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6.

Ich hatte in Opossum ein junges schönes Mädchen aus vornehmen (adeligen?) Hause kennengelernt, ich war neben ihr eine gute Stunde abends im Schnee durch die Stadt gegangen, und sie wollte mich nicht wiedersehen, Gott weiß warum, und schon war mein Leben aus den Fugen? Ich entsann mich der etwas zu großen Sorgfalt, mit der sie dem Vizeadmiral in den Wagen geholfen hatte, ganz als wäre sie ein ›dienstbarer Geist‹, und nicht seine Tochter. Wozu hatte er seine zwei stämmigen Matrosen da? Vielleicht war es gar nicht ihr Vater, sondern nur ihr Geliebter, ein verbrauchter, kränklicher, alter Mensch, der eine hohe Stellung innehatte und sich den Luxus einer solchen Frau leisten konnte. Er war es, der sie in Samt und Seide, kostbare Pelze hüllte. (Opossum war aber gar nicht so kostbar?) Mir, in meiner Jugend, in meiner Torheit, blieb nur übrig, entweder alles zu vergessen, und zu versuchen, die Erinnerung auszulöschen, oder mich in vergeblicher Sehnsucht und stupider Eifersucht zu verzehren und zu warten, bis der greise, kaiserlich-königliche Marinemann seine letzte Eroberung satt bekam oder bis er starb, in einem großmütigen Testamente die junge Herzallerliebste für alle Opfer – (und natürlich auch für den Verrat an mir) entschädigend. War das nicht Gift, was ich mir da zusammenbraute? Ich hatte Gift in meinem Empfinden nicht gekannt bis jetzt.

Ich bereute jetzt meinen eitlen Stolz vom letzten Sommer. Warum hatte ich einer Lilyfine gewehrt, mir einen kleinen, aber notwendigen Liebesdienst zu erweisen? Sie hätte er glücklich gemacht. Mir hätte er genützt! Was sollte mir die Unberührtheit, dieses nüchternste aller Geheimnisse? Wollte ich sie in die Ehe bringen, meiner Mutter und der zukünftigen braven Ehegesponsin zur Freude?

Ich sehnte mich nicht nach Lilyfine, ich sehnte mich nach Opossum, und doch, ich liebte sie nicht so, wie ich das Andenken meines Vaters liebte, und die Erinnerung an die unvergeßliche A. v. W., die ich doch auch nur einen Augenblick gesehen hatte und nie mehr. Ich wartete und wartete nur darauf, daß sich O. doch meiner entsinne, und daß eines Tages ein Brief von ihr kommen müsse. Es konnte doch noch nicht alles zu Ende sein, bevor es begonnen hatte.

Inzwischen kamen, wie zum Hohn, eine Menge Briefe von daheim. Meine Mutter sowie Marthy taten ganz so, als wäre ich das Haupt der Familie. Meine Mutter hatte den Aufsatz in der Hausfrauenzeitung untergebracht und sogar etwas Geld dafür ›gelöst‹; sie schien aber nicht so ermutigt worden zu sein, daß sie sich von jetzt an ausschließlich dieser Art Arbeit hätte widmen wollen.

In den Briefen schwieg sie trotz ihrer vielen Worte und ihrer vielen ›gemeingültigen Betrachtungen‹, trotz ihrer kalligraphischen Züge und ihres fürtrefflichen Stils über alles eigentlich für mich Bestimmte und Wissenswerte. Marthy dagegen, der diese Vorzüge fehlten, schmierte mit ihren Krikelkrakelzügen ohne irgendwelche Punkte, Kommas oder andere Satzzeichen, die großen und kleinen Anfangsbuchstaben nach Gutdünken verteilend, ihre langen Episteln hin, doch sie zeichnete so deutliche Umrisse und setzte so kräftige Worte, daß ich mein Vaterhaus vor mir sah. Und das mußte ich doch, wenn ich als Haupt der Familie raten oder helfen sollte. Waren aber mein Rat und die Hilfe wirklich ›vonnöten‹?

Meine Mutter wandte dieses ihr Herzenswort nicht an, seitdem ich es unlängst bei ihrem Besuch diskret belächelt hatte, (gegen meinen Willen, muß ich sagen), aber aus der fettbefleckten Briefschaft der Magd drang es leider aus jedem Satze hervor! Marthy fragte mich etwas scheinheilig, ob mir bei meiner Mutter ein gewisses ›schwaches Wesen‹ entgangen sei. Daß sie sich die rubinenen Ohrringe ›bei lebendigem Leibe‹ aus den Ohren habe herausstibitzen lassen, beide!, wisse ich doch schon, man müsse sie ihr bei der Rückfahrt von Wien entwendet, oder sie müsse sie im Abteil verloren haben. (Beide! schrieb sie ein zweitesmal.) Sie habe sich am Tage nach der Rückkehr an das Fundbüro der Staatsbahnen gewandt, in Erinnerung der guten Erfahrungen, die ich mit dieser Einrichtung bei dem Verluste meines Koffers gemacht habe usw. Ich lächelte bitter. Ich wußte, die Ohrringe waren verkauft worden gegen gutes Geld, das ich noch vollzählig aufbewahrt hatte, (ich hatte ja keine Sehnsucht nach unschuldigen Kindern der Natur in einem schlichten Wasserglas!). Aber meine vor Zeiten etwas weltfremde Mutter hatte so gut zu lügen gelernt, daß ihr die mißtrauische und lebenskluge Magd glaubte! Aber zu dem schwachen Wesen gehörte nicht allein die Unachtsamkeit bei ihren spärlichen Schmucksachen, sondern etwas viel Ernsteres. Marthy wollte an ihr, und zwar erst seit kurzem, eine Unmasse grauer Haare über den sehr, sehr eingefallenen Wangen, brüchige Fingernägel, und ab und zu – Ungeziefer in der Wäsche und in den Falten und Säumen der Kleider bemerkt haben, was sie alles auf den ›Hort‹ zurückführte. Aber nicht ausschließlich auf den Hort, wo man die Kinder täglich badete und kämmte. (Meine Mutter behauptete dies steif und fest, aber auch dies war erlogen!) Sondern sie führte es auch auf das dauernde Zusammensein mit zahlreichen ›Elendigen‹ zurück. So nannte Marthy die Proletarier, die in dem großen, rußigen graubraunen Fabrikviertel hausten, wo der Hort meiner Mutter gelegen war.

