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9.

Südlich von unserer Stadt lag ein einsames Gelände, das ich nur vom Vorüberfahren mit der Bahn kannte. Zu Lebzeiten meines Vaters hatten wir niemals einen Ausflug dorthin unternommen. Es war ein flaches, dürftig mit Haferfeldern und Hutweiden bestandenes Gebiet, fast ohne Wald und ohne einen Wasserlauf. Rote kahle Felsen tauchten aus dem Gras auf, auf denen ich Ziegen klettern sah.

Gegen Ende des Monats drängte mich Lily, mit ihr einen Nachmittag auf dem Land zu verbringen. Vielleicht hätten sie vor allem der Wald, die Dorfwirtschaft, ein Bad im Fluß gelockt. Aber das waren doch seine Gegenden, und sie schien es zu verstehen, denn sie gab mir nach.

Wir kamen mit der Bahn später draußen an, als ich gedacht hatte. Der Tag war hochsommerlich heiß, aber windig, fast stürmisch. Von dem mit rostrotem Schotter beworfenen Gelände zwischen den Schienen kam ein brenzliger Geruch, als wolle der Boden zu schwelen beginnen. Zwischen den Enden der Schienen war kein Zwischenraum mehr geblieben, so stark hatte die Sonnenglut auf ihnen gelegen. Lily zog mich schnell von der kleinen Station fort, eine staubige Landstraße entlang, wo wir mehr als einmal hochbeladenen, von Ochsen und Kühen gezogenen Bauernwagen ausweichen mußten. Die Bauern fürchteten Regen für ihren Hafer und für ihr Heu, denn sie arbeiteten trotz des Sonntages. Von den Ziegen sah ich nichts. In der Ferne war ein winziger smaragdgrüner Birkenhain, dorthin wollte Lily, mich lockte es aber zu den roten Felsen, die in der Sonne brannten.

Sie war diesmal stiller als sonst. Sie hütete sich vor Zärtlichkeiten. Sie legte sich in den Schatten eines Felsens, die Arme hinter dem Nacken verschränkt, das Gesicht aufgelöst, den Mund halb offen, die großen Augen nach oben gerichtet. Ich spannte ihren alten Sonnenschirm aus, denn die Sonne drehte sich zu ihr hin, aber der Wind fing sich in ihm und schlug ihn um, wir mußten ihn zusammenrollen.

Plötzlich war sie mitten in einer Erzählung. Hatte ich geschlafen? War ich ebenso leise erwacht, wie ich in den Schlaf versunken war? Die tiefe Ruhe tat mir gut.

Ich saß etwas über ihr, die Sonne troff an meinen Schultern herab, ich breitete die flachen Hände aus, denn ich liebte die Wärme, die wolkenlose Glut. Wenn der Wind, der sausend mit zischenden Geräuschen herankam, zuerst den Felsen streifte, dann mich, dann das Gras zu meinen Füßen, fühlte ich mich der Natur einverleibt, ich spürte die Grenze nicht, wo der gute Stein aufhörte und mein Leib begann. Ich hätte ewig hier in der Sonne schweigend liegen und meinen Atem in Lilys Haar einhauchen können, das sich unter der Liebkosung und unter den harten Strahlen der Sonne kräuselte, während ihre milchweiße Stirn und die Augen noch im Schatten lagen.

Lily wurde jetzt unruhig. Ich fragte sie, ob sie nicht nach der Stadt zurück müsse, um abends im Operettenchor des ›Zigeunerbaron‹ aufzutreten. Statt der Antwort raffte sie mich unwiderstehlich an sich heran, unter den Schatten. Wollte sie mir nicht antworten? Sie erzählte weiter, während sie versuchte, meinen Kopf näher an ihrer harten Brust zu betten, von ihrer Mutter, deren glatten Ring sie heute trage, ganz als wäre es ein Ehering. Ich machte mich endlich von ihr frei, obgleich mein Herz mit jener fürchterlich starken Süße zu schlagen begann, die ich seit dem Abend auf der Bank mit der eisernen Lehne nicht hatte vergessen können. Aber mein Geist gehorchte mir, ich dachte nicht an das blühende, in der lautlosen Hitze zitternde Geschöpf, sondern – an unsere alte Marthy, die sich einen Hut gekauft hatte, um als verheiratet, Dame und als Mutter des kleinen Leopold ›paradieren‹ zu können. Aber ich verschwieg diesen bitteren Vergleich der eheringgeschmückten Choristin, als ich merkte, daß Lily nicht mehr zu sprechen vermochte. Durfte ich ihr gut sein? Durfte ich mich ihr hingeben? Ich hatte Angst vor ihr, obwohl ich wußte, sie hatte etwas Angst vor mir. Nie war einer ihrer Freunde, ob jung oder alt, so gut zu ihr gewesen wie ich, und so Herr seiner selbst. Ich fuhr ihr mit der Rückseite meiner Hand die zart beflaumte Wange entlang, hinauf, hinunter. Sie ließ es geschehen, ohne mehr zu verlangen.

