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33.

Am nächsten Morgen erhielt das Geburtstagskind zu meinen etwas armseligen Geschenken noch bessere und notwendigere von der Mutter, der Schwester und die kostbarsten von Marthy. Dann wollten wir bei dem schönen Frostwetter an die Luft. Die Treppe hinab marschierte der kleine Schelm mit derselben gravitätischen Würde wie gestern abend. Auf der Straße aber wollte er um keinen Preis gehen. Es hieß, er sei noch niemals richtig spazieren gegangen. Ich sah nun, wie er zwischen meiner Mutter und Marthy stand, verzweifelt den Kopf schüttelnd und sein »eine, zweie, viere!« wiederholend, ohne nach diesem guten Takt zu marschieren. Er streckte seine Ärmchen in die Höhe, Marthy faßte rechts, meine Mutter links an, (sie kannten das Spiel, und warteten geduldig), der Junge hielt sich so zwischen den beiden in der Schwebe, sein Gesicht war wieder voll Sonne, und er diktierte jetzt den Erwachsenen den Takt. Man hätte glauben müssen, die Arme würden ihm erlahmen, er würde es bald müde werden, so getragen straßenauf, straßenab geschleppt zu werden. Aber lange bevor er müde wurde, wurden es die beiden Frauen. Meine Mutter deutete mir an, es bliebe nichts übrig, als ein so widerspenstiges Kind durch eine gerechte Strafe eines Besseren zu belehren zu seinem eigenen Glücke, sie hätte mit Absicht und System den Geburtstag, eben den heutigen Tag, abgewartet, um mit dem Strafen zu beginnen. Ich bat meine Mutter, (im Stillen lächelnd des grauen Stäbchens gedenkend, das sie einstmals auf den Handrücken der widerspenstigen Kinder zu deren Glück hatte tanzen lassen), sie solle noch drei, vier Tage warten, denn so lange sollte mein Aufenthalt hier dauern. Sie war sehr damit einverstanden und Marthy noch mehr. Marthy ging hoch aufgerichtet einher. Sie hatte einen etwas verschlissenen Federhut auf dem Kopf, der mir bekannt vorkam, und trug unter ihrem kaffeebraunen Sonntagskleide aus Seide ein von meiner Mutter abgelegtes Korsett. Meine Mutter war groß und schlank wie ich, Marthy gedrungen und etwas dick. Das Korsett reichte ihr vom Halse fast bis zu den Knien, da es aber aus ihr, wie sie glaubte, eine Dame machte, paradierte sie damit voll Stolz und Lust.

Schon am gleichen Nachmittag gelang mir, das Kind dadurch zum Gehen zu bringen, daß ich ihm einen kleinen Wettlauf anbot. Auf eine so einfache Idee waren seine beiden Mütter nie gekommen. Und tatsächlich rannte der kleine Junge aus Leibeskräften, während ich mit trippelnden Schritten knapp hinter ihm blieb, ihm die Ehre und den Sieg gönnend, unter uns Männern!

Meine Schwester meinte nachher sehr vernünftig, man müsse Postillion etwas mehr von den Erwachsenen trennen, zu denen er immer emporsehen mußte, wobei er sich das Hälschen fast ausrenkte, und müsse ihn mit gleichaltrigen Kindern zusammenbringen. Marthy und die Mutter waren dagegen, aber wir jüngeren Menschen setzten es natürlich durch. Anninka holte tags darauf das Kind einer Nachbarin herbei, die ein zweijähriges hübsches Mädchen hatte, das freilich noch nicht sehr solid auf den Beinen war. Was tat es? Postillion marschierte dem Kinde etwas vor, es mit lautem »eine, zweie, viere!« anfeuernd und beim Wackeln und Stolpern ritterlich stützend. Meine Schwester, ihre Freundin und ich gingen zufrieden hinterher.

Anninka bat mich nachher um Rat. Indessen sah ich, ihr Entschluß war bereits gefaßt. Sie wollte Geld verdienen. Meine Mutter ging mehr denn je in dem Hort und in der schwarzgrünen Partei auf. (Oder war sie rotgrün? Mein Gedächtnis, dieser lästige Sklave, ließ etwas nach, und das war gut!) Nun, im Hort gab es zum Beispiel Keuchhusten. Aber Anninka mußte mit ihrer Abreise drohen, um meine Mutter abzuhalten, in den Hort zu gehen, bevor die Seuche erloschen war, die gerade kräftige und blühende Kinder gern überfiel. Marthy jammerte dauernd über die Geringfügigkeit des Wochengeldes. Die Lebensmittelpreise seien im Steigen, etwas müsse geschehen. Vielleicht übertrieb Marthy, die nicht gern sah, daß ihr Anninka ihr Kind abspenstig machte und in ihrem Haushalt die Macht an sich riß. Marthy hätte am liebsten gehabt, Anninka wäre in das Kloster zurückgekehrt. Als dies nicht erfolgte, hatte sie geraten, Anninka sollte schneidern lernen. Aber dazu hatte Anninka kein Talent, genau so wenig wie ich es zum Schustern gehabt hatte. Wem hatte der Liebe seine Wunderhände vererbt, von denen stets alles wie mit Zauberkraft geschafft werden konnte? Man konnte hoffen, auf den Hallodri, den Postillion.