In einem zweiten, nicht weniger unerfreulichen Fettfleckenbrief berichtete Marthy über andere Einzelheiten der Lebensweise meiner armen Mutter. Natürlich wollte die Magd ihre Herrin, an der sie mit größter Liebe und Treue hin, am frühen Morgen nicht ohne ein kräftiges ›reehles‹ Frühstück und ohne eine ordentliche ›Leppzehr‹ fortgehen lassen, denn mittags kam meine Mutter niemals heim, auch sonnabends nicht, und so packte sie ihr, einer alten Vorliebe für Geflügel eingedenk, der meine sparsame Mutter aus eigenem nie zu frönen wagte, einige Tage nacheinander in eine alte blecherne grüne Botanisiertrommel von mir ein ganzes pickfeines deliziöses Stück Geflügel, ein milchgemästetes Hühnchen oder fettes Täubchen oder Rebhuhn oder eine ganz junge Ente, alles appetitlich klein tranchiert, zwischen zwei dicken Brotscheiben ein, in Pergamentpapier, mit Bindfaden gut verschnürt, um es saftig zu erhalten, und legte sogar zwei Papierservietten bei. Abends kam meine Mutter brav mit der leeren Trommel heim. Nur die Servietten blieben zurück, sie waren immer noch glatt und schneeweiß, und dadurch verriet sich meine Mutter, die nicht bedachte, daß es an einer vereinzelten Unwahrheit natürlich niemals genug ist. Man muß allerdings eine erste Lüge durch andere Erfindungen in der Motivierung gut untermauern und auch die späteren möglichen Folgen der Lügen sofort im Augenblick des Aussprechens bereits durch entsprechende Erfindungen vorausnehmen. Ohne System keine Lüge. Sollte ich ihr sagen, sie solle bei mir in die Schule gehen?

Wäre ich doch nur glücklicher gewesen! Was nützten mir alle Listen, was half mir mein gutes Geld – ohne Geliebte und ohne Freund! War nicht meine Mutter zu beneiden, welche einer ›hohen Pflicht‹ getreulich folgend, die Tyrannei der treuen Magd de- und wehmütig auf sich nahm? Marthy rühmte sich, daß sie meiner Mutter von nun an nichts glauben werde, daß sie aber vor dem Abschied morgens alles Mögliche in sie hineinstopfe; meine Mutter wolle sich zu diesem Frühstück nicht niedersetzen, sie stampfe mit den Füßen vor Ungeduld. Schließlich sähe sie aber ein, wir alle meinten es gut mit ihr. Freilich, leider!, Hühner und Enten bekomme sie gar nicht!

Ich versuchte, den Sinn dieser Worte zu verstehen, und ich glaubte, sehr bald verstand ich ihn. Ich bat Marthy, mir ein Postamt anzugeben, wohin ich ›frei von der Leber weg‹ an sie schreiben könne, denn wozu sollte meine Mutter von allem Möglichen erfahren, das sie doch nicht verstand? Mit der wendenden Post erhielt ich die nötigen Angaben. Nun schrieb ich dem alten Hausgeist, ich hätte bei der letzten Lotterieziehung in Graz 670 Kronen gewonnen und sende davon die Hälfte, also 335 Kronen heim, das heißt an Marthy, die dieses Geld zu einer markigen Kostaufbesserung ausschließlich für meine Mutter und den Bruder verwenden solle. Sie solle schweigen! Sie solle das Geld heimlich unter das Wirtschaftsgeld mischen, ja nicht sparen! Aber sie solle mir das regelmäßig zu messende Körpergewicht dieser zwei Lieben mitteilen. Die Summe hatte ich absichtlich zu ›krumm‹ gemacht und das etwas entlegene Lotterieamt Graz deshalb gewählt, weil durch diese Einzelheiten meine Motivierung für den Besitz des abgesandten Geldes fast etwas Unwiderlegliches bekam. Denn niemand würde begreifen, aus welchem ›vernünftigen‹ Grunde ich diese Angaben machte, wenn sie nicht wahr waren. »Solche Einzelheiten erfindet man nicht«, hatte ich oft die Menschen bei ähnlichen Gelegenheiten sagen hören. Man erfindet sie nicht? Wozu denn auch? Also mußten sie in den Augen der Menschen wahr sein. So war es, so blieb es. Das Gewicht meiner Lieben stieg zum Glück bald etwas an, das meiner Mutter leider etwas langsamer als das des Brüderleins, aber immerhin, ein Anfang war gemacht. Hätte sich doch nur O. gemeldet, hätte ich sie doch nur einmal auf der Straße gesehen! Aber hätte ich sie denn jetzt ohne ihren dunkelblauen Mantel erkannt? Die Jahreszeit war warm geworden, man trug schwere Mäntel mit breiten Pelzkragen nicht mehr.

Und ich ahnte wohl, meine Sehnsucht hatte sie unendlich verschönt.


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