Sie hatte wieder zu sprechen begonnen, sie erzählte, sie heiße ›eigentlich‹ Fine oder Josefine, und Lily habe sie sich nur auf Wunsch von Peters und anderen älteren Herren genannt. Sollte zu diesen älteren Herren auch mein Vater gehört haben? Mir ist er immer als noch recht jung erschienen. Von der nahen Landstraße kam das Knarren eines Ochsenkarrens, das Klirren der Halsketten, das matte Geräusch der Hufe im Staub und das dumpfe Schnauben der Tiere, die von der Hitze bedrückt waren, und die sich träge weiterbewegten, bis zuletzt auch das Klirren der Ketten verklang.

Auch ihre Worte kamen nur wie von ferne an mein Ohr. Ich hatte mich zu ihren Füßen gelagert, mein Kopf lag auf ihren beiden Knien. Allmählich, fast ohne Erschütterung, lösten sich ihr die Knie voneinander, und nun lag mein Kopf, von den Knien nur ganz zart berührt, in der Seide ihres Rockes, die nach Staub und Nelken roch, wie in einer Wiege. Mir war, als schlage nach und nach alles über mir zusammen. Der silbrig flammende Himmel senke sich zu mir, oder ich schwebe empor zu ihm. Ich wollte näher zu ihr, aber ich rührte mich nicht. Vielleicht dachte ich im Stillen, wenn ich noch etwas warte, würde ich lernen sie zu lieben, – aber ich würde ihnen nicht unterliegen wie er.

Wir lagen lange so. Als ich aufstand, sah ich, daß sie geweint haben mußte. Ich fragte sie mit einem Blick, und fächelte ihr mit meinem alten Filzhut die Feuchtigkeit von den Nasenwinkeln und dem Kinn, bis sie trocken waren. Jetzt aber war ihre Pfirsichhaut wie staubig und rauh, denn die Tränen hatten Spuren hinterlassen.

Sie schüttelte den Kopf, versuchte zu lächeln und sah auf ihr Ührchen, das sie an einer dünnen Kette um den Hals trug. Sie erschrak und wurde blaß und rot in einem. Ich verstand sie sofort. Sie hatte also doch abends zu spielen. Wir sprangen schnell auf, und eilten der Station zu. Auf dem Wege besann ich mich, daß wir im Grase den Schirm vergessen hatten, ich rannte zurück und holte ihn. Der Zug war bereits in der Nähe, er kam aus einem felsigen Einschnitt im Gelände, man sah ihn noch nicht, aber man hörte ihn herankeuchen, und das Signal in der Station schlug dreimal nacheinander an. Nun liefen wir beide. Sie vor mir, denn es hatte keinen Sinn, wenn ich, der viel höher gewachsen war als sie, sie mit meinen langen Beinen überholte. Sie hatte die Röcke fest an sich gerafft, sie störten sie beim Laufen. Sie kam trotz allem nicht schnell genug vorwärts, und in mir wuchs die Ungeduld. Als sie sich so vor mir abmühte, und der Zug schon ganz in der Nähe war, dumpf donnernd und dicken, scharf riechenden Dampf ausstoßend, erwachte eine überwältigende Begierde in mir, ich hätte immer hinter ihr einherjagen wollen.

Ich selbst zwang mich ja zurückzubleiben, um nicht mit einem ungeheuren Sprung sie zu erreichen, sie an mich zu pressen und etwas Blutiges und Zerreißendes an ihr zu durchleben.

Atemlos kamen wir auf dem Bahnhofe an, sprangen ohne Karten in den abfahrenden Zug. Mit Schrecken merkten wir fast sofort, daß es der falsche Zug war, die falsche Richtung. Wir hätten warten sollen. Verzweifelt hockte sie in der Ecke, sie tat mir jetzt leid, die Begierde hatte sich mir wie in einem Gewitterstrahl gelöst, ich wußte nicht wie und wo. Ich nahm ihre Hände in die meinen und tröstete sie, so gut ich konnte. Dabei war dieses Mißgeschick auch für mich sehr unangenehm, denn gerade an diesem Tage hatte mich meine Mutter gebeten, abends rechtzeitig zurückzukommen. Die nächste Station war nahe, der Zug verlangsamte die Fahrt und hielt mit kreischender Bremse. Der Gegenzug kam zur rechten Zeit auf dem nächsten Geleise, wir stiegen um und erreichten die Stadt früher als wir geglaubt hatten. Stumm begleitete ich sie zum Theater. Morgen sollten wir einander wiedersehen. Meine Mutter war in Schwarz. Sie lächelte aber, und wir verbrachten den Abend beim Lichte einer riesigen Kerze in stillem Frieden.


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