Aber Anninka wollte nicht hoffen, nicht warten, sich nicht stumm in alles fügen, sie wollte handeln und etwas erreichen, wenngleich dieses weltliche Ziel im Vergleiche zu den unendlichen Zielen der Seele im Kloster nur gering sein konnte.

Meine Schwester war unbeschreiblich schön. Ich übertreibe nicht, ihre Schönheit war ein Himmelsgeschenk, das ihr noch nicht viel Glück gebracht hatte. Hatte sie aus diesem Grund Anlage zum Stolz? Wegen dieses Fehlers, obwohl sie ihn mit einer ungeheuren Kraft zu verbergen gelernt hatte, hatte man sie im Kloster in die Küche gesteckt. Aber sie wußte aus allem etwas herauszuholen. Sie kochte nicht nur die herrlichsten Dinge, sondern sie vermochte auch, wie sie sich mit zusammengepreßten Lippen rühmte, ohne den Glanz der Augen unterdrücken zu können, für eine täglich wechselnde Zahl von Personen ›ökonomisch‹ zu kochen, so daß jeder zufrieden die ›Ausspeisung‹ verließ. (Etwas bitter wurde mir nun doch zumute bei dem Worte ökonomisch.) Sie wollte nun in unserer Wohnung einen Mittagstisch, eben die Ausspeisung, für zwanzig bis dreißig Personen einrichten. (Hatte nicht auch der Heiland, freilich nur einmal, etwas Ähnliches getan? Es war kein unfrommes Werk, und es war ein rechtes Werk für eine Frau.) Marthy sollte einkaufen und vorbereiten, servieren und kassieren; sie aber wollte kochen.

Reichtümer waren nicht zu verdienen, aber nach diesen verlangte Anninka nicht, die das Geld verachtete, ohne es zu haben, während ich es doch eher achtete, da ich es nun einmal besaß. Auch waren, wie wir sahen, die Schwierigkeiten nicht gering. Das Speisezimmer mußte geopfert werden. Wir, (das heißt alle ohne mich) waren nicht mehr abgeschlossen in den vier Wänden: Je mehr Gäste, desto besser, mittags, abends, wann immer! Den Postillion mußte man während der Essensstunden abseits halten. Nach der Essenszeit pflegte er zu schlafen, jetzt würden ihn die Gäste stören, die nicht alle zur gleichen Zeit kommen und gehen konnten, die Glocke im Entrée würde dauernd scheppern, die Gäste würden laut sprechen, zanken, rufen, lachen. Dann die Bestecke. Neue Bestecke zu kaufen, dagegen sträubten sich Marthy wie meine Mutter, und gar neue Tischwäsche anzuschaffen, sei heller Wahnsinn, nichts derart sei vonnöten, meinte meine Mutter streng.

Meine Schwester war aber noch strenger. Sie wollte nichts für sich. Sie hatte nur die Familie vor Augen. Sie hatte mehr geopfert als wir anderen. Sie hatte keine ›Partei‹, sie besaß keinerlei ›Schatz‹. Von mir schweige ich, denn nach mir fragte man nicht mehr. Ich war eben eine Art teurer, aber seltener Gast. Meine Mutter hatte sich nicht einmal erkundigt, wovon ich gelebt hatte, noch weniger, wovon ich leben wollte. Das Wort hatte also nicht ich, sondern wie ich es im Sprechzimmer des Klosters gewollt hatte, Anninka. Sie setzte alles mit ihrer klaren Vernunft, ohne Leidenschaft, ohne ein lautes Wort durch. Der Teppich im Speisezimmer mußte aufgerollt und mottensicher auf dem Speicher untergebracht werden. Welch bitterer Zug um den Mund meiner Mutter! Und es mußte den Gästen gestattet werden, hier zu rauchen! Und sie hatte es meinem armen Vater niemals gern erlaubt, und hatte, wenn er mit seinem Cigarl neben ihr saß, mit scharfem Blasen die Rauchwolken als ›stinkenden Dunst für teures Geld‹ von sich weggetrieben. Nun fügte sie sich in alles, weil sie ihre Freiheit im ›Hort‹ und für die Partei nur um diesen Preis erlangen konnte.


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