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15.

Ich entsann mich, beim Aufstieg (wie unendlich lang schien er mir entfernt, und doch waren, wie ich mich nachher überzeugte, im ganzen nicht mehr als sieben bis acht Minuten verflossen) in der überhängenden Wand einen U-förmigen Griff eingefügt gesehen zu haben. Die Sonne gleißte so stark auf dem Gestein, das vom schmelzenden Schneewasser getränkt war und wie gegossenes Erz glänzte, daß ich lange nach dem schlichten eisernen Haken suchen mußte. Leider war er zu weit entfernt. Das Seil war zu kurz. Also was dann? Ich suchte also auf der Traverse selbst einen Stützpunkt und fand ihn in einer unbedeutenden Felszacke, die zwar scharfe Ränder hatte und das Seil zerschneiden konnte, aber diese Stelle sollte nur als Reserve, als Rückhalt dienen. Ich schlang also mein Ende des Seils in eine Schleife und machte es, so gut es ging, fest an dem Stein, das andere Ende des Seils hing um Wharfs Schultern. Zwischen beiden schwebte Karl. Das Seil konnte aber vielleicht zuverlässiger dienen, wenn es rings um Wharfs Leib, besser gesagt, um seine knochigen breiten Hüften ging, er konnte dann auch bei der Aktion besser atmen und hatte den Oberkörper frei. Er hielt den Apparat, als sein kostbarstes Gut, immer noch in der Hand. Ich sagte ihm, er würde seine Hände brauchen, um sich am Felsen anzuhalten, er sah es ein, er schien mir recht zu geben, ließ das Höllending aber trotzdem nicht los. Es war der Augenblick nicht, zu photographieren. Ich bat Wharf, er möge wenigstens ruhig oben stehen oder hocken bleiben, wo er war, er dürfe jetzt auf Karls Rufen oder Nichtrufen nichts geben. Das Seil solle er sich sachte nach unten ziehen, bis zu den Kanten der Hüftknochen solle die Schleife hinabkommen, weiter aber nicht. Er müsse sich auf mich verlassen, wie ich mich verlassen wolle auf ihn, gentlemanlike. (Dies war eines meiner wenigen englischen Worte, scheinbar aber eines der wichtigsten in dieser Sprache.) Jetzt sah ich nach, ob bei mir die fünfzackigen Steigeisen fest saßen. Dann stieg ich ab. Mit meinem Gesicht Wharf und dem Felsen zugewandt, den Abgrund im Rücken. Anders war es unmöglich.

Als ich das feste Terrain verließ, wollte ein kalter Schauer mich durchströmen. Er tat es physisch. Moralisch konnte niemand Gewalt über mich haben, außer mir selbst. Darauf kam es an zum Glück.

Solange ich mich noch mit den Händen oben halten konnte, war es ziemlich einfach, sich mit den Füßen eine Nische auszubauen, in welche ich mich mit dem betreffenden Steigeisen verkroch und wo ich dann später auch für die Hände eine Stütze hatte. Ich machte dies alles sehr vorsichtig, tastete das Terrain so genau wie nur möglich ab, den Schnee und das Eis – (es war meist oben eine dünne harschige Eisschicht und darunter ziemlich fester Schnee) – mit meinem linken blutigen Ärmel schön rosarot anmalend. Natürlich waren es keine richtigen Stufen, denn ich konnte, ohne von oben angeseilt zu sein, niemals tiefer kommen, als die Füße waren, mein sicherster Halt war eigentlich der Eispickel, an dem ich mich oft ausschließlich festhielt, selbst meinen Atem hemmend, aus Angst, das Gleichgewicht zu verlieren, – und doch mußte ich noch viel tiefer hinunterklettern, denn ich hatte von oben die Distanz unterschätzt. Oder vergrößerte sie jetzt die Angst, gegen die das Animalische in jedem Menschen wehrlos ist? Aber sie übermannte mich eben doch nicht.

