemacht. Wie immer es kam, ich hatte etwas Widerwärtiges, Grausames, aber Notwendiges getan.


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