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5.

Damals fiel mir auf, daß die junge Dame, die ich bei Peters getroffen hatte, mir so oft auf der Straße begegnete, daß ich es nicht für Zufall halten konnte. Meist kam sie mir entgegen, verlangsamte ihren Schritt, je näher sie kam. Sie zwang sich, wegzusehen, und dennoch begegneten sich unsere Blicke. Der ihre war ernst, fast drohend, als fordere sie etwas von mir. Einmal hatte sie sich so wenig in der Gewalt, daß sie zwar von mir wegblickte, dafür aber mit solcher Heftigkeit gegen mich anstürmte, daß ich ihr nicht schnell genug ausweichen konnte und ihr Körper meine Brust streifte. Je öfter ich sie sah, desto mehr entfernte sich ihr Bild von der alten Erinnerung, wie sie, den entfernten Tönen der Militärkapelle lauschend, den Kopf zu meinem Vater geneigt und dabei die Schultern gehoben hatte. Damals war es beinahe so gewesen, als empfände sie Mitleid mit ihm (!), jetzt aber war gerade in ihrer gar zu aufrechten Haltung etwas, das mein Mitleid hätte erwecken können, wäre ich dieses erbärmlichen Gefühls damals fähig gewesen. Und verdienten denn die Frauen Mitleid?

Einige Wochen verstrichen seit jenem Zusammenstoß, ich ging meiner Arbeit nach, das heißt, ich erteilte dem zwar sehr begabten, aber durchaus uninteressierten Sohn des Kaiserlichen Rats Nachhilfestunden und blieb sehr oft zwei Stunden statt einer; nicht aus übermäßigem Eifer, sondern um den Herrn Rat zu erwarten und ihn um mein Honorar zu bitten. Endlich kam er, setzte sich, übertrieben keuchend, in einen Lehnstuhl, und ließ sich von den Fortschritten seines Sohnes berichten. Das einemal schilderte ich diese als sehr bedeutend, in der Hoffnung, er wäre dann geneigt, mir ein höheres Honorar zuzuerkennen, das anderemal gab ich ihm ziemlich düstere Berichte, – in der gleichen Hoffnung. Aber keiner dieser Wege führte zum Ziel. Er vertröstete mich stets sehr diplomatisch auf das nächstemal, denn jetzt sei er vor dem Essen, oder er hätte gerade Schwierigkeiten in seinem Geschäft, einem großen Krawattenladen, und ich sollte auf keinen Fall darunter zu leiden haben. Ein andermal zog er mich in ein persönliches Gespräch, erkundigte sich nach meiner Mutter, nach meinem Bruder, ja sogar nach Peters.

Sein Wohlwollen schien mit der Zeit zu steigen. Oft faßte er mich, so wie damals in seinem Büro, an der Hand, schlug mir kameradschaftlich auf die Schulter und bat mich, ich möge endlich in dieser milden Jahreszeit meinen schwarzen (oder vielmehr bereits ins Grünliche schillernden) Traueranzug gegen einen helleren vertauschen. Gönnte er mir meine Trauer nicht? Fand er sie unangebracht für eine beinahe volljährige Waise? Oder erweckte ich in diesem wohlgenährten zufriedenen Biedermanne gar Gewissensbisse, weil er sich, soweit er konnte, auch etwas von dem bißchen Hab und Gut der Witwe und Waise angeeignet hatte? Peters hätte mir vielleicht den Schlüssel zu alledem liefern können. Aber ich wagte nicht, zu ihm zu gehen. Vielleicht fürchtete ich, bei ihm noch einmal das junge Geschöpf zu treffen, vor dem ich auswich, und zu dem es mich doch (ich war noch nicht achtzehn Jahre alt!) hinzog. Aber ich sollte ihr dennoch begegnen, noch früher, als ich geglaubt hatte, und bei einer für mich etwas bedrückenden Gelegenheit.

Eines Spätnachmittags im Frühling, als Marthy mit Postillion in den Park gegangen war, (es hieß, daß sie das liebliche und lebhafte Kind, das sie mangels eines gebrauchsfähigen Kinderwagens auf dem Arm trug, als ihr eigenes ausgab), klingelte es. Ich öffnete – und Lily stand, blutübergossen unter ihrem großen, feingeflochtenen, honigfarbenen Strohhut, dessen himmelblaue Bänder sich im Nacken in ihrem dichten dunklen Haarknoten verfingen, vor mir. Mit einer tiefen Stimme, – (bei Peters war ihre Stimme anders gewesen, hell, fast kreischend) – fragte sie mich, ob sie ›die Gnädige‹ sprechen könne. Ich sah sie erstaunt an, denn der Ausdruck ›die Gnädige‹ wird meist von Dienstmädchen gebraucht, wenn sie von ihrer Herrin sprechen, und sie, ihre wie stets etwas bläulichen Augenlider senkend, verbesserte sich, mit noch tieferer Stimme murmelnd: »Die gnädige Frau.« Ich führte sie in das Vorzimmer. Wir vergaßen aber beide die Entreetür zu schließen, bemerkten zu gleicher Zeit, daß sie offen geblieben war, und lächelten einander zu. Inzwischen war meine Mutter aufmerksam geworden und kam ihr entgegen. Im Salon waren die Vorhänge herabgelassen und die Möbel bereits eingekampfert unter den Hüllen aus Sackleinwand, wie stets zu Beginn der warmen Jahreszeit.

Lily, die Zeit gewinnen wollte, rückte einen Fauteuil vom Tisch ab und setzte sich an den Rand, die schlanken Beine überkreuzend, und den Blick in ihrer Verlegenheit auf ihren Halbschuh und auf die Knöchel in den schwarzen Seidenstrümpfen geheftet. Meine Mutter aber, ein gefrorenes Lächeln um die Lippen, – (wie sie es früher oft gehabt hatte, aber jetzt nur selten), war stehen geblieben und sah von oben auf Lily herab, angefangen von dem Stroh des ganz modernen, aber schon etwas zerschleißenden Florentinerhuts bis zu der Fußspitze im schmalen Lackschuh, die zitterte. Jetzt sah Lily auf, erschrak, als sie meine Mutter in ihren schwarzen Satinschürze aufrecht und groß vor sich stehen sah und sprang empor. Meine Mutter begann zu lächeln, das heißt, der gefrorene Zug, bei dem ihre Mundwinkel wie mit Stecknadeln zu einem Lächeln zusammengeheftet waren, löste sich zu einem gutmütigen und sogar schüchternen Ausdruck. Sie reichte Lily die Hand, an deren viertem Finger die zwei Eheringe glänzten. Lilys Hand war viel schlanker, sie hatte etwas Hilfloses, und die Finger, die nackt waren, (denn sie trug Halbhandschuhe, die die Finger frei ließen), streichelten mehr die bei aller Feinheit etwas knochige Hand meiner Mutter, als daß sie sie drückten. Meine Mutter liebte dies nicht. Sie wich etwas zurück und fragte, während sie das junge Mädchen noch etwas schärfer ins Auge faßte: »Was wünschen Sie bitte? Was führt Sie hierher?« Ganz so, als hätte eine einzige Frage nicht genügt. Lily murmelte etwas Unverständliches. Es hieß, daß sie früher beim Theater im Chor angestellt gewesen sei. Ich wunderte mich sehr über ihre Schüchternheit, und meine Mutter, die doch selbst so menschenscheu war, noch mehr.


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