Karl wandte, so gut es sein Rucksack ihm erlaubte, den Kopf zu mir. Niemals hatte ich einen so flehenden, hündischen Blick in den Augen eines Menschen gesehen. Oder vielleicht doch, bei Lilyfine, als sie nackt, das Kinn auf den zusammengepreßten Knien, auf der Kante ihres Bettes hockte und sich eine neue Zigarette anbrannte. Endlich hielt ich mich neben Karl. Nicht so nahe, daß er sich ohne weiteres an mich zu klammern vermochte. Das wäre ja unser beider Absturz gewesen. Ich versuchte, noch eine Kleinigkeit weiter nach unten zu kommen, als die Stelle sich befand, wo er an dem Boden angepreßt dalag und wo er durch seine Körperwärme bereits etwas Schnee zum Schmelzen gebracht hatte. Ich versuchte vor allem, den Rucksack mit meinem Eispickel von ihm loszulösen, und rief ihm zu, er solle mir helfen. »Schmeiß den Rucksack fort!« Ich rief natürlich nicht allzu laut, um Atem zu sparen. Die Luft war dünn, das Blut dröhnte mir in den Ohren, aus der Nase drängte es heraus. Ich riet ihm, er solle den Kopf etwas mehr nach mir zu beugen und im betreffenden Augenblick die Hände loslassen von dem Schnee, damit die Gurten des Rucksackes durchkonnten, es war weiter weder besonders schwierig noch gefahrvoll, denn der Rucksack hatte ja das Bestreben, seinen Herrn zu verlassen und nur dem Gesetze der Schwerkraft zu folgen. Karl tat nichts dergleichen. Erst später erfuhr ich warum. Ich holte also mein Messer aus der Tasche, brachte es mit unsagbarer Mühe soweit, die große Klinge zu öffnen, holte mir den Rucksack mit dem Eispickel heran, und schnitt das eine Gurtenband, dann das andere mit der rechten Hand ab. Das genügte. Der Rucksack machte sich frei, schwankte etwas hin und her und fuhr, erst langsam, dann immer schneller, in den Abgrund ab, wo er mit dumpfem schütterndem Laut ankam. Karl hätte glücklich sein können, denn er konnte ja jetzt ungehindert atmen, und ich konnte damit beginnen, ihn nach oben zu kehren, so daß sein Kopf der festen Erde näher war als jetzt. Ich rief Wharf zu, er solle jetzt langsam versuchen, sein Seilstück etwas anzuziehen. Aber Karls Züge, die ich aus nächster Nähe sah, waren nicht besonders strahlend. Was hatte er wohl erwartet? Konnte ich ihn mit Engelsflügeln nach oben tragen? Jetzt sah ich, wie das Seil in wunderbarer Weise an seinen knochigen mageren Hüften ruckend ansetzte. Ich sah, wie er seinen Körper nach und nach mit meiner Hilfe wieder in normale Lage, Kopf hoch! zu bringen vermochte. Die Seilschlinge saß jetzt bei ihm unter den Achseln und wir waren viel weiter. Jetzt konnte Wharf schon mit aller seiner Kraft ziehen, Karl schwebte wie ein Cherub nach oben, das heißt, er glitt, den Leib an den Schnee gepreßt, sehr langsam einen halben Meter nach dem andern weiter in die Höhe, ich faßte seine Füße von der Seite her, über den Knöcheln und stützte sie so. Endlich war er so weit, daß er mit den Händen die Füße Wharfs erreichen konnte, die dieser herabhängen hatte. Denn die Hände brauchte der gute Wharf für seinen Photoapparat. Von unten geschoben, von oben gezogen, so kam Karl an Land, wenn man so sagen kann. Ich ihm unmittelbar nach. Das große blitzende Objektiv von Wharfs Apparat empfing mich, sein etwas hölzernes Lachen klang zusammen mit dem Schnurren des Verschlusses. Karl lag mit seinem Kopf in Wharfs Schoß.

Ich muß bei dieser Gelegenheit wohl sehr erstaunt ausgesehen haben. Ich glaubte übrigens noch bei vollen Kräften zu sein. Irrtum. Ich fiel, da ich auf den Steigeisen das Gleichgewicht verlor, hart auf dem Felsrand nieder. Mir hatte niemand den Fuß gereicht, noch weniger die Hand, und ich bin ja auch aus eigenem oben angekommen, wie es für den Führer einer Partie gehört. Ich sah und hörte vorerst nichts, es sei denn das unermüdliche Schnurren des Verschlusses von Wharfs unermüdlichem Apparat. Ich hatte nicht einmal soviel Kraft um zu lachen, und doch hatte ich ja eigentlich nicht viel getan!

Es tröpfelte warm auf meine bloße Brust, es war Blut aus der Nase, auch aus den Ohren drang es mir lau und schwer, die Kieferwinkel hinab, den Schultern zu. Aber das tat mir wohl, es nahm den Druck von mir. Ich preßte die Hand auf mein Herz. Wozu jetzt das blöde gewaltsame Schlagen?

Die Sonne schien warm auf meinen Rücken. Das Bluten hörte schnell auf. Der Arm schmerzte gewaltig. Ich hörte die Kameraden miteinander reden. Aus dem Abgrund vor uns wehte es eisig hinauf, aber aus dem Tal hörte man das Läuten der Mittagsglocken.

Ich hockte mich dann an die Wand, dort wo der Haken eingelassen war, streifte den Ärmel hoch – (wie scheußlich brannte der Arm, und doch war keine rechte Wunde zu sehen, nur ein fingerbreiter purpurroter Ring), – holte etwas frischen Schnee herauf und kühlte, bis das Wasser schmelzend mir durch die Finger lief. Auch dies reizte Wharf zu einer neuen Aufnahme. Es war die letzte. Meine Freunde hatten sich über meinen Rucksack, den ich natürlich während der ganzen Zeit ebenso wie meinen treuen Bergstock oben gelassen hatte, hergemacht, hatten Schweizer Schokolade gefunden und teilten brüderlich. Ich durfte zusehen, ich gönnte es ihnen. Der Führer ißt ja niemals mit seinen Lämmchen mit.

Jetzt forderte ich die Herren zum Abmarsch auf. Wharf war dabei. Er war ganz gleichmütig. Vielleicht dachte er, daß alle Partien so und nicht anders verliefen. Der unbegreifliche Karl aber hatte nicht übel Lust, die Partie fortzusetzen! Aber nicht mit mir, sagte ich. Dann machte er uns den Vorschlag, wir sollten versuchen, aus einem Seitental in den Abgrund hinunterzukommen und den Rucksack zu retten. Aber ich ließ den Rucksack verloren sein. Karl wollte sich nicht trösten. Er muß kostbare Bücher oder Schriften enthalten haben. Nun, jeder muß etwas zum Gelingen der Partie beitragen